Für neue Kunden:
Für bereits registrierte Kunden:
Hausarbeit, 2022
21 Seiten, Note: 1,0
1. Einleitung
2. Zusammenhang zwischen dem Diskurs des Raums und der Insomnie
3. Insomnie und öffentlicher Raum
3.1. Verbindung mit Kolonialisierung und Kapitalismus
3.2. Schlaftherapie
4. Insomnie und Raum des Privaten
4.1. Rolle des Bettes in Benjamins Schlaflosigkeitsgeschichte
4.2. „ Mind“ und „Unconsciousness“ im Zusammenhang mit Benjamins Insomnie
5. Verbindung von Raum und Zeit in Bezug auf Schlaflosigkeit
6. Fazit
Literaturverzeichnis
Die Schlaf- und Traumforschung nimmt einen bedeutenden Platz im kulturhistorischen, philosophischen und psychoanalytischen Kontext ein. Dabei scheint es, dass den Untersuchungen von Insomnie eher weniger Aufmerksamkeit gewidmet wird. Der Schlaf stellt eine faszinierende, geheimnisvolle Praktik dar, die einem Tor in unbekannte innere Vorgänge gleicht. Die Schlaflosigkeit erscheint hingegen auf den ersten Blick als eine ausschließlich negative, mit Widerständigkeit aufgeladene Erfahrung, die als Störung, sogar Krankheit gesehen wird. Gleichzeitig kann die Insomnie jedoch als eine Quelle des künstlerischen Schaffens und als Möglichkeit der Auseinandersetzung mit sich selbst sowie mit den öffentlich-politischen Begebenheiten, die als möglicher Grund der Schlaflosigkeit gelten, verstanden werden; Sie bietet einen neuen Zugang zur eigenen Existenz.
Diese Arbeit ist ein Versuch, sich dem Phänomen der Schlaflosigkeit in Verbindung mit diversen Aspekten des Raumdiskurses anzunähern. Im Zentrum der Untersuchung steht das literarische Werk von Marina Benjamin Insomnia. Die Autorin nimmt die Lesenden mit auf eine Reise zu ihrer persönlichen Erfahrung mit Schlaflosigkeit, ihren Kämpfen und Beobachtungen. Die Struktur des Buches an sich gleicht einem möglichen Schlaflosigkeitsablauf, bestehend aus diversen, voneinander unabhängigen Gedanken: Die einzelnen Abschnitte enthalten persönliche Berichte, politische Überlegungen sowie Vergleiche aus der Mythologie und aus der Kunst. Außerdem enthält das Buch mehrere Stellen, die In Verbindung mit privaten und öffentlich-kollektiven Räumen sowie der Stellung der Zeit gebracht werden können.
Im zweiten Kapitel dieser Arbeit wird der Raumbegriff problematisiert, und der Zusammenhang mit der Nacht als Rahmen für die Insomnie wird nachverfolgt. Dabei kann Elisabeth Bronfens Bezeichnung von der Nacht als Zeitraum ins Zentrum gestellt werden. Eine wichtige Eigenschaft von Räumen ist deren Hierarchisierung und Verbindungen mit bestimmten Machtstrukturen. Dabei werden in dieser Untersuchung Michel Foucaults Aussagen in Bezug auf Machtverhältnisse zitiert. Die Nacht als Zeitraum des Schlafens wird im Rahmen des Spätkapitalismus abgewertet. Die Schlaflosigkeit nimmt dabei eine sonderbare Stelle zwischen den bekannten Räumen ein und überschreitet die Grenzen zwischen Schlafen und Wachen, Tag und Nacht.
