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Hausarbeit, 2020
32 Seiten, Note: 1.0
Geschichte Europas - Neuzeit, Absolutismus, Industrialisierung
Einleitung
I) Allgemeine Einführung
Die politische Situation in Frankreich im 19. Jahrhundert
Der französische Finanzkapitalismus im 19. Jahrhundert
Die politische Situation in Russland im 19. Jahrhundert
Russlands wirtschaftliche Situation im 19. Jahrhundert
II) Finanzielle Internationalisierung Frankreichs
Herausforderung des französischen Finanzmarktes
Internationalisierung des Finanzmarktes
Die Rolle der russischen Staatsanleihen im Finanzkapitalismus
III) Wenn das Finanzkapital auf die internationale Diplomatie trifft
Wenn die Diplomatie über die Finanz siegt
Russische Staatsanleihen als Anlass zur politischen Polarisierung in Frankreich
IV) Fazit
Appendix
Literaturverzeichnis
Die russischen Staatsanleihen von 1887 bis 1917 vermitteln uns einen eindrucksvollen Einblick in die Funktionsweise des Kapitalismus in der Ära der Industrialisierung.
Sie offenbaren einen Finanzthriller voller geopolitischer Intrigen, Machtspielchen und Korruption, welcher uns die finanziellen Mechanismen der Epoche vor Augen führt.
Die Untersuchung von Staatsanleihen im Zusammenhang der französischrussischen Beziehungen erlaubt es, ein interessantes Licht auf die politische und wirtschaftliche Entwicklung Frankreichs im 19. Jahrhundert zu werfen.
Im Hinblick auf die russischen Staatsanleihen ist es interessant, den wirtschaftlichen Aspekt des Zuflusses französischen Kapitals nach Russland und die Internationalisierung der französischen Kapitalströme zu untersuchen. Andererseits ist es wichtig, die Bedeutung der diplomatischen und politischen Annäherung an Russland zu berücksichtigen, die von jeder Form der finanziellen Rationalisierung losgelöst werden kann. Die Untersuchung russischer Staatsanleihen erlaubt es uns, das französische kapitalistische System des 19. Jahrhunderts zu dekonstruieren. Anhand dieser russischen Staatsanleihen lässt sich das Verhältnis von politischen und wirtschaftlichen Interessen rekonstruieren.
Bis heute ist René Girault einer der wichtigsten Historiker, die sich mit den russischen Anleihen im 19. Jahrhundert beschäftigt haben. Sein Ansatz basiert auf einer sorgfältigen chronologischen Analyse, die es uns ermöglicht, die Mechanismen der internationalen Beziehungen und die Interessen der wirtschaftlichen Akteure zu verstehen. Er hebt die Dreiecksbeziehung zwischen Frankreich, Deutschland und Russland hervor, die einen großen Einfluss auf die französisch-russischen Beziehungen hatte. So behauptet er, dass Deutschland einen großen Beitrag dazu geleistet hat, dass Frankreich seine Beziehungen zu Russland enger gestalten wollte und sogar eine " Franc-Diplomatie " etabliert hat, um zu versuchen, dem deutschen Einfluss zu begegnen.
Giraults Arbeit basiert eher auf einer quantitativen als einer qualitative Analyse. Er ist der Meinung, dass die Rolle der Politik in den internationalen Beziehungen dominiert, auf Kosten anderer Einflussfaktoren. Er stellt sozusagen die Politik den wirtschaftlichen Interessen gegenüber. In Wirklichkeit basiert das eine auf dem anderen. Diplomatie versteht sich als Befriedigung und Verwirklichung von Interessen, die sehr oft ein wirtschaftliches Ziel haben können.
Eine Reihe von Studien über russische Staatsanleihen haben sich auf bestimmte Unternehmen konzentriert oder ihre Untersuchungen auf französische Sparer gestützt. Es ist besonders wichtig zu bedenken, dass Frankreich im 19. Jahrhundert zu einem Industrieland wurde und in diesem Sinne bereits auf dem Höhepunkt seiner industriellen Entwicklung stand, während Russland als ein Land gesehen wurde, das hinterherhinkte und damit beschäftigt war, den Anschluss an die Industrieländer aufzuholen. Die politischen und finanziellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern spiegeln daher ein etwas unausgewogenes Gläubiger-Schuldner Verhältnis wider.
In diesem Zusammenhang ist es interessant, die Auswirkungen der russischen Anleihen auf Frankreich zu analysieren.
