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Facharbeit (Schule), 2022
20 Seiten, Note: 2,0
1 Einleitung
2 Das Werk Tintenherz
2.1 Der Roman Tintenherz von Cornelia Funke
2.2 Handlungszusammenfassung
2.3 Die US-amerikanische Verfilmung durch Iain Softley (2008)
3 Die Hauptfiguren Meggie und Staubfinger
3.1 Die Darstellung von Meggie in Buch und Film im Vergleich
3.2 Die Darstellung von Staubfinger in Buch und Film im Vergleich
3.2.1 Staubfingers erster Auftritt
3.2.2 Der Verrat an Mo und Meggie
3.2.3 Staubfingers soziale Beziehungen
3.2.4 Staubfingers Ängste
3.2.5 Die Schlussszene
3.3 Die Hauptrollen in Buch und Film im Vergleich
3.3.1 Definition einer Hauptrolle
3.3.2 Die Hauptrolle im Buch
3.3.3 Die Hauptrolle im Film
4 Fazit
5 Anhang
5.1 Bibliografie
Die Verfilmung von Literaturbestsellern ist ein wichtiges Standbein der Filmindustrie mit dem Ziel, an den Erfolg des Schriftstückes anzuknüpfen.
Doch wer kennt dieses Phänomen nicht? Gerade die Verfilmung der Bücher, die den Leser besonders begeistert haben, enttäuschen häufig. Dabei ist die Problematik bekannt.
„Eine Literaturverfilmung gewinnt durch bildliche Erzählebene, verliert aber nicht selten an Inhalt und Tiefe, weil auch mehr als die typischen 90 Film-Minuten nicht ausreichen.“1
Dem Medium Film stehen andere Mittel zur Verfügung als dem Buch, um die Handlung effektvoll zu inszenieren und auch um die Figuren und ihre Charaktere zum Leben zu erwecken.
„Im Gegensatz zu schriftliterarischen Texten sind Figuren im Film visuell und auditiv präsent […]. Außer durch ihr Erscheinungsbild und ihre Stimme werden sie durch ihre sprachlichen Äußerungen und durch ihr Verhalten charakterisiert. Diese Faktoren entscheiden – zusammen mit der Funktion der Figuren im Rahmen der Narration – über eine Identifikation oder Nichtidentifikation durch den Zuschauer.“2
Der Film kann zudem die Romanfiguren auch noch durch technische Mittel in ein anderes Licht rücken. In diesem Zusammenhang ist es eine interessante Fragestellung, wie sich solch eine Veränderung der Darstellung einer Figur von Buch zu Film im Detail vollzieht. Kann es dabei sogar zu einem Wechsel der Hauptrollen kommen?
Die vorliegende Seminararbeit untersucht genau diese Fragestellung am Beispiel der Figur Staubfinger im Fantasy-Märchen Tintenherz von Cornelia Funke. Dieses überaus erfolgreiche Werk wurde vom Hollywood-Regisseur Iain Softley verfilmt. Gerade bei einem Jugendbuch spielt die Identifikationsmöglichkeit der Leser mit den Protagonisten eine besondere Rolle. Zum Vergleich der Figur Staubfinger in Buch und Film findet sich insgesamt bislang wenig zitierfähige Sekundärliteratur, sodass sich in dieser Frage viel Spielraum für eine genauere Betrachtung bietet.
Diese Arbeit vergleicht im Folgenden die literarische und die filmische Darstellung von Staubfinger, seinem Charakter und seiner Handlungsweise und die damit erzielte Wirkung bei Leser und Zuschauer. Auch die Darstellung der Figur Meggie in Buch und Film wird betrachtet und die Bedeutung ihrer Rolle vergleichend mit der Staubfingers bewertet. Dabei bezieht sich die Arbeit ausschließlich auf den Vergleich dieser beiden Figuren und auf den ersten Band Tintenherz der Bücherreihe von Cornelia Funke als Literaturvorlage. Abschließend soll die Frage beantwortet werden, ob von Buch zu Film sogar ein Tausch der Hauptrolle stattgefunden hat.
