Die Arbeit widmet sich der Frage, ob der von Kierkegaard gezeichnete Ästhetiker "A" das von Camus beschriebene Absurde erkannt hat und inwiefern er sich als Konsequenz daraus in der Revolte befindet. Hierzu stelle ich zunächst Camus' Theorie des Absurden in ihren Grundzügen vor. Im nächsten Zug analysiere ich, ob den Ästhetiker das absurde Gefühl bereits überkommen hat und in welcher Weise das gekennzeichnet ist. Danach gehe ich schrittweise auf die von Camus formulierten Handlungsanweisungen Freiheit, Leidenschaft und Auflehnung ein.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Das Absurde
3 Analyse
4 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
In seinem Werk „Entweder - Oder“ stellt Sören Kierkegaard unter dem Pseudonym Victor Eremita die ästhetische und ethische Weltanschauung vor und ebnet damit den Weg der Existenzphilosophie, den Jahrzehnte darauf auch Albert Camus einschlägt. Die vorliegende Arbeit widmet sich der Frage, ob der von Kierkegaard gezeichnete Ästhetiker „A“ das von Camus beschriebene Absurde erkannt hat und inwiefern er sich als Konsequenz daraus in der Revolte befindet. Hierzu stelle ich zunächst Camus‘ Theorie des Absurden in ihren Grundzügen vor. Im nächsten Zug analysiere ich, ob den Ästhetiker das absurde Gefühl bereits überkommen hat und in welcher Weise das gekennzeichnet ist. Danach gehe ich schrittweise auf die von Camus formulierten Handlungsanweisungen - Freiheit, Leidenschaft und Auflehnung - ein. Ich werde aufweisen, dass sich die ästhetische Weltanschauung nicht durch Bewusstseinsanspannung, sondern Bewusstseinszerstreuung kennzeichnet und der Ästhetiker somit gleich mehrere „Sprünge“ macht, die die Gleichung des Absurden auflösen. Aufgrund des gesetzten Rahmens von fünf bis sechs Seiten schließe ich am Ende ein kurzes Fazit und nehme keine Wiederholung der Argumente vor.
2 Das Absurde
In einer mir indifferenten Welt, deren Sinn - sofern es diesen gibt - mir stets verborgen bleiben wird und welche ich nie begreifen werde, weil sie meiner eigenen Natur zuwider ist, sollte ich mich an die einzige Erkenntnis wenden, die mir bleibt: Das Absurde.
Das Absurde beschreibt das Spannungsverhältnis zwischen dem sinnsuchenden Menschen und einer Welt, die ausschließlich sinnlos ist. Es äußert sich zunächst in einem Gefühl, das den Menschen jederzeit überfallen kann. Spürt er es einmal, so entfremdet er sich von der Welt, denn diese ist der Menschheit gegenüber indifferent.
Nun gibt es nichts, das ihm Trost spenden kann. Die Naturwissenschaften können die Welt zwar beschreiben, doch lehren sie nichts über ihre wahre Realität. Um die Welt zu verstehen zu können, muss der Mensch sich diese vertraut machen, jedoch kann er das nur innerhalb seiner menschlichen Kriterien. Die Natur jedoch ist zutiefst unmenschlich. Das eigene Denken stößt allerdings auf einen Widerspruch, wenn es sich selbst zum Gegenstand nimmt - der circulus vitiosus tritt ein1. So erkennt auch der Verstand, dass die Welt absurd ist.
Sobald man sich dieser Absurdität bewusst ist, gibt es zwei Handlungsmöglichkeiten: Flucht und Auflehnung. Fliehen kann der Mensch durch den physischen Selbstmord, bei dem er die sinnlose Welt als nicht lebenswert empfindet und sich daraufhin umbringt. Camus verurteilt diesen Ausweg allerdings mit der Begründung, dass man damit die einzige erkannte Wahrheit2 verwirft und somit die Gleichung des Absurden auflöst.
Außerdem gibt es den philosophischen Selbstmord, bei dem man ebenfalls das Absurde erkennt, anschließend jedoch in metaphysische Spekulation flieht. Hier kritisiert Camus die Existenzphilosophen - einschließlich Kierkegaards - sowie die Phänomenologen. Erstere finden ihren Sinn in dem Unerklärbaren, letztere verherrlichen die Vernunft3.
