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Hausarbeit (Hauptseminar), 2020
26 Seiten, Note: 1,7
1. Einleitung
2. Definition von islamisachen Apostaten
3. Apostasie und Bestrafungspraxis im Islam
3.1 Der Koran
3.2 Der Hadith
3.3 Die vier sunnitischen Rechtsschulen
4. Die Behandlung von Apostaten im Osmanischen Reich
4.1 Hatt-i §erif von Gülhane (1839)
4.2 Hatt-i Hümâyün Edikt (1856)
4.3 Das Grundgesetz von 1876
5. Resümee
6. Quellen- und Literaturverzeichnis
Das Osmanische Reich gilt als eine der größten und erfolgreichsten Dynastien der Geschichte, das sich vor allem dadurch auszeichnete, eine tolerante Haltung gegenüber anderen abrahamitischen Religionen als die des Islams einzunehmen. Die Befolgung des Millet-Systems erlaubte es nichtmuslimischen Bürgern ihre Religion zu einem gewissen Grade und unter bestimmten Voraussetzungen auszuüben, jedoch war der Alltag der sogenannten Dhimmis (Schutzbefohlenen) auch von starken Einschränkungen geprägt. Unter anderem führte dies bei der nichtmuslimischen Gesellschaft gemeinsam mit dem Aufstieg der christlichen Weltmacht mit der Zeit zu einer spürbaren Verringerung der ethnisch-nationalen Verbundenheit zum Osmanischen Reich. Die Thematik der Religionsfreiheit und der Apostasie, sowie das Einmischen der europäischen Großmächte und das zwanghafte Festhalten an Tradition waren weitere Aspekte, die zu einer schwerwiegenden Problematik für die osmanische Herrschaft im 19. Jahrhundert wurden. Um eine konfessionell-übergreifende Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich zu konstituieren und dem Zerfall des Reiches entgegenzuwirken, wurden deshalb verschiedene Reformen ins Leben gerufen. Die Tanzimat-Ära sollte in der Theorie durch die Gleichstellung aller Religionen und die Nichtigkeit vorheriger Einschränkungen - aber auch Privilegien, eine positive Auswirkung auf die Sicht aller Bürger bezüglich ihrer Identität zum Osmanischen Reich und ihrem Gefühl von nationaler Einheit erzielen und ein Schritt in Richtung Modernisierung sein. Vielmehr jedoch führten die Verordnungen eher zu weiteren politischen sowie sozialen Brüchen innerhalb der Gesellschaft.
Besonders fraglich war während der Tanzimat-Ära, ob durch die ausgesprochene Gleichstellung der Religionen auch Religionsfreiheit herrschte, was zur Folge gehabt hätte, dass auch muslimische Bürger ihre Konfession hätten wechseln können. Prinzipiell sollte ein muslimischer Apostat jedoch nach Scharia, dem islamischem Gesetz, mit der Todesstrafe bestraft werden. Dieses sozial angesehene und religiöse Charakteristikum des Osmanischen Reiches wurde von den europäischen Großmächten ebenfalls stark kritisiert, da die Todesstrafe in der westlichen Welt mit Barbarei assoziiert wurde und nicht dem aufgeklärten sowie tolerantem Weltbild des 19. Jahrhunderts entsprach. Da die osmanische Herrschaft zu dieser Zeit nicht auf europäische Verbündete verzichten konnte, zumal sie politisch sowie wirtschaftlich auf diese angewiesen war und von ihnen profitierte, war ein Einlenken sowie eine Assimilationseitens der Osmanen unumgänglich.
Daraus generieren sich folgende Kernfragen: Wie ließen sich die osmanischen Reformen mit dem Islam vereinbaren, wenn der Islam laut Scharia keinen Abfall vom Islam duldete? Galten die Reformen in der Praxis etwa nur bei nichtmuslimischen Bürgern oder fand tatsächlich eine Anpassung innerhalb des muslimischen Glaubens statt? Wurden muslimische Apostaten trotz Reformen weiterhin nach Scharia mit der Todesstrafe bestraft oder wurden andere Maßnahmen ergriffen? In dem Falle, dass andere Lösungswege gefunden werden konnten, muss zudem hinterfragt werden, ob die Todesstrafe bei islamischer Apostasie grundsätzlich ein Kernbestandteil des Islams ist und nachweislich aus islam-theologischer Perspektive legitimiert werden kann. Denn dieser Gegenstand isteine gegenwärtig stark diskutierte Kontroverse, die primär in der westlichen Welt, insbesondere unter Berücksichtigung von terroristischen Organisationenund Anschlägen, ein negatives Bild des Islams konstruiert.