Cornelia Funke, geboren am 10. Dezember 1958 in Dorsten, Nordrhein-Westfalen, ist die erfolgreichste Jugendbuchautorin Deutschlands , „die international mit ihrem Roman Herr der Diebe (2000) bekannt wurde und danach die sehr erfolgreiche Tintenwelt – Trilogie (2003-2007) schrieb.“3 Tintenherz, der erste Band dieser Trilogie, ist erstmals 2003 im Cecilie Dressler Verlag erschienen und wurde insgesamt über 5 Millionen Mal verkauft.4 Mittlerweile zählt Cornelia Funke zu den meistgelesenen Kinderbuchautoren weltweit.
Der Kinder- und Jugendroman handelt von Meggie, einem 12-jährigen Mädchen, das allein mit ihrem Vater Mo, einem Buchbinder, zusammenlebt. Sie weiß, dass ihre Mutter schon vor langer Zeit verschwunden ist, wird aber im Glauben gelassen, sie befände sich auf einer Weltreise. Eines Nachts taucht ein für Meggie unbekannter Mann namens Staubfinger auf. Er und Mo scheinen sich zu kennen, denn Staubfinger warnt ihn vor einem Mann namens Capricorn. Zu dritt machen sie sich auf den Weg zu Meggies Großtante Elinor, die die Leidenschaft für Bücher und das Lesen mit Meggie und Mo teilt. Sie besitzt eine wertvolle Bibliothek, in der Mo ein Buch namens Tintenherz verstecken möchte. Banditen, die Capricorn dienen, brechen in Elinors Haus ein, um dieses Buch zu stehlen, und entführen Mo. Sie entwenden jedoch das falsche Buch. Meggie, Elinor und Staubfinger reisen ihnen in das Hauptquartier Capricorns nach, um Mo gegen das richtige Buch einzutauschen. Dort angekommen wird ihnen klar, dass es Staubfinger gewesen ist, der sie an Capricorn verraten hat. Meggie und Elinor geraten ebenfalls in Gefangenschaft. Jetzt offenbart Mo ihnen, dass er über die Fähigkeit verfügt, Charaktere aus Büchern zum Leben zu erwecken, wodurch andere Menschen hingegen in Bücher hineingelesen werden. Man nennt ihn deswegen Zauberzunge. Zum ersten Mal erfährt Meggie, dass ihre Mutter vor neun Jahren auf diese Weise verschwunden ist, als Mo sie in das Buch Tintenherz hineinlas. Dafür kamen Capricorn, Staubfinger und Basta, Capricorns Komplize, in die reale Welt.
„Staubfinger sehnt sich nach seiner Geschichtenwelt, wo er mit dem Feuer sprechen und es kontrollieren kann, doch Capricorn fühlt sich in der realen Welt wohl“5
Daher hat Capricorn alle Exemplare von Tintenherz vernichtet, um seine Existenz zu sichern. Dieser möchte nun von Mos Gabe Gebrauch machen, damit er die boshafte Kreatur, „den Schatten“, aus der letzten Ausgabe von Tintenherz herausliest. Als Staubfinger begreift, dass Capricorn sein Versprechen nicht einhält, ihn als Gegenleistung für die Auslieferung von Zauberzunge wieder zurück in das Buch lesen zu lassen, verhilft er Meggie, Elinor und Mo zur Flucht. Auf der Suche nach einer übriggebliebenen Ausgabe von Tintenherz, wenden sie sich an Fenoglio, den in der Nähe lebenden Autor von Tintenherz. Basta und weitere Männer Capricorns spüren sie dort auf und verschleppen Meggie und Fenoglio. Auch Mo und Elinor reisen zurück in Capricorns Dorf, um die beiden zu befreien. Im Dorf trifft Meggie erstmals ihre Mutter, die schon lange in Gefangenschaft als Capricorns Magd lebt. Sie wurde von Darius, einer stotternden Zauberzunge, aus Tintenherz stumm herausgelesen. Meggie stellt fest, dass sie die gleiche Gabe wie ihr Vater hat und ebenfalls eine Zauberzunge ist. Sie soll nun anstelle von Mo den Schatten für Capricorn herauslesen. Dieser plant eine große Hinrichtungszeremonie seiner Gefangenen. Fenoglio schreibt daraufhin heimlich ein neues Ende von Tintenherz. Dieses liest sie anstelle des Originaltextes vor, woraufhin Capricorn und einige seiner Komplizen zu Asche zerfallen, Fenoglio dafür aber in seinem Buch verschwindet. Meggie ist mit ihren Eltern glücklich wiedervereint und sie beschließen, bei Elinor zu leben. Staubfinger bleibt traurig zurück und macht sich gemeinsam mit Farid, einem ebenfalls von Mo aus dem Werk 1001 Nacht herausgelesenen Jugendlichen, mit der heimlich entwendeten letzten Ausgabe von Tintenherz auf die Suche nach einer neuen Zauberzunge.