In diesem Sinne stützt sich meine Arbeit auf die folgenden Fragestellungen: Wie beeinflussten die russische Staatsanleihen die französische Wirtschaft und Politik des 19. Jahrhunderts? Liegt der Anstieg des französischen Kapitalexports an einem konjunkturell gefestigten und wirtschaftlich gesunden Binnenmarkt oder an einer strukturellen Diskrepanz?
Um diese Fragen zu beantworten, werde ich zunächst auf die politische und wirtschaftliche Situation der beiden Länder eingehen, um schließlich die Auswirkungen der russischen Staatsanleihen auf Frankreich zu untersuchen und zu vertiefen. Bei der Untersuchung der Auswirkungen russischer Anleihen auf Frankreich werde ich mich auf mehrere Aspekte konzentrieren, die den Einfluss des Exports von französischem Kapital nach Russland auf den französischen Inlandsmarkt aufzeigen. So werde ich mich zunächst auf die Struktur des französischen Finanzmarktes konzentrieren und dann die Rolle der Abzweigung der französischen Spareinlagen analysieren und dabei besonders die Investitionen der französischen Kapitalisten in Russland betrachten. Ich werde mich auf wirtschaftliche Daten und Studien über die französische Wirtschaft im 19. Jahrhundert stützen, um die Auswirkungen der russischen Staatsanleihen auf Frankreich zu verstehen. Schließlich ermöglichen es die diplomatischen Interessen, die Rolle der französischen Politik zu klären und das Vertrauen in russische Staatsanleihen in einem internationalen Kontext zu verstehen. Dabei habe ich mich auf diplomatische Berichte, aber auch auf Debatten gestützt, die von Politikern in der Presse wiedergegeben wurden.
Die politische Situation in Frankreich im 19. Jahrhundert Um die Anfänge einer Annäherung Frankreichs an Russland zu verstehen, muss man zunächst den französischen Kontext beleuchten. Eines der Schlüsseldaten der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts ist zweifelsohne das Jahr 1870, das das Ende des Zweiten Kaiserreichs und die Geburt der Dritten Republik markiert. Dieser Zeitabschnitt ist durch die Niederlage Frankreichs nach dem DeutschFranzösischen Krieg besonders betroffen.
Nach der militärischen Niederlage von Napoleon III. gegen Preußen in Sedan im September 1870 wird dieser gefangen genommen, was für Frankreich einen schweren Schlag bedeutet. Diese Niederlage wurde als eine Demütigung Frankreichs empfunden. Mit dem Frankfurter Vertrag von 1871 machte Bismarck also Frankreich für die Niederlage verantwortlich, indem er es zur Zahlung von Kriegsreparationen verpflichtete. Hinzu kam der Verlust des Territoriums von Lothringen und Mosel, was den Verlust der industriell prosperierendsten Regionen Frankreichs zur Folge hatte. Mit dem Verlust dieses Gebiets war Frankreich gezwungen, sein wirtschaftliches Leitbild zu überdenken.
Durch die Wiederauferstehung des preußischen Reiches im Spiegelsaal von Versailles, ein blasphemischer Akt für Frankreich, bekräftigte Bismarck die deutsche Einheit und zelebrierte symbolisch die Überlegenheit Preußens auf Kosten Frankreichs. Diese historische Episode ist wichtig, um das Anliegen Frankreichs zu verstehen, aus dieser demütigenden Situation herauszukommen. Die junge III. Republik war von dem Willen angetrieben, ihre Notorität zu etablieren, indem sie eine politische, aber auch wirtschaftliche Legitimation suchte. Die militärische Unvorsichtigkeit gegenüber Preußen und die damit verbundene Isolierung des Gegners offenbarten Frankreichs Schwächen. Dieser Schicksalsschlag der Niederlage markierte einen wichtigen Wendepunkt, der zu einer Annäherung an Russland führte. Diese Annäherung an Russland lässt sich nicht nur durch die Beharrlichkeit Frankreichs erklären, ein Bündnis zu suchen, das sich für einen möglichen militärischen Konflikt mit Deutschland als nützlich erweisen könnte, sondern zeigt auch die Bereitschaft des bereits industrialisierten Frankreichs, seine Wirtschaft durch Investitionsgüter im Ausland zu finanzieren und zu entwickeln. In einem internationalen Kontext, der die französisch-russische Annährung begünstigte, verkörperten die russischen Anleihen die gegenseitigen Interessen der beiden Länder. Dieser Zusammenschluss ist fortan das Ergebnis einer Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen, die sich mit Bismarck weiter verschlechtert haben.