Der dritte Teil wird der Verbindung von Insomnie und den öffentlichen Raumaspekten gewidmet. Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Schlaflosigkeit und dem gegenwärtigen Spätkapitalismus, welcher auch von Benjamin diskutiert wird. Dabei wird Bezug auf Jonathan Crarys Essay Schlaflos im Spätkapitalismus genommen, in dem der Autor die Schlaflosigkeit in der kapitalistischen 24/7 – Gesellschaft diskutiert. Außerdem stellt die Insomnie nicht nur private, sondern auch kollektive, geteilte Erfahrung dar, welche im Rahmen der medizinisch-öffentlichen Räume behandelt wird. Dadurch nimmt Subjekt eine passive Stellung ein, da es um die Kontrolle von außen bzw. Ausüben der ärztlichen Autorität geht.
Im vierten Kapitel wird sich mit privaten Räumen in Bezug auf Benjamins Insomnie befasst. Eine wichtige Stellung nimmt dabei das Bett ein, welches unterschiedliche Funktionen aufweist und als Zentrum des nächtlichen Zeitraums gilt. Das Ehebett erscheint als ein geteilter Raum der Nachtruhe und der Sexualität. Durch das Eintreten der Insomnie kommt es allerdings zu einer Isolierung des betroffenen Individuums; Das Bett verwandelt sich in eine Insel, sogar einen Käfig; Es handelt sich um einen physischen Mittelpunkt der Schlaflosigkeit, welche durch zahlreiche innere Prozesse, Gedanken und Sorgen markiert ist. Dabei kommt es zu der Konfrontation mit dem eigenen Unbewussten; Dieses wird von Sigmund Freud als ein räumliches Konzept verstanden und findet im Tagesraum keinen Platz. Diese Auseinandersetzung mit dem Unbewussten erscheint als Ausgangspunkt zum Schreiben, welches für Benjamin als Umgang mit der eigenen Insomnie dient.
Eine bedeutende Rolle spielt in Benjamins Werk ebenfalls die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Zeitlichkeit, womit sich im fünften Kapitel befasst wird. Ihre Insomnie nimmt einen Platz zwischen Tag und Nacht ein und gleicht einer puren, schwer zu ertragenden Gegenwärtigkeit. Die schlaflose Zeit wird abgewertet und gilt als verschwendete Stunden. Die Zeit erscheint in Benjamins Buch einerseits als ein unbegreiflicher, aus den Fingern gleitender Vorgang; Es geht um die unendliche, schlaflose Nacht. Anderseits wird im medizinischen Raum versucht, die schlaflose Zeit mithilfe von quantitativen Messungen und Schlafmitteln unter Kontrolle zu bringen.
Der Raum erscheint als ein höchst komplexer Begriff, der mit unendlich vielen Kategorien und Elementen verbunden ist. Während der Recherche konnte keine genaue kulturwissenschaftliche Definition vom Raum in der ausgesuchten Literatur ausfindig gemacht werden. Allerdings geht es hier weniger darum, eine exakte Begrifflichkeit aufzustellen, sondern vielmehr um die Suche nach verschiedenen Aspekten und Perspektiven des Raumdiskurses in Verbindung mit Insomnie. Im kulturwissenschaftlichen Sinne erhält der Raum eine besondere Stellung und gerät in den Fokus zahlreicher Forschenden. Stephan Günzel schreibt, „Die gesteigerte Aufmerksamkeit für Raum ist die Folge einer fundamentalen Umwälzung, deren kulturelle Tragweite erst nach und nach abgeschätzt werden kann.“1
Für diese Untersuchung könnte es hilfreich werden, eine mögliche Unterscheidung von den Begriffen Raum und Ort in Bezug auf die Phänomene der Nacht und Schlaflosigkeit zu entwickeln, da diese beiden Worte oft als Synonyme verwendet werden. Michel de Certeau unterscheidet Raum und Ort folgend,
Ein Ort ist die Ordnung […], nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. […] [J]edes [Element] befindet sich in einem „eigenen“ und abgetrennten Bereich […]. […] [Der Ort] erhält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität. […] Ein Raum […] ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. […]. Im Gegensatz zum Ort gibt es also weder eine Eindeutigkeit noch die Stabilität von etwas „Eigenem“. Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.2