Die Verfilmung des Romans erschien erstmalig am 11.12.2008 mit dem Originaltitel Inkheart in den Kinos. Die Länge des Films beträgt 106 Minuten mit Paul Bettany als Staubfinger, Eliza Bennett als Meggie und Brendan Fraser als Mortimer in den Hauptrollen. Das FSK6 liegt bei 12 Jahren, Verleih durch Warner Bros. GmbH. Cornelia Funke selbst ist eine der Produzentinnen des Films und hatte dadurch die Möglichkeit die filmische Interpretation ihres Werkes mitzugestalten. Thematik und Handlung der Verfilmung entsprechen im Wesentlichen dem Roman. Die Geschehensabläufe weichen jedoch teilweise erheblich ab und werden häufig gekürzt. Die für die Darstellung der Hauptfiguren relevanten Änderungen und die Wirkung, die damit beim Zuschauer erzielt wird, werden im Folgenden detailliert betrachtet.
Meggie ist ein zwölfjähriges blondes Mädchen, das sich in besonderem Maße durch ihre Bücherliebe auszeichnet. Diese Liebe teilt sie mit ihrem Vater Mo, zu dem sie ein sehr inniges Verhältnis hat: „Es gab kein Gesicht auf der Welt, das sie mehr liebte.“ (S. 19)7 Sie ist äußerst intelligent und wissbegierig, feinfühlig und fürsorglich im Umgang mit anderen. Im Kampf gegen Capricorns Gefolgschaft zeigt sie sich oft mutig und eigensinnig. Wie auch ihr Vater besitzt sie die besondere Fähigkeit, eine Zauberzunge zu sein.
Beim Vergleich der Romanfigur mit Meggies Rolle in der Verfilmung fällt auf, dass sie im Film von der damals 16-jährigen Eliza Bennet dargestellt wird und dadurch bereits deutlich älter und reifer erscheint als die Zwölfjährige im Buch8. Die Tatsache, dass sie ohne Mutter aufwächst, verarbeitet sie im Roman anders als im Film. „Und solange Mo da war, hatte sie eine Mutter auch nie sonderlich vermisst.“ (S. 92) Aufwachsen ohne Mutter kennt sie auch aus ihren Büchern: „Es schien nicht sonderlich ungewöhnlich zu sein, keine Mutter zu haben – zumindest nicht in ihren Lieblingsgeschichten“ (S. 308). Sie ist sogar „eifersüchtig auf die eigene Mutter“ (S. 308), als Mo ihr gesteht, wie sehr er seine Frau vermisst. Im Film reagiert Meggie äußerst empfindlich und verletzlich, als Elinor das Verschwinden ihrer Mutter kommentiert.