Ziel dieser Arbeit ist es, anhand überlieferter Quellen und der Auswahl bestimmter Forschungsliteratur, die Behandlung von islamischen Apostaten im Osmanischen Reich während der Tanzimat kritisch zu hinterfragen und zu analysieren sowie die Kernfragen zu beantworten. Hierfür wurde die Arbeit in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil wird darauf eingegangen, was im Allgemeinen als islamischer Apostat verstanden wird, wobei sowohl bestimmte Merkmale als auch aufkommende Probleme hervorgehoben werden. Anschließend wird für die Grundlage der Arbeit komprimiert im ersten Hauptteil auf den Koran, die Sunna bzw. denHadith sowie die vier sunnitischen Rechtsschulen eingegangen, da sieals Hauptquellen der islamischen Religionslehre gelten. Dabei liegt der Schwerpunkt lediglich auf der Legitimierung der Todesstrafe beim Abfall vom Islam und dessen Handhabung. Ein grundsätzliches Verständnis der Hauptquellen des Islamsbezüglich der Thematik ist für den weiteren Verlauf der Arbeit erforderlich, um die Folgen der Reformen und die Reaktionen der muslimischen Gemeinde sowie des Osmanischen Reiches nachvollziehen zu können. Der zweite Hauptteil umfasst eine Analyse der Tanzimat-Reformen, die sich auf islamische Apostasie sowie dessen praktische Umsetzung im Osmanischen Reich beziehen. Dabei werden auch Bezüge und Vergleiche zur theoretischen Lehre des Islams hinzugezogen. Als Informationsquelle waren hierfür einige Beiträge der Forschungsliteratur hilfreich,insbesondere das Buch Conversion and Apostasy in the Late Ottoman Empire des türkischen Professors für Geschichte Selim Deringil. In seinem Werk befasst sich Deringil unter anderem mit den Traditionen des Islams und den religiösen Strukturen des Osmanischen Reiches zur Zeit der Tanzimat, mit den eingeführten Reformationen sowie der allgemeinen Behandlung von (islamischen) Apostaten. Die Arbeit schließt mit einem Fazit ab.
Eine universal anerkannte und vor allem objektive Begriffserklärung von islamischer Apostasie lässt sich in muslimischer Literatur oder den bedeutendsten Quellen des Islams, wie zum Beispiel dem Koran, nur schwer finden, da eine umfassende Aufzählung von Merkmalen sowie eine detaillierte Definition kaum vorhanden ist und zum Teil auch nicht explizit auf das Thema eingegangen wird (siehe 3.1.)1. Vielmehr lassen sich vereinzelt Kennzeichen für Apostasie festhalten, die zum Teil jedoch die Problematik der Subjektivität aufweisen. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass diverse Gelehrte zu verschiedenen Ergebnissen kommen sowie islamische Rechtsschulen teilweise differenzierte Ansichten bezüglich des Urteils über Apostaten und deren Bestrafung hegen.