Doch wie geht man richtig mit dem Absurden um? Camus hebt hervor, dass man sich allein auf das konzentrieren sollte, was man nicht leugnen kann. So müsse man sich eingestehen, dass man selbst stets nach Einheit strebt und sich diese Einheit zu keinem Zeitpunkt erreichen lasse. Aus diesem Eingeständnis folgten drei Verfahren, mit denen man die absurde Gleichung aufrechterhält: Auflehnung, Freiheit, Leidenschaft.
Anstatt dem absurden Zustand zu entgehen, sollte man sich unentwegt der Sinnlosigkeit des Lebens bewusst sein. Denn diese Bewusstseinsanspannung gibt dem Menschen die Größe, die einzige Erkenntnis des Lebens selbst zu tragen4.
Diese Auflehnung beinhaltet eine neue Art der Freiheit. Man ist nicht länger von einem angeblichen Sinn, von Religion oder anderen menschlich-normativen Konstrukten eingeschränkt. Der Mensch ist nun frei zu sein und zu handeln, denn seine einzige Grenze stellt der Tod dar - alle anderen Einschränkungen sind mit den weiteren Illusionen dem Absurden verfallen5.
Diese neu gewonnene Freiheit fordert nun auch die Befreiung von bisherigen Wertvorstellungen, die allesamt an den vermeintlichen Sinn des Lebens geknüpft sind. Nun gilt es nicht mehr qualitative, sondern quantitative Erfahrungen zu machen, indem man das Leben in einer Abfolge von Gegenwartsmomenten so intensiv wie möglich lebt. Mit dem sicheren Ende des Lebens durch den Tod ist es vergebens, Ziele zu entwerfen und sich um die Zukunft zu sorgen. Es gilt, die Fülle der menschlichen Erfahrung auszuschöpfen6.
3 Analyse
Mehrere Textstellen weisen auf, dass A die Sinnlosigkeit seines Lebens bereits erfasst hat. Innerhalb der Entwicklung des Textes wird das zunehmend deutlicher. Ist es zunächst nur die Beschreibung seiner eigenen Weltanschauung: „Meine Betrachtung des Lebens ist ganz und gar sinnlos“7, wird es später zu der Wahrheit des Lebens ans sich: „Mein Leben ist völlig sinnlos“8. Einmal zu dieser Erkenntnis gekommen, mag der Ästhetiker zwar nach Konzepten oder Werten suchen, die die Endlichkeit überwinden könnten, doch muss er irgendwann einsehen, dass keines dieser Konzepte seinem Zweifel standhalten wird9. Nun wird ihm auch die Banalität des Alltäglichen bewusst und er entfremdet sich unumkehrbar von dieser sowie von seinen Mitmenschen10. Diese Entfremdung ist begleitet von einem Gefühl der Abneigung, besonders gegen jene, die sich von ihren Pflichten regieren lassen und in ihrer Arbeit weiterhin sinnvolles Tun sehen11. Der Ästhetiker erkennt die Absurdität der Gewohnheit, das sinnlose Treiben jener Menschen, die noch nicht erkannt haben, dass ihre Erzeugnisse ohne Bestand und Wert sind: „als ich die Augen aufschlug und die Wirklichkeit betrachtete, da mußte ich lachen und habe seitdem nicht damit aufgehört“12.
Ebenso entfremdet er sich von sich selbst. So erinnert er sich beispielsweise an sein fünfzehnjähriges Ich, das in einem Aufsatz die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen vermochte. Doch nun fällt ihm keines seiner eigens entwickelten Argumente mehr ein. Dem Ästhetiker wird bewusst, dass er nie wieder zu diesem Zustand des Glaubens und des Selbst zurückkehren kann13.
Er wird es nicht mehr schaffen können, sich an dem zu erfreuen, das ihn früher vielleicht einmal glücklich machen konnte, denn seine Seele hat „alle [... ] Illusion verloren“14.