Was die Beziehung zu ihren Kontaktpersonen betrifft, durchlebt Meggie eine deutliche Entwicklung. So mag sie anfangs weder Elinor noch Staubfinger. Am Ende des Buches dagegen empfindet sie sogar Elinors Haus als ihr Zuhause (vgl. S. 564). Und auch zu Staubfinger, den sie nach seinem Verrat zutiefst verachtet (Vgl. S. 144), entwickelt sie Empathie, die besonders deutlich wird, als Fenoglio Staubfingers Tod vorhersagt: „Armer Staubfinger, dachte sie. Armer, armer Staubfinger.“ (S. 280) Im Film zeichnet sich Meggie an vielen Stellen durch Klugheit und Scharfsinn aus. So ist es, anderes als im Buch, ihre Idee, eine Ausgabe von Tintenherz bei dem Autor Fenoglio zu suchen, und sie ist es auch, die Fenoglio für die gemeinsame Sache gewinnt. Im Buch beeindruckt den Leser immer wieder ihr Mut. Sie will sich zum Beispiel allein auf die Suche nach dem entführten Mo machen oder in Capricorns Gefangenschaft auf eigene Faust fliehen.
Generell sind ihre Charakterisierung in Buch und Film und die erzeugte Wirkung beim Publikum aber sehr ähnlich. Sie ist durchwegs sympathisch und zählt zu den Guten. Der größte Unterschied in der Darstellung zeigt sich in der Szene, in der sie den Schatten hervorliest. Im Buch bringt sie es nicht über ihr Herz, Capricorn mit dem von Fenoglio umgeschriebenen Ende zu töten. Mo muss ihr zu Hilfe eilen, um zu vollenden, was sie begonnen hat. Im Film wird ihre Rolle ganz besonders in Szene gesetzt, indem sie gleichzeitig das Ende auf ihrem Arm neu schreibt und es mit tragender Stimme erhaben vorliest. (Vgl. 01:25:00)9 Meggie erscheint damit „im Film noch stärker als im Roman als Heldin und Retterin.“10 Hier schließt sich auch der Kreis zu ihrer im Film sehr früh geäußerten Absicht, Schriftstellerin zu werden, während sie im Roman erst ganz zum Schluss ihren Wunsch äußert: „Sie wollte lernen Geschichten zu spinnen“ (S. 566). Denn „wie Mo schon gesagt hatte: Mit Zauberei hat das Geschichteschreiben eben auch zu tun“ (S. 566) – und auch mit Magie, an die bereits der Klang ihres Namens, Meggie, erinnert.11
Staubfinger ist ein Gaukler und Feuerspucker, der neun Jahre vor dem Zeitpunkt der Handlung von Mo aus dem Werk Tintenherz herausgelesen wurde, sich aber in seiner neuen Welt nicht zurechtfindet und sein ganzes Handeln und Bestreben darauf ausrichtet, wieder in die ihm vertraute Tintenwelt, seine Heimat, zurückgelesen zu werden.
Bereits in dem nach ihm benannten ersten Kapitel des Romans „Ein Fremder in der Nacht“ tritt Staubfinger in Erscheinung.
„[Sein Haar] reichte ihm fast bis zur Schulter […] Die Bartstoppeln um den schmallippigen Mund waren rötlich wie das Fell einer streunenden Katze […] Auch auf seinen Backen sprossen sie, spärlich wie der Bart eines jungen Mannes. Die Narben konnten sie nicht verdecken, drei lange blasse Narben. Sie ließen Staubfingers Gesicht aussehen, als wäre es irgendwann zerbrochen und wieder zusammengesetzt worden.“ (S. 14)
Das Alter Staubfingers wird im gesamten Werk nicht genau benannt. Die Autorin Cornelia Funke gibt ihn im Rahmen eines Twitter Posts als „etwa 37 Jahre“12 an. Auf die Bedeutung und Herkunft seines Namens werden keine Hinweise gegeben. Dass es sich um keinen geläufigen Vornamen handelt, unterstreicht jedoch die Fremdheit der Figur in der Realität des Handlungsgeschehens.