Um sich mit dem Aufstieg des französischen Finanzkapitalismus vertraut zu machen, ist es sinnvoll, einen Blick auf die vielen Finanzskandale zu werfen, die die Zeit am Ende des 19. Jahrhunderts prägten. Unter diesem Gesichtspunkt ist es unbestreitbar notwendig, auf den Börsenkrach von 1882 zu verweisen, der durch den Konkurs der Union Generale verursacht wurde. Diese Bank wurde 1875 von katholischen Monarchisten gegründet, die mit jüdischen Banken wie der der Familie Rothschild konkurrieren wollten. Die Union Générale, die ab 1878 von Paul Eugène Bontoux geleitet wurde, erlebte einen glanzvollen Aufstieg. Doch 1882 nahm der Aufstieg der Bank eine ganz andere Wendung: Die Börse brach ein und fiel von 3040 Punkten am 7. Januar 1882 auf 325 Punkte am 18. Februar desselben Jahres.1 Dieser plötzliche Umschwung, der die Bank in den Abgrund stürzte, wurde durch eine Überkapitalisierung des realen Wertes der Bank, aber auch durch die Beteiligung an dubiosen Investitionen verursacht. Da die Angst ansteckend war, schien das Scheitern der Union Générale unausweichlich.
Der Panamaskandal folgte wenige Jahre später mit dem Kanalbauprojekt, das 1881 begann. Nach dem Erfolg des Suezkanals wollte der französische Diplomat und Unternehmer Fernand de Lesseps diesen Erfolg wiederholen, doch er stieß beim Bau des Panamakanals auf große Schwierigkeiten. Deshalb startete er einen öffentlichen Spendenaufruf, um zusätzliche Ressourcen zu erhalten. Jedoch wurden die finanziellen Mittel genutzt, um die öffentliche Meinung durch die Presse zu manipulieren und bestimmte Politiker zu korrumpieren, um die Realität der geplanten Investitionen und Kanalarbeiten in Panama zu verschleiern, die auf viele Probleme stießen und unweigerlich zur gerichtlichen Liquidation des Unternehmens im Jahr 1889 führten. Die beiden Finanzskandale blieben nicht ohne Folgen für die französischen Sparer, die sich durch den Verlust ihrer in die Projekte investierten Ersparnisse ruinierten. Der wirtschaftliche Zusammenbruch vieler französischer Sparer führte dazu, dass viele Franzosen das Vertrauen in die eigene Wirtschaft verloren. Das Misstrauen gegenüber Kapitalanlagen im privaten Sektor veranlasste die Sparer, sich anderen Kapitalanlagen zuzuwenden. In diesem Zusammenhang sind russische Staatsanleihen zu einer attraktiven Alternative für französische Haushalte geworden.
Betrachten wir den russischen politischen Kontext, so fällt die ewige Spannung zwischen der Affirmation der russischen Identität und dem Streben nach dem Westen auf. Die Vielschichtigkeit zwischen einer Annäherung an den Westen und dem Festhalten an slawischer Identität geht vor allem auf Katharina II. (1762-1796) zurück, die zwar zunächst eine großen Bewunderin der Aufklärungsbewegung war und deren Ideen in Russland verbreitete, ihnen nach dem Tod Ludwigs XIV. aber zunehmen misstrauisch gegenüberstand.
Das 19. Jahrhundert war in Russland eine Zeit des intensiven Nachdenkens über die russische Identität nach dem Sieg Alexanders I. über Napoleon Bonaparte im Jahr 1812. Dies markierte unbestreitbar einen wichtigen Wendepunkt in der Entwicklung Russlands als europäische Macht.
Von da an wollte Russland als internationale Macht angesehen werden und eine wichtigere Rolle auf der geopolitischen Szene spielen. Russland war darauf bedacht, eine Militärmacht zu sein, die seine Souveränität gewährleistet und damit seinen Stellenwert in der Welt legitimiert. Russland wollte zu einem wichtigen Akteur in der Geopolitik aufsteigen. Infolgedessen machte sich Russland einen Teil des Inlandsproduktes zunutze und erzwang einen Rückgriff auf ausländisches Kapital. Dies führte dazu, dass Russland politische Allianzen schloss, um diese Finanzierung zu erhalten - ein geostrategisches Spiel, das dazu führte, dass ein Teil des erlangten Geldes für militärische und nicht für wirtschaftliche Investitionen verwendet wurde.