Nun überlegt er zwar, den Sprung in den physischen Selbstmord tun, wagt es aber zuletzt doch nicht: „mit welch zweideutiger Angst vor dem Verlieren und Behalten klebt doch der Mensch an diesem Leben!“15. Und so windet er sich unter der drückenden Allgegenwärtigkeit der Leere und Vergänglichkeit, schwankt zwischen flüchtigen Ausbrüchen der Verzweiflung und zynischer Ironie.
Behauptet Camus, dass die Erkenntnis des Absurden die einzige Wahrheit ist, die man erfahren kann, so erkennt man eine gewisse Analogie, wenn A schreibt: „Zur Erkenntnis der Wahrheit bin ich vielleicht gekommen; zur Seligkeit wahrlich nicht“16. Und wie der absurde Mensch sieht es auch der Ästhetiker vor, auf jegliche Hoffnung zu verzichten17. Es lässt sich demnach schließen, dass die von Kierkegaard beschriebene Erfahrung des Ästhetikers Camus‘ Absurdität gleichkommt. Im Folgenden werde ich analysieren, inwiefern jedoch das Verhalten und die Konsequenz, die A aus dieser Erkenntnis schlussfolgert, dem Umgang mit dem Absurden entspricht, den Camus vorgesehen hatte.
Sobald A die Sinnlosigkeit des Lebens erfasst hat, gibt es für ihn keine Grenze mehr, außer dem Tod selbst. Und auch dieser befreit ihn im selben Zuge, denn er erlöst den Menschen von jeder Konsequenz. Wofür sollte man etwas schaffen wollen, dessen Früchte jeden Augenblick verloren werden können? Vor dem Hintergrund der Vergänglichkeit aller Dinge gibt es für A keinen Grund mehr, Bindungen jeglicher Art einzugehen. Somit hält er sich nicht länger an vorgegebene Sitten und Bräuche, denn diese sind unbeständig18. Gleichermaßen warnt er davor, Freundschaften zu knüpfen oder gar romantische Beziehungen einzugehen, die in der Ehe enden - denn auch diese schränken die eigene Freiheit bloß ein19. Um jedoch vollkommende Handlungsfreiheit zu erlangen, muss der Ästhetiker seine „Stimmungen in seiner Gewalt haben“20 und sie damit von ihrem Rahmen lösen. Damit ist gemeint, dass er nicht länger von seiner Umgebung und der Zufälligkeit von Ereignissen abhängig sein, sondern stattdessen den eigenen Gemütszustand modifizieren und kontrollieren möchte.
Während er sich von der Struktur des Alltäglichen löst, indem er sich willkürlich verhält, denn „in der Willkür liegt das ganze Geheimnis“21, kontrolliert er gleichzeitig das Zufällige, indem seine Reaktion darauf eben nicht willkürlich ist. Doch entgegen Camus‘ Absicht, die neue, absurde Realität bewusst zu leben, scheint die vermeintliche Freiheit des Ästhetikers eher dadurch gekennzeichnet zu sein, dass er die Wirklichkeit, wie sie ihn zufällig überkommt, nicht als solche akzeptieren will. So schreibt Kierkegaard: „Man genießt etwas ganz und gar Zufälliges, man betrachtet das ganze Dasein von diesem Standpunkt aus, läßt die Realität dieses Daseins daran scheitern“22. Noch deutlicher wird dies, wenn man den Ausdruck der Leidenschaft des Ästhetikers untersucht.
Leidenschaft bedeutet für A kalkulierter Genuss. Es geht eben nicht darum, eine große Menge von leidenschaftlicher Erfahrung in vollen Zügen zu erleben, sondern sich innerhalb des Genussmomentes bereits von diesem loszulösen. Versuche man, das höchste Maß an Genuss zu erreichen, übersättige man sich folglich damit und riskiere, dass man sich im Nachhinein unangenehm an die Situation erinnert. Es gilt also, sich noch im Moment des Genießens zu überlegen, welche Erinnerung man daran haben wird. Auch verhindere man damit, dass man von dem gegenwärtigen Genuss überwältigt und somit fortlaufend unfreiwillig an ihn erinnert werde: „Jedes Lebensmoment darf nur so viel Bedeutung für jemanden haben, dass man es in jedem beliebigen Moment vergessen kann“23. Um die eigene Freiheit also zu wahren, muss der Ästhetiker die Kontrolle über sein Erinnern und Vergessen erlangen. Solange er nicht bewundert, sondern Abstand von allem nimmt, kann er aus dem Bewunderungsobjekt auch kein Ideal schöpfen, das möglicherweise enttäuscht werden könnte. In gewisser Weise seziert der Ästhetiker seine Erfahrung, wägt jedes Teil und jede Seite von dieser ab und macht sie sich zu eigen, in dem nur er kontrolliert, was er aus ihr schöpft.