Der erste Eindruck, den der Leser von Staubfinger im Roman erhält, wird vermittelt durch die Erzählperspektive aus Meggies Sicht. Dabei dominiert das Merkmal der Fremdartigkeit - der Fremde in der Nacht, der durchnässt im Regen steht. Ihr Vergleich mit einer streunenden Katze, der sie ein Schälchen Milch vor die Tür stellt (S. 14) lässt Staubfinger einerseits einsam und verlassen, heimatlos und sogar hilfsbedürftig, aber auch unnahbar und bereits unberechenbar erscheinen. Ihre angstvolle Ahnung, „dass mit diesem Fremden […] etwas Bedrohliches in ihr Leben geschlüpft war“ (S. 15), ja sogar ein „drohendes Unheil“ (S. 16), ihr frühes Bekenntnis „Ich kann ihn nicht leiden“ (S. 15) erzeugt auch beim Leser ein Gefühl der Skepsis und sogar Antipathie.
Ganz anders stellt sich der erste szenische Auftritt von Staubfinger im Film dar. Hier erscheint Staubfinger nicht heimlich im Dunkel der Nacht, sondern offen bei Tage unter Menschen auf einem belebten Platz. Seine äußere Erscheinung ist mit rötlichen, schulterlangen Haaren, Bartstoppeln, den Gesichtsnarben und dem langen Mantel durchaus der Literaturvorlage entsprechend.13 Dennoch ist auffällig, dass Staubfinger im Buch nicht mit Attributen der Attraktivität und Maskulinität beschrieben wird. Mit dem Schauspieler Paul Bettany ist dagegen eine Besetzung der Rolle gewählt, die optisch auf den Zuschauer sehr ansprechend wirkt und Staubfinger durchaus männlich attraktiv darstellt. Am deutlichsten kommt dies zum Tragen in der späteren Szene auf der italienischen Piazza, in der Staubfinger mit freiem Oberkörper Feuerkünste vorführt (0:50:38). Neben imposanter Feuerakrobatik mit entsprechenden Lichteffekten wird gleichzeitig auch das Muskelspiel des Oberkörpers durch die Kameraführung hervorgehoben. Insbesondere die Nahaufnahme von Staubfingers Gesicht, beleuchtet vom Feuer, erzeugt eine Atmosphäre der Leidenschaft. Die Wirkung auf den Leser spiegelt sich wider in der der Zuschauer auf dem Platz - strahlende, beeindruckte Gesichter, Passanten, die den Kopf drehen, applaudierendes Publikum. Der stärkste Affekt zeigt sich im Gesicht des Schriftstellers Fenoglio, der mit aufgerissenen Augen Begeisterung über die Verkörperung der von ihm erschaffenen Figur zeigt. Atmosphärisch untermalt wird diese besondere Szene durch plötzlich einsetzende monumentale Filmmusik mit Pauken und Streichern, die einen glorifizierenden Effekt vermittelt.14
Viel mehr als in der Wirkung seiner äußeren Erscheinung unterscheidet sich Staubfinger im Film im Hinblick auf sein Verhalten. Eine Schlüsselstelle stellt der Verrat an Meggie und Mo dar, indem Staubfinger Capricorn über den Verbleib des Exemplars von Tintenherz in Elinors Haus informiert hat. Der Einbruch von Capricorns Männern wird im Buch von Staubfinger perfide vorbereitet, indem zum Beispiel die Alarmanlage für eine vermeintliche Feuervorführung für Meggie ausgeschaltet wird. Auch die Tatsache, dass er, anders als im Film, zu diesem Zeitpunkt als Gast in Elinors Haus wohnt, erschwert im Empfinden des Lesers den Verrat. Nach der Entführung Mos versteckt er sich „hinter dem Stamm einer Kastanie“ (S.84), verschluckt von der Nacht „wie ein räuberischer Fuchs“ (S.85). Auch wenn er sich für seine Tat schämt, hilft er Meggie nicht, tröstet sie nicht. Das Bild von Staubfinger als Verräter im Verborgenen erzeugt beim Leser einen Eindruck von Feigheit, Verschlagenheit und Hinterhältigkeit. Sein schlechtes Gewissen dabei erscheint in diesem Zusammenhang allenfalls als Zeichen für seine widersprüchliche Persönlichkeit.