Die Nacht ist also insofern ein Raum und kein Ort, da sie Unordnung ist; Sie ist erfüllt mit wandelbaren, ambivalenten Elementen und Möglichkeiten wie Schlaf und Wachen bzw. Unruhe wie nächtliches Arbeiten, kreatives Schaffen oder Schlaflosigkeit. Andere Bestandteile des Nacht – Raumes sind konkrete Zeitlichkeit (der Zeitraum von bspw. 22 bis 5 Uhr kann als Nacht definiert werden) und deren verzerrte Wahrnehmung, während man schläft oder an der Schlaflosigkeit leidet. Laut Bronfen verursacht die Nacht sogar eine „[…] Erfahrung der Ortslosigkeit , die beruhigend, verführerisch oder furchterregend sein kann […].“3 In Bezug auf die Nacht benutzt sie selber den Begriff Zeitraum und nicht etwa „Zeitort“ oder sonstiges. Dabei geht es um das seltsame Verhältnis von Tag und Nacht. Bronfen zitiert den Semiotiker Gérard Genette und berichtet, dass „[…] die Nacht […] sowohl den Widerspruch als auch Ergänzung zum Tag bedeutet. […]. Der Tag schließt die Nacht aus und doch erhält er sie auch. […]. Die Nacht […] stellt die Abweichung, die Entstellung oder Abwandlung der Norm dar“.4
Die Schlaflosigkeit erhält im Konzept des Raumes eine einzigartige Bedeutung. Benjamin schreibt, „Insomnia […] is not just a state of sleeplessness, a matter of negatives. It involves the active pursuit of sleep. It is a state of longing.“5 Insomnie ist also keine bloße Abwesenheit bzw. das Gegenteil vom Schlaf, sondern sie wird von Benjamin als der Zustand des Verlangens nach Schlaf bezeichnet. In Bezug auf das Konzept des Raums kann Insomnie folgend beschrieben werden: Diese befindet sich an einem Schnittpunkt zwischen dem Wachzustand des Tages und der Nacht als ursprünglichem Raum des Schlafens. Insomnie findet zwar im nächtlichen Rahmen statt, wandelt aber die Bedeutung der Nacht als Zeitraum der Ruhe in etwas Verfremdetes und Eigenartiges um. „[Tag und Nacht] never appear on the same stage at once […]. Except in insomnia, which is a wicked kind of trespass.“6, schreibt Benjamin. Schlaflosigkeit bricht die Grenzen zwischen den bekannten Räumen und drängt sich dazwischen; Sie gehört in keine der Kategorien, und doch ist sie da, unerwünscht und unfreiwillig. Benjamin schreibt von der Uhrzeit ihrer eigenen Insomnie, und zwar um 4:22.7 Es ist weder Tag noch Nacht, weder hell noch dunkel.
Das schlaflose Individuum ist nicht gleich wach, so wie am Tag; Benjamin beschreibt ihre Insomnie als „demi-wakefulness“8, die mit unkontrollierbaren, chaotischen Prozessen im Kopf erfüllt ist. Die Schlaflosigkeit ist besonders präsent; Es geht um die ausgeprägte Wahrnehmung des physischen Raums und eigener Körperlichkeit. Benjamin berichtet, „[…] [M]y skin prickles and oozes, the heat radiating off me in waves, the sheets dampening beneath me.“9 Gleichzeitig fühlt sich das schlaflose Individuum einsam und gehört nirgendwo hin. „[…] I am a heavy-footed ghost, moving from one room to another, weary, leaden – there, but also not there”10, schreibt die Autorin.
Die Kategorie der Zeit erhält im Rahmen der Diskussion eine besondere Position. Die Nacht, der Schlaf und die Insomnie sind zwar zeitlich begrenzt, allerding verhält sich die Zeit für das Individuum eigenartig. Außerdem wird die Zeit, während man schlaflos ist, besonders stark wahrnehmbar; zusammen mit der Dunkelheit und der Konturlosigkeit der Umgebung wird sie zu einem formlosen, greifbaren Etwas. „Die nächtliche Szene macht die Zeit zwischen Mondausgang und Sonnenaufgang haptisch greifbar, indem sie ihr einen Körper gibt“11, schreibt Bronfen.