Die zwei wohl fundamentalsten und unumstrittenen Merkmale von islamischer Apostasie sind zum einen die Aberkennung Allahs als einzige Gottheit und zum anderen die Leugnung des Propheten Mohammeds und seinen Taten. Weiterhin wird in der Islamwissenschaft darüber diskutiert, ob ein Unterschied zwischen öffentlich ausgesprochener und verborgener Apostasie, die lediglich im Inneren eines Menschen empfunden wird, besteht und wie diese, vor allem Letzteres, zu erkennen sind. Die Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher erläutert hierzu in ihrer Studie über den Abfall im Islam (2012), dass seit Jahrhunderten Gelehrte darüber debattieren würden, „ob es rechtens und überhaupt möglich sei, den (innerlich gehegten) Unglauben [.] eindeutig zu beurteilen“2. Dies zeigt, dass selbst Theologen bei dieser Thematik an ihre Grenzen stoßen. Hinsichtlich der Erkennung von Apostasie verweist Deringil auf den Mufti Ömer Nasuhi Bilmen, der sich wie folgt äußerte: ,A person is only declared an apostate if he openly declares his doubts and hesitations, it is not possible to look into anyone's heart‘3. Bilmen räumt damit ein, dass nur bei ausgelebter und ausgesprochener Apostasie ein klares Urteil gefällt werden kann. Ein Apostat kann laut ihm also nur als solch einer geltend gemacht und verurteilt werden, wenn er sich selbst öffentlich als Apostat bekennt. Auch andere Gelehrte identifizieren Apostasie anhand von sichtbaren Merkmalen. Der islamische Theologe Muhammad al-Gazäli geht in seiner Abhandlung über die Rechtgläubigkeit und religiöse Toleranz auf mehrere ausschlaggebende Kriterien ein. Zusammengefasst würden laut al-Gazäli folgende Kennzeichen einen Ungläubigen offenbaren: Die Titulierung des Propheten Mohammed als Lügner, die Rezitation des Glaubensbekenntnisses mit Widersprüchen, die Behauptung, „Gott kenne nur sich selbst“4, die Abänderung der Wortbedeutungen von Koranversen ohne Vorlage von unwiderleglichen Beweisen sowie die grundsätzliche Abwendung vom Islam bei vorhandener Kenntnis über die Taten des Propheten jedoch ohne Versuch an diese zu glauben5. Des Weiteren sind gemäß al-Gazäli insbesondere die Beachtung der fünf Rangstufen einer Interpretation für die Verurteilung der Apostasie ausschlaggebend6. Diese sollen den Vorwurf der Apostasie erschweren, da unkonventionelle Erklärungen, „die [.] von den frommen Vätern nicht bekannt war[en]“7 als Neuerung geltend gemacht werden können, solange sie sich im Rahmen mindestens einer Rangstufe befinden. Selbst wenn eine schändliche und unbegründete Interpretation ohne überzeugende Beweise vorhanden wäre, könne von Neuerung gesprochen werden8. Voraussetzung hierfür wäre jedoch, dass die Religion keinen Schaden davontragen würde, was jedoch die Frage aufwirft, woran dies gemessen wird. Was gilt in diesem Fall als ,Schaden‘ und wichtiger - wer ist berechtigt, darüber zu urteilen? Fraglich ist außerdem, wann sich eine Erläuterung noch im Rahmen befindet. Al-Gazäli nennt zwar Beispiele zu den jeweiligen Rangstufen, jedoch keine genauen Kriterien oder Grenzen, die für ein objektives Urteil notwendig wären. Ferner geht al- Gazäli darauf ein, dass eine Ausnahme bei der Verurteilung von Apostaten bestehe, die erst kürzlich zum Islam konvertierten, da die Möglichkeit der Unwissenheit über essenzielle Überlieferungen vom Propheten Mohammed bestehen könne9. Auch hierbei lässt sich die Problematik des subjektiven Urteils feststellen. Zum einen stellt sich die Frage, in welcher Zeitspanne ein Gläubiger noch als „frisch“ konvertiert gilt, zum anderen ist unklar, wie genau Unwissenheit festgestellt werden kann. Zusätzlich wird keine genaue Frist genannt, bis die ein Gläubiger seine Wissenslücken gefüllt haben muss.
Ein weiteres allgemeines Problem, welches mit der fehlenden objektiven Definition von islamischer Apostasie zusammenhängt, ist die Frage, wer letztendlich befugt war oder ist, einen Abfall vom Islam zu beurteilen und daraufhin ein juristisches Urteil zu fällen und gegebenenfalls eine gerechte Strafe aufzuerlegen. Laut Schirrmacher kann ein Gläubiger von einer anderen Person als Apostat erklärt werden, obwohl der angefeindete Gläubige sich selbst nicht als Apostat bekennt und aus seiner Perspektive weiterhin gläubig ist. Ausreichend seien hierfür lediglich zwei Zeugen, dessen Annahme sei, der Gläubige hätte sich vom Islam distanziert oder würde sich offenkundig zu einer anderen Religion bekennen10. Dadurch könne der Vorwurf der Apostasie jedoch „in den Händen skrupelloser Machthaber oder einflussreicher Gelehrter und Meinungsführer zu einer scharfen Waffe im Kampf gegen [.] Gegenspieler“11 werden.