Im Film dagegen zeichnet sich Staubfinger durch mehr Offenheit aus. Anstelle eines Täuschungsmanövers erscheint er in der offenen Fenstertür und erklärt seinen Verrat Mo gegenüber aufrichtig und vorwarnend: „Ich habe dir jede Möglichkeit gegeben, mir zu helfen, aber du hast dich geweigert“ (0:17:25). Und mehr noch – als Basta Mo mit einem Messer bedrängt und droht, auf Meggie loszugehen, schreitet Staubfinger protektiv ein: „Niemand wird verletzt, hatten wir das nicht vereinbart?“ Dabei setzt er sogar Flammen als seine persönliche Waffe ein (0:19:12)15. Er grenzt sich damit deutlich von den Bösen ab. Der Zuschauer nimmt in dieser Szene stärker den Beschützer als den Verräter wahr, sodass im Film ein deutlich positiveres und mutigeres Bild von Staubfinger vermittelt wird. Auch seine emotionale Seite zeigt Staubfinger dem Zuschauer durch Taten, als er Meggies Buch, eine Erinnerung an ihre Mutter, aus dem Scheiterhaufen der in Brand gesteckten Bücher für Meggie rettet, als wolle er sie um Verzeihung bitten.
Die Sympathie, die Staubfinger auch ihm Buch Meggie gegenüber empfindet, wirkt auf den Leser eher irritierend, da sie nicht seinem Verhalten entspricht: „Seltsam, wenn das Mädchen ihn ansah, verspürte er jedes Mal den Wunsch, ihr zu beweisen, dass er das Misstrauen in ihren Augen nicht verdiente.“ (S. 109) Er schleicht sich sogar, nachdem er die abgeschlossene Tür aufgebrochen hat, heimlich in das Zimmer des schlafenden Mädchens, um das Buch Tintenherz zu suchen. „Die Zuneigung, die er für Zauberzunges Tochter empfand, war da schon ein ernsthafteres Hindernis“ (S. 109) beim Verfolgen seiner eigenen Interessen.
Dieses Beispiel verdeutlicht das wiederkehrende Element der Widersprüchlichkeit von Staubfingers Charakter im Buch: Verrat auf der einen Seite, Befreiung seiner Mitstreiter aus der Geiselhaft in Capricorns Dorf auf der anderen Seite, Anschluss an die Gruppe auf der einen Seite, Einzelaktionen und Flucht auf der anderen. Der Leser wird häufig im Unklaren gelassen, ob Staubfinger zu den Guten oder zu den Bösen zählt. „Im Kampf zwischen Gut und Böse sympathisiert er zwar mit den Guten, sein Handeln aber wird vor allem von Eigennutz bestimmt.“16 Was konkret diesen Eigennutz antreibt, worin also Staubfingers Motivation in seinem Handeln liegt, wird im Buch erst sehr viel später deutlich als im Film. Hier bittet er bereits in der ersten Szene, in der er zu sehen ist: „Schick mich nach Hause, Zauberzunge, lies mir vor!“ (0:07:36) Der Zuschauer, der im Gegensatz zum Buch von Anfang an von Mos besonderer Fähigkeit weiß, Menschen und Dinge aus Büchern herauszulesen, versteht damit Staubfingers sehnlichsten Wunsch und erkennt sogar den Zusammenhang zu dem Buch Tintenherz, welches Mo seit langer Zeit sucht. Zu diesem Zweck wird unmittelbar vor Staubfingers erstem Auftreten die Zeichnung von ihm als Feuerschlucker im Buch gezeigt.
Aus diesem Verständnis heraus hat der Zuschauer einen anderen Zugang zu Staubfinger und kann sich leichter identifizieren und mit der Figur sympathisieren als im Buch.
Auch wenn Staubfinger die