Eine weitere Kategorie, die für diesen Diskurs als charakteristisch erscheint, ist, laut Michel Foucault, die Hierarchisierungen oder Entgegensetzungen von unterschiedlichen Räumen.12 Er schreibt, „[…] [U]nser Leben [wird] immer noch von diversen Gegenständen beherrscht […]. Von Gegenständen, die wir als Gegebenheiten hinnehmen, et wa zwischen privatem und öffentlichen Raum, […] zwischen dem Raum der Freizeit und der Arbeit.“13 Diese Hierarchisierung war vor allem typisch für das Mittelalter (heilige vs. profane Orte) erdacht, allerdings ist diese auch heutzutage nicht vollständig aufgelöst.14 Der Tag und die Nacht können zunächst als Gegenteile verstanden werden, was Elisabeth Bronfen jedoch, wie bereits oben beschrieben, als fraglich sieht.15 Was allerdings eindeutig ist: Der Tag und das Wachen wird in der kapitalistischen Gesellschaft als wichtiger und wertvoller betrachtet. Die Wachheit nimmt hierarchisch eine höhere Position als der Schlaf ein, und die Nacht verliert dabei an ihrer ursprünglichen Bedeutung. Laut Crary geht es um „[…] eine Zeit, in der der Schlaf nicht länger notwendig oder gar unvermeidlich ist“.16 Der Raum der Nacht durchläuft also einen Funktionswandel: Die künstlich erschaffene Schlaflosigkeit nimmt einen festen Platz im Rahmen der 24/7 – Gesellschaft ein, während der Schlaf als ein passiver, von Arbeit oder Konsum freier Zustand, im Gegensatz zum Kapitalismus steht.
Ein Raum ist nicht vom Anfang an vorgegeben, sondern ist wandelbar. Stephan Günzel bezieht sich auf Heidegger; Allerdings berichtet er explizit von einem territorialen Raum als nicht etwas leeren, sondern aufgeladen von Ermöglichungsbedingungen . 17 Michel Foucault baut eine ähnliche Argumentation auf, allerdings entfernt er sich von dem ausschließlich territorialen Verständnis. Laut ihm leben wir „[…] nicht in einem leeren, homogenen Raum […], sondern in einem Raum, der mit zahlreichen Qualitäten behaftet ist […]. Der Raum unserer unmittelbaren Wahrnehmung, unserer Träumereien und unserer Leidenschaften besitzt eigene Qualitäten“.18 Auch die Nacht dient als Ausgangspunkt bzw. Rahmen für verschiedene Praktiken. „Die Nachträume sind fragmentarische, künstliche, aber gleissende Inseln in einem Ozean der Finsternis. […]. Der Nachtraum […] lässt mehr Freiheit für Interpretation und Imagination, für Träume und Ängste, für Irrungen und Wirrungen“19, schreiben Peter Keller und Rahel Marti.