Festzuhalten ist also, dass sich zwar grundsätzliche Maßstäbe finden lassen, die den Abfall vom Islam definieren sollen, der Vorwurf der Apostasie dennoch äußerst leichtsinnig und subjektiv gefällt werden kann.
Im Folgenden werden drei Quellen der islamischen Religionslehre komprimiert dargestellt und auf die Thematik der Apostasie und dessen Bestrafungspraxis kritisch analysiert.
Die wichtigste Quelle, auf die der Islam sowie die Scharia basiert, ist der Koran. Dieser geht nach islamischem Glauben auf den Propheten Mohammed zurück, der durch den Erzengel Gabriel Allah's Offenbarung erhalten haben soll. Muslime finden in ihrer heiligen Schrift Suren sowie dazugehörige Verse, die genaue Anweisungen zu grundlegenden Themen des alltäglichen Lebens liefern, wie beispielsweise die richtige Ausführung des Gebets, die korrekte Körperwaschung oder der angemessene Umgang mit anderen Menschen, Glaubensrichtungen und Gesellschaften. Der essenzielle Kern des Islams ist, dass Allah und somit auch seine Offenbarung und die darin enthaltenen Anordnungen unfehlbar sind, da Allah nach islamischem Glauben als Schöpfer und größte Existenz des Universums gilt. Wichtig ist des Weiteren, dass der Islam sich als gesamte Lebenseinstellung versteht, in der eine Trennung zwischen Religion und Staat, Sozialethik sowie Politik nicht möglich ist12.
Menschen, die nicht der islamischen Glaubenslehre folgen, werden im Koran durchgehend thematisiert, jedoch werden für sie verschiedene Begrifflichkeiten verwendet. Genannt werden neben den Ungläubigen unter anderem auch Götzendiener, Heuchler, Abgekehrte sowie die Völker der Schrift. Die Bezeichnung Abfall für die Abkehr des Islams wird im Koran nicht genutzt; diese finde sich erst in der Überlieferung wieder13. Ob mit „ Ungläubige“ auch islamische Apostaten gemeint sind, kann infrage gestellt werden, denn die Worte Muslim und Gläubiger seien nicht zwingend synonym zu verstehen14. Dennoch lässt sich nicht abstreiten, dass mit „ Ungläubige“ auch islamische Apostaten gemeint sein könnten, zumal die im Koran genannten Heuchler auch als Abgekehrte oder Abtrünnige bezeichnet werden. Generell fordert der Koran dazu auf, mit Ungläubigen zu sprechen, um sie vor ihren schmerzlichen Strafen im Jenseits zu warnen, auf die sie in der Hölle antreffen werden15. Auch wird betont, dass Gläubige lediglich die Pflicht zu erfüllen haben, Ungläubige zu ermahnen, jedoch nicht die Verantwortung dafür tragen, diese im irdischen Leben zu strafen. Diese Aufgabe werde bereits von Allah erfüllt16. Des Weiteren verbietet Allah den Gläubigen, sich mit Ungläubigen anzufreunden, was aber nicht zu ihrer Bekämpfung auffordern soll17. Dies ist ein Indiz dafür, dass der Koran nicht von einer Todesstrafe ausgeht, denn die Option, sich mit einem Ungläubigen bzw. Apostaten anzufreunden, wäre bei einer vorhandenen Todesstrafe nicht gegeben. Obwohl der Koran von einer Abwendung von Ungläubigen spricht, fordert er dennoch dazu auf, gütig zu ihnen zu sein18. Eine Ausnahme tritt ein, wenn die Ausübung des Glaubens durch Ungläubige verhindert wird. In diesem Fall sieht der Koran eine Gefahr für den islamischen Glauben und dessen Gemeinde, sodass den Gläubigen das Recht zugeteilt wird, diese Ungläubigen zu bekämpfen sowie zu töten19. Hierbei darf jedoch nicht der Kontext außer Acht gelassen werden. Der Koran spricht hier von Gegnern, die sich zu einer bestimmten Zeit mit Muslimen im Kriegszustand befanden (siehe Q 47:5). Des Weiteren sind mit Gegnern häufig jene Heuchler gemeint, die in Kriegszeiten vorgaben, Muslime zu sein, bei Bedrohung jedoch zum Kriegsfeind überliefen und somit Verrat begangen20. Die Folge des Verrats war unter anderem die Verringerung der Anzahl von muslimischen Gemeindemitgliedern. Nicht nur weil sie zu den Feinden übergewechselt sind, sondern vor allem weil Verrat in Kriegszeiten dazu führen konnte, dass dem Feind Strategien offenbart werden, sodass mit schwerwiegenden Konsequenzen zu rechnen war. Der Aufruf zum Mord ist hier also eher aus einer Perspektive zu verstehen, die politische sowie militärische Intentionen verfolgt und nicht religiöser Natur ist. Aus dieser Sichtweise betrachtet, kann also zwangsläufig nicht unbedingt von Apostasie gesprochen werden.