Darüber hinaus entstand in Russland eine zunehmende Polarisierung zwischen Westlern und Slawophilen. Die Westler wollten Russland auf westliche Art modernisieren, während die Slawophilen es vorzogen, Lösungen aus Russlands Vergangenheit zu ziehen, indem sie auf den Besonderheiten des Landes beharrten. Auch wenn der Sieg von 1812 es ermöglichte, einen Teil der Eliten für die Ideen der Freiheit zu begeistern, verlangsamte er dennoch die von Alexander gewünschten Reformen zur Bekämpfung der Korruption oder des institutionellen Funktionierens des Reiches.
Schließlich war die Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahr 1861 unter der Herrschaft Alexanders II., der wenige Jahre später von einem russischen Nihilisten ermordet wurde, die Reform, die Russland am tiefgreifendsten prägen sollte. Diese Reform, die sich auf den ersten Blick als unvermeidlich für die Emanzipation der Freiheiten der russischen Bauern erwies, hatte zugleich eine Rehe negativer Folgen, da sie beispielsweise die Ungleichheiten und Frustrationen im Lande noch verschärfte. Das Regime orientierte sich daher vor allem während der Regierungszeit von Nikolaus I. (1825-1855) an der Devise "Orthodoxie, Autokratie und Nation" und stützte die Nationsbildung auf die Verfolgung von Minderheiten, insbesondere der Juden. So waren das Erlernen der russischen Sprache und der Übertritt zum orthodoxen Christentum Voraussetzungen für die Affirmation der russischen Identität.
Russland befand sich an einem Wendepunkt in seiner Geschichte und stand vor großen Herausforderungen bei der Modernisierung seiner Wirtschaft. Die größte Herausforderung für das Russland des 19. Jahrhunderts bestand darin, ausländisches Kapital anzuziehen, um die russische Wirtschaft zu industriaisieren.
Iwan Alexejewitsch Wyschnegradski, Finanzminister von 1887 bis 1893, unternahm zahlreiche Reformen zur Stärkung der russischen Wirtschaft. Zunächst einmal förderte er den Export von Getreideprodukten und bremste die Importe. Gleichzeitig erhöhte er die Tarife für den Schienenverkehr sowie die indirekten Steuern. Diese protektionistische Politik machte es möglich, eine Währungspolitik zu betreiben, um ausländisches Kapital anzuziehen, um die Modernisierung des Landes zu stärken und eine weitgehende Unabhängigkeit von ausländischen Mächten zu erlangen. So stärkte Wyschnegradski den Rubel durch die Aufstockung der Goldreserven. Die Goldreserven trugen zur Stabilisierung des Rubels bei und verhinderten so Währungsschwankungen. Ab 1894 war die Währung praktisch stabil. Die Stärkung der Goldreserven machte es möglich, die Währung 1897 zu konsolidieren und den Goldstandard festzulegen. Die Aufstockung der Reserven gab Russland die Möglichkeit, die Wirtschaft zu stabilisieren und seine Zahlungsfähigkeit gegenüber Investoren und Gläubigern zu gewährleisten.2 Um das Land zu modernisieren, machte sich Russland auf Betreiben Wyschnegradskis und seines Nachfolgers Sergej Juljewitsch Witte zudem daran, ausländisches Kapital durch staatliche Anleihen anzuziehen. Unter dem Eindruck der Modernisierungspolitik waren die Vergabe russischer Staatsanleihen nur willkommen und eine unbestreitbare zusätzliche Einnahmequelle für das russische Kaiserreich. In dieser Situation stellte sich heraus, dass das Wachstum direkt von den Investitionen abhängte, die wiederum von der Fähigkeit abhingen, den inländischen Konsum einzuschränken oder von der Möglichkeit, ausländische Investitionen anzuziehen. Darüber hinaus erhöhte der Rückgang der Preise für landwirtschaftliche Produkte zwischen 1891 und 1895 von 226,6 auf 158,0 Millionen Rubel nur den Bedarf an ausländischem Kapital.3
Insgesamt verfolgte Witte eine protektionistische Politik, vor allem durch den Aufkauf privater Eisenbahnlinien, sodass der Staat den Bau eines für die Modernisierung Russlands lebenswichtigen Verkehrsmittels in die Hand nehmen konnte. So begann Witte 1893 mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahnlinie, die 1902 fertiggestellt wurde. Um dieses Projekt zu realisieren, war der Ruf nach Geldmitteln und damit nach einer öffentlichen Finanzierung, insbesondere durch ein ausländisches Publikum, unausweichlich.