Es besteht eine Verbindung zwischen der Entstehung der Schlaflosigkeit und dem wachsenden Leistungsdruck und Konsumzwang des Spätkapitalismus. Dabei werden der Schlaf und die Schlaflosigkeit oft zu gemeinschaftlichen, öffentlich gemachten Phänomenen, die, je nachdem, künstlich hervorgerufen oder bekämpft werden, um die Ressourcen des Individuums wie Leistung- oder Kauffähigkeit aufrechtzuerhalten. Crary schreibt, „Durchgehende Öffnungszeiten und die Möglichkeit, rund um die Uhr zu arbeiten oder einzukaufen, wurden schon längst eingeführt. Nun aber wird ein Mensch geschaffen, der auf diese Verhältnisse besser eingestellt ist.“20 Er redet von einer 24/7 Welt, die eine ununterbrochene, mit Monetarisierung verbundene Aktivität des Individuums ermöglicht. In dieser Welt wird der Schlaf oft als überflüssig und nutzlos betrachtet.21
Auch Benjamin diskutiert auf mehreren Seiten ihres Werkes die Bedeutung von Schlaflosigkeit im Zeitalter des Kapitalismus sowie deren Zusammenhang zur Kolonialisierung. Sie beginnt mit einer kurzen Analyse des Buches Robinson Crusoe, welches auf dem Höhepunkt des spanischen Kolonialismus erschienen ist, und der Problematisierung der Figur von Friday. Ein schwarzer Sklave repräsentiert offensichtlich die Nacht und deren Unwissen, während der Europäer für das Wachen und für die Aufklärung steht.22 Der kolonialisierte Raum wurde also im metaphorischen Sinne als Nacht und Ahnungslosigkeit gesehen, welcher für den europäischen Raum des Tages und des Wissens ausgebeutet werden kann und soll. Die schwarzen versklavten Menschen symbolisieren angeblich den Schlaf (des Verstandes); In der Wirklichkeit sind es jedoch die die Kolonialisierung treibenden Europäer, deren Ignoranz und Grausamkeit wenig mit dem Licht im Dunkeln zu tun haben.23
Die Autorin schreibt, dass die wichtigen Importprodukte aus kolonialisierten Ländern nach Europa die sogenannten Stimulantien wie Tabak, Kaffee und Zucker waren, die als Generatoren der Massenschlaflosigkeit dienten.24 Summers-Bremner berichtet ebenfalls, „Slaving business was often done in England´s eighteenth-century coffee houses, which, as well as keeping people up at night with coffee, fostered gossip and political debate […]”25. Auch heutzutage, im Rahmen des Spätkapitalismus, werden immer mehr von den oben genannten Substanzen konsumiert, um rund um die Uhr arbeitsfähig zu bleiben.
Die Räume der Sklaverei wurden mit deren Abschaffung jedoch nicht vollständig aufgelöst. Es bestehen immer noch schlechte Arbeitsbedingungen und Ausbeutungsverhältnisse, um die spätkapitalistische Produktion und den Konsum aufrechtzuerhalten. Benjamin schreibt, „[…] [W]e […] became slaves ourselves, to the clock, the market, the railroad (and later, motorway) – to capitalized production itself […]”.26 Auch Crary äußert sich zum dem Thema, “[…][W]ir [sind] zu harmlosen, gehorsamen Bewohnern globaler Stadtgesellschaften geworden. Auch ohne direkten Zwang tun wir, was von uns erwartet wird […]“27.
Im Spätkapitalismus handelt es sich oft um die erwünschte, künstlich ausgelöste Insomnie, die oft zu einem festen Bestandteil des nächtlichen Raums wird und den Schlaf ersetzt oder verschiebt. Diese unnatürliche kapitalistische Schlaflosigkeit führt zur Auflösung der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit und dadurch zum Verschmelzen der Räume des Tages und der Nacht. „Der 24-Stunden-Takt unterläuft beständig die Abgrenzung zwischen Tag und Nacht, Dunkelheit und Licht, Ruhe und Tätigkeit“28, berichtet Crary.