Festzustellen ist, dass obwohl im Koran ausführliche Regelungen für etliche Lebenslagen festgelegt werden, sich keine Details bezüglich einer Todesstrafe bei Unglauben oder Apostasie finden lassen.
Ein Hadith ist eine Sammlung von Überlieferungen der Handlungen und der Äußerungen des Propheten Mohammeds (auch Sunna genannt) sowie seinen Gefährten, die jedoch erst nach dem Tode des Propheten schriftlich festgehalten wurden. Muslime sollen in den Hadithen Lösungen für Streitfragen finden, die nicht im Koran thematisiert oder durch ihn beantwortet werden. Da es sich bei Hadithen um eine größere Zeitspanne der Überlieferungen handelt, geben sie laut dem Islamwissenschaftler Frank Griffel hauptsächlich „Meinung[en] [von] früher[en] Nachfolgegenerationen über die Vorgänge während der ersten Generation der Muslime“ wieder21. Da nicht davon ausgegangen werden kann, dass jede Überlieferung zur Lebzeit des Propheten Mohammeds entstanden ist oder in der folgenden Generation, wurden die Überlieferungsketten in drei Kategorien eingeteilt, die außerdem die Echtheit der jeweiligen Überlieferung einordnen22. Dies ist besonders für die rechtliche Bestimmung von Bedeutung, denn je näher eine Überlieferung sich in der Lebzeit des Propheten Mohammed befindet, desto „unangefochtene[r] [ist ihre] Autorität und beseitigt jeden nur erdenklichen Zweifel über die Pflicht der Gläubigen, sie zu befolgen“23. Problematisch wird hierbei jedoch die Frage der Objektivität bei der Wertung einer Überlieferung. Denn zu Beginn war es Autoritätspersonen gestattet, Koranverse sowie die Sunna noch eigens zu interpretieren, sodass Rechtsentscheidungen anhand von persönlichen Auffassungen gefällt werden konnten24. Mit der Zeit wurde dieses Verfahren jedoch von vielen Gelehrten des Islams nicht mehr akzeptiert. Ab dem 8. Jahrhundert sollten Präzedenzfälle des Propheten und dessen Entscheidungen in den jeweiligen Fällen als Richtschnur bei Rechtsfindungen fungieren, sodass bei Urteilen theoretisch keine eigene Meinung mehr einfließen konnte25. Praktisch gesehen wurde das Problem dadurch trotzdem nicht gelöst, da einige Äußerungen sowie Handlungen des Propheten Mohammeds mehrere Interpretationsmöglichkeiten haben. Die Frage, ob Apostaten laut Sunna mit dem Tode bestraft werden dürfen, führt deshalb zu Uneinigkeiten. Khoury verweist hierfür auf einen Vers des Propheten, der traditionell gesehen die Hauptquelle für die Legitimierung der Todesstrafe in der islamischen Religionslehre sei26. Dieser Vers handele prinzipiell jedoch von Heuchlern und nicht von islamischen Apostaten (siehe Kapitel 3.1)27. Ob der Vers auch mit dem Abfall vom Islam in Verbindung gebracht werden kann, hängt also von einer subjektiven Interpretation ab. Des Weiteren kann nicht ausgeschlossen werden, dass einige Verse des Propheten fehlinterpretiert werden. Besonders kritisch wird es, wenn der historische Kontext keine Berücksichtigung findet. Ein geeignetes Beispiel hierfür liefert Griffel, der sich auf Aufstände und den daraus resultierenden Feldzügen aus frühislamischer Zeit beruft. Diese seien auf die Weigerung von finanziellen und politischen Verpflichtungen seitens einiger Stämme zurückzuführen28. Die sogenannten
„ ridda -Kriege [Hervorhebung im Original], [sollen dann aber] als Kriege des Glaubensabfalls, in die spätere Geschichtsschreibung eingegangen [sein]. [...] Die Gegner der Muslime in diesen Kämpfen [waren jedoch] nicht nur Apostaten, sondern auch [.] Stämme [.], die vom islamischen Gemeinwesen des Propheten bis dahin weitgehend oder völlig unabhängig waren“29.