Somit sind die russischen Staatsanleihen Teil eines Sprungbretts, mit dem Russland seine Unabhängigkeit von den westlichen Mächten beschleunigte und gleichzeitig ausländisches Kapital zur Stärkung seiner Wirtschaft einsetzte. Denn durch die Vergabe einer Staatsanleihe, die mit ausländischen Mitteln finanziert wird, entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis zweier Volkswirtschaften, da der Kreditnehmer sich bereit erklärt, seinem Gläubiger einen regelmäßigen Zins zu zahlen, den er aus den Mitteln des jährlichen Volkseinkommens bestreiten muss, während der Gläubiger durch das Vertrauen, das er in ihn setzt, zu seinem Verbündeten wird.
Kann man die Anziehungskraft russischer Staatsanleihen als Zeichen der Schwäche des französischen Finanzmarktes erklären oder im Gegenteil als Hinweis auf die Stärkung des Finanzplatzes Paris?
Bei der Untersuchung des französischen Finanzmarktes zeigt sich, dass der Markt unzureichend entwickelt war, um die Bedürfnisse der französischen Wirtschaft optimal zu decken. So waren beispielsweise die Zahl der börsennotierten Unternehmen und die Höhe des Kapitals, das sie sich am Markt beschaffen konnten, relativ gering. Dies fühte dazu, dass die Zahl der privaten Unternehmen mit ausreichend hohem Stammkapital sehr gering bieb. Man kann sogar einen relativen Rückgang der Quote (abgesehen von Eisenbahnen und Landkrediten) zwischen 1861 (8,5%) und 1880 (5,6%) und 1891 (5,8%) feststellen. Daneben entwickelte sich in Großbritannien der Finanzmarkt so, dass zwischen 1870 und 1913 der Anteil der Unternehmen des privaten Sektors (ausschließlich der Eisenbahnen) von 4% auf 19% des Wertpapierbestandes anstieg. Im gleichen Zeitraum verzeichnete der britische Nachbar einen Anstieg der Marktkapitalisierung um 350 %. Zwar stieg der Anteil des Privatsektors in der Mitte des 19. Jahrhunderts, blieb jedoch insgesamt sehr gering. Der französische Aktienmarkt wurde also von der öffentlichen Hand dominiert und unterlag als Querschläger dem Wohlwollen der Staatsvorhaben. So war beispielsweise der Freycinet-Plan von 1879, der einen Gesamtbetrag von 6 Milliarden für den Ausbau des Eisenbahnnetzes und der Wasserstraßen vorsah, ein großer Fortschritt.4
Kann man die Schwäche des Aktienmarktes dennoch mit der wirtschaftlichen Situation erklären, die durch die Depression, welche die Wirtschaft aufgrund von Kriegen und Börsenkrisen durchlief, entstanden ist? War dies eine konjunkturelle oder strukturelle Schwäche?
Um diese Frage zu beantworten, müssen drei wichtige Aspekte berücksichtigt werden: die ökonomischen Verkettungen, die Investitionen und das verfügbare Kapital.
Die Stagnation des französischen Finanzmarktes lässt sich zum einen durch das Verhalten der französischen Unternehmen erklären. Im 19. Jahrhundert waren diese Unternehmen überwiegend in Familienbesitz und bevorzugten die Selbstfinanzierung.5
Dies könnte durch das Misstrauen gegenüber Aktienemissionen erklärt werden, die die Kontrolle der Familie über das Unternehmen behindern könnten. Dies führte unter anderem dazu, dass sich die Investitionen und das Innovationsgeschehen der französischen Unternehmen im Vergleich zu anderen Ländern nur sehr langsam entwickelten.6
« (...) les innovations ont été plus lentes a s’appliquer lorsque les brevets et les capitaux etaient francais : les pionniers de l’aluminuim, pour citer un exemple a la limite du meme secteur, ne disposaient que de 0,6 a 3,6 millions de fonds propres par firme en 1886-1889; les industries électro-techniques n’ont d’ailleurs connu un vrai démarrage qu’en 1906-1913. »7
Dies könnte das Übergewicht des Anleihemarktes für den französischen Markt erklären. Da sie kein wesentliches Verlustrisiko darstellten, dominierten Anleihen französischer Unternehmen, aber auch vor allem russische Staatsanleihen, den französischen Markt. Nicht börsennotierte französische Unternehmensanleihen waren für französische Unternehmen jedoch nur selten zugänglich, da sie sich im Allgemeinen eher an lokale Banken wandten, um Anleihen zu erhalten, als an Depotbanken. Die lokalen Banken waren zu klein, um die Unternehmen effektiv zu unterstützen, und das in einer Zeit, in der die Schwelle des Anlagekapitals, das zur Bewältigung der industriellen Modernisierung benötigt wurde, stark anstieg. Dies erklärt die Schwierigkeit der Entwicklung der französischen Wirtschaft durch den schlechten Zugang zu Kapital, um Unternehmen zu entwickeln.