Im Rahmen der spätkapitalistischen und postkolonialen Gesellschaft geht es um ein Spannungsverhältnis von Schlaf und Schlaflosigkeit, nach den oft abwechselnd gestrebt wird; Schlaftabletten und -kliniken gehen mit „Wachmachern“ und Möglichkeiten des 24/7 – Konsums und Arbeitens Hand in Hand. „[…] [T]here exists a whole booming economy obsessed with sleep metrics and insomnia cures […]”29, schreibt Benjamin. Der Schlaf ist nicht mehr ein unabhängiger, dem Wachen gleichwertiger Zustand, sondern dient als das nötige Übel bzw. Mittel zum Zweck. Der Schlaf muss oft, wie eine Ware, gekauft werden und wird dadurch ebenfalls zum Objekt des Kapitalismus.30 Allerdings gleicht der Schlaf, hervorgerufen durch Schlafmedizin, nicht dem Natürlichen; Die Insomnie wird nicht geheilt, sondern unterdrückt. Benjamin berichtet, „[…][S]leeping pills produce a kind of counterfeit slumber by inducing amnesia for night-time wakefulness. They do not heal insomnia; they suppress its symptoms”31
Die Schlaflosigkeit stellt, wie oben beschrieben, eine Erfahrung der Ausgrenzung und der Einsamkeit dar; Sie verwandelt das Individuum in eine Insel der eigenen Existenz.32 Allerdings geht es bei dem Phänomen der Insomnie nicht nur um den privaten Raum, sondern auch um den Kollektiven; überall auf der Welt gibt es schlaflose Individuen, die von Benjamin als „[…] luminous dots on an epidemiologist´s map, discrete pinpoints of consciousness, suffering in isolation […]“33 beschrieben werden. Die Insomnie umfasst also sowohl private als auch geteilte Fassetten. Es handelt sich um eine geteilte Erfahrung der Schlaflosigkeit, ohne dass eine Kommunikation zwischen den betroffenen Individuen stattfinden kann/muss.34 Die zahlreichen kleinen Räume der ungewollten Wachsamkeit, die Benjamin mit Einzelzellen vergleicht35, bilden ein großes Netz der kollektiven Schlaflosigkeit. „This kind of sleeping, sleeping that is essentially collective, dormitory-style, is reassuring. It evens out the odds of insomnia. If you are awake, it is more likely that someone else would be too”36, schreibt die Autorin.
[...]
1 Günzel, Stephan: Raum. Eine kulturwissenschaftliche Einführung, Bielefeld 2017, S. 9.
2 De Certeau, Michel: Praktiken im Raum, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hrsg. v. Dünne, Jörg und Günzel, Stephan, Frankfurt am Main 2018, S. 345.
3 Bronfen, Elisabeth: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht, München 2008, S, 167.
4 Ebd., S.171.
5 Benjamin, Marina: Insomnia, London 2019, S. 6.
6 Ebd., S. 23.
7 Vgl. Benjamin, 2019, S. 8.
8 Ebd., S. 86.
9 Ebd., S. 13.
10 Ebd,. S. 4.
11 Bronfen, 2008, S. 173.
12 Vgl. Foucault, Michel: Von anderen Räumen, in Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hrsg. v. Dünne, Jörg und Günzel, Stephan, Frankfurt am Main 2018, S. 319.
13 Ebd.
14 Vgl. Ebd., S. 317ff.
15 Vgl. Bronfen, 2008, S. 171.
16 Crary, Jonathan: Schlaflos im Spätkapitalismus, Berlin 2014, S. 15.
17 Vgl. Günzel, 2017, S. 75.
18 Foucault, 2018, S. 319.
19 Keller, Peter und Marti, Rahel: Im Raum der Nacht, in: Hochparterre, 6-7/2013 unter https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=hoc-001:2013:26::1384#408 (Letzter Aufruf: 22.11.2022), S. 48.
20 Crary, 2014, S. 9.
21 Vgl. Crary, 2014, S. 15.
22 Vgl. Benjamin, 2019, S. 39.
23 Vgl. Ebd., S. 39f.
24 Vgl. Ebd., S. 40.
25 Summers-Bremner, Eluned: Insomnia: A Cultural History, London 2008, S. 11.
26 Benjamin, 2019, S. 43.
27 Crary, 2014, S. 65.
28 Crary, 2014, S. 22.
29 Benjamin, 2019, S. 51.
30 Vgl. Crary, 2014, S. 23.
31 Benjamin, 2019, S. 51.
32 Vgl. Ebd, S. 34.
33 Ebd.
34 Vgl. Ebd., S. 35.
35 Vgl. Ebd., S. 34.
36 Ebd., S. 54.