Fälschlicherweise sollen diese Kriege als Legitimierung für die Todesstrafe von Apostaten interpretiert werden30. Auch Schirrmacher argumentiert, dass der Forschung die genauen Motive der ridda -Kriege nicht bekannt seien, sodass Zweifel daran bestehen, ob sie ausschließlich religiöser Natur waren oder auch andere Ursachen die Aufstände veranlassten31. Während der Hinzuziehung von Hadithen bei Rechtsfragen ist demnach die historische Hinterfragung äußerst relevant, um sicherzustellen, zu welchem Zeitpunkt der Prophet bestimmte Aussagen tätigte und welche Beweggründe hinter seinen Handlungen steckten. Ob dies auch im Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert berücksichtigt wurde, ist fragwürdig.
[...]
1 Vgl. Schirrmacher: „Es ist kein Zwang in der Religion“, S. 54.
2 Ebd., S. 78.
3 Bilmen: Encyclopedia of Islamic law, S. 5-8, zitiert nach Deringil: Conversion and Apostasy in the Late Ottoman Empire, S. 15.
4 Al-Gazali: Über Rechtgläubigkeit und religiöse Toleranz (Übers.), S. 73.
5 Vgl. ebd., S. 60-88.
6 Für eine genauere Erläuterung der Rangstufen siehe al-Gazäli: Über Rechtgläubigkeit und religiöse Toleranz (Übers.), S. 60-67.
7 Al-Gazäli: Über Rechtgläubigkeit und religiöse Toleranz (Übers.), S. 70.
8 Vgl. ebd., S. 77-81.
9 Vgl. ebd., S. 76.
10 Vgl. Schirrmacher: „Es ist kein Zwang in der Religion“, S. 56.
11 Ebd., S. 54.
12 Vgl. Der Hadith 1 (Übers.), S. 15.
13 Vgl. Schirrmacher: „Es ist kein Zwang in der Religion“, S. 52.
14 Vgl. Griffel: Apostasie und Toleranz im Islam, S. 42.
15 Vgl. Der Koran (Übers.), 3:13, 9:3.
16 Vgl. ebd., 3:21, 6:70, 9:74, 9:77.
17 Vgl. ebd., 9:23.
18 Vgl. ebd., 5:14, 6:17, 60:9, 60:10.
19 Vgl. ebd., 8:40, 17:34, 49:10.
20 Vgl. ebd., 4:90, S. 552-553.
21 Ebd., S. 44.
22 Für eine genauere Erläuterung siehe: Der Hadith 1 (Übers.), S. 18-21.
23 Der Hadith 1 (Übers.), S. 20.
24 Vgl. Griffel: Apostasie und Toleranz im Islam, S. 44-45.
25 Vgl. Matuz: Das Osmanische Reich, S. 4.
26 Vgl. Khoury: Toleranz im Islam, S. 30.
27 Vgl. ebd.
28 Vgl. Griffel: Apostasie und Toleranz im Islam, S. 61.
29 Ebd.
30 Vgl. ebd.
31 Vgl. Schirrmacher: „Es ist kein Zwang in der Religion“, S. 60-61.