Unter diesem Gesichtspunkt scheint die Schwäche des französischen Marktes eher strukturell als konjunkturell bedingt zu sein. Darüber hinaus haben die kaiserlichen Kriege und die Niederlage Frankreichs gegen Preußen sowie die Entschädigungs- und Unterhaltszahlungen für das deutsche Heer zu einer Überbelastung von rund 11,4 Milliarden Francs geführt, was sieben Monaten des Sozialprodukts entspricht und eine Verdoppelung der Schulden in vier Jahren zur Folge hatte.8
Diese Stagnation des französischen Marktes kann das Aufkommen russischer Staatsanleihen zur Unterstützung des französischen Kapitalismus und die Stärkung des Pariser Aktienmarktes erklären.
Darüber hinaus muss ein weiterer Aspekt berücksichtigt werden, um die Transformation des französischen Finanzsystems zu verstehen: Es ist die Auslagerung französischer Ersparnisse ins Ausland, die Frankreich das Kapital entzogen hat, das zur Unterstützung der eigenen Wirtschaft notwendig erschien.
Die Stagnation der französischen Wirtschaft an sich kann das Interesse Frankreichs an ausländischen und vor allem an russischen Statsanleihen jedoch nicht vollständig erklären. Weitere Gründe, die Frankreichs Interesse am Kapitalexport ins Ausland erklären könnten, wären die Schwäche des Inlandsmarktes, die auf dem Anstieg der Internationalisierung des französischen Finanzwesens besteht, um die Schwächen des Inlandsmarktes auszugleichen, oder das Ergebnis eines Aktienmarktes, der seine Reife erreicht hat und darauf erpicht ist, sich mihilfe von ausländischem Kapital zu diversifizieren.
« Entre 1895 et 1898, les capitalistes frangais manifestent un regain d’intérét pour les valeurs étrangères, aussi bien pour celles des entreprises privées que pour les emprunts publics. Cette orientation s’accentue par la suite puisqu’entre 1900 et 1914, c’est a 18 milliards 139 millions que s’élèvent les émissions de valeurs étrangères, alors que le marché frangais ne consacre aux valeurs nationales que 19 milliards 733 millions de francs. »9
[...]
1 Deville Louis (1911) Les crises de la Bourse de Paris 1870-1910 ,V.Girard & E.Brière, Paris. 41.
2 Kahan, Arcaduis (1984) Russian Economic History, the Nineteenth Century, Roger Weiss, The university of Chicago Press, Chicago.103.
3 Knowles (1932) 283.
4 Maurice Lévy-Leboyer & J.-CI. Casanova (1991) Entre l’État et le marché, Gallimard, Paris. 257.
5 Girault, René (1999) 91.
6 Maurice Lévy-Leboyer & J.-CI. Casanova (1991) Entre l’État et le marché, Gallimard, Paris. 259.
7 Innovationen setzten sich langsamer durch, wenn Patente und Kapital französisch waren: Die Pioniere der Aluminiumindustrie, um einen Vergleich aus der gleichen Branche anzuführen, verfügten 1886-1889 nur über 0,6 bis 3,6 Millionen Euro Eigenkapital pro Firma; die elektrotechnischen Industrien kamen erst 1906-1913 richtig in Gang. Lévy-Leboyer, M. & Bourguignon, F. (1985) 80.
8 Lévy-Leboyer, M. & Bourguignon, F. (1985) 81.
9 Zwischen 1895 und 1898 zeigten die französischen Kapitalisten ein erneutes Interesse an ausländischen Wertpapieren, sowohl an denen privater Unternehmen als auch an öffentlichen Anleihen. Dieser Trend verstärkte sich in der Folgezeit, denn zwischen 1900 und 1914 beliefen sich die Emissionen ausländischer Wertpapiere auf 18.139 Mio. FRF, während der französische Markt nur 19.733 Mio. Francs für inländische Wertpapiere ausgab. »Pierre-Cyrille Hautcoeur,Carine Romey(2006) 23.