Doch gerade diese Umgangsweise mit der Leidenschaft ist vollkommen dem entgegengesetzt, was Camus mit der „Abfolge von Gegenwartsmomenten von einer ständig bewussten Seele“24 meinte. Anstelle einer Bewusstseinsanspannung findet beim Ästhetiker eine Bewusstseinszerstreuung statt. Er lebt nicht so intensiv, sondern losgelöst wie möglich. „Das Auge, mit dem man die Wirklichkeit sieht, muß sich fortwährend verändern“25, anstatt, dass man der Wirklichkeit ins Auge blickt. Doch das ist nicht die Auflehnung, die Revolte, bei der man das Absurde konfrontiert, sondern eine kalkulierte Ablenkung davon.
Mit seiner Form des Genusses vermeidet der Ästhetiker den Eintritt von Langeweile; er nennt sie die „Wurzel des Übels [...] die man fernhalten muss“26. Tritt Langeweile ein, spürt man die tatsächliche Geschwindigkeit und das Vorüberziehen von Zeit, welche allein die Leere aller Erfahrung offenlegt. Und gerade dem möchte der Ästhetiker entgehen, auch wenn dieser Zustand wie ein Damoklesschwert über ihm schwebt: „Über meinem inneren Wesen brütet eine Beklemmung, eine Angst, die ein Erdbeben ahnt“27. Der Ästhetiker erlebt also keine wirkliche Freiheit, denn ihm geht es vielmehr um die Umgehung von Gebundenheit, für die er jedoch sich selbst beschränken muss. Er erfährt keinen wirklichen Genuss, denn er kann im Genussmoment nie präsentisch sein. Und somit revoltiert er nicht, sondern flieht.
Camus nennt die Leugnung des Absurden einen Sprung. Der Ästhetiker macht nicht einen solchen Sprung, er springt ununterbrochen. Und solange A springt, merkt er nicht, dass er sich dennoch auf ein und derselben Stelle bewegt.
[...]
1 Vgl. Camus 2018, S. 28 f.
2 Ausgenommen der Gewissheit des Todes. Das Absurde ist die einzige Wahrheit, die der Mensch über die Welt erfährt. Dass er irgendwann einmal sterben wird, ist allerdings bloß eine weitere Erkenntnis über sich selbst.
3 Vgl. Camus 2018, S. 54 ff.
4 Vgl. Camus 2018, 68 f.
5 Vgl. ebd., S. 70 f.
6 Vgl. ebd., S. 72-77.
7 Kierkegaard 2019, S. 33.
8 Ebd., S. 46.
9 Vgl. ebd., S. 48.
10 Vgl. ebd., S. 44.
11 Vgl. Kierkegaard 2019, S. 37; S. 336.
12 Ebd., S. 44.
13 Vgl. ebd., S. 45.
14 Ebd., S. 52.
15 Ebd., S. 48.
16 Vgl. ebd., S. 46.
17 Vgl. ebd., S. 340.
18 Vgl. Kierkegaard 2019, S. 345 f.
19 Vgl. ebd., S. 345.
20 Ebd., S. 347.
21 Ebd., S. 347.
22 Ebd., S. 348.
23 Ebd., S. 340.
24 Camus 2018, S. 77.
25 Kierkegaard 2019, S. 349.
26 Ebd., S. 336.
27 Ebd., S. 39.
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- Anonym,, 2020, Der Ästhetiker von Kierkegaard in der Revolte?, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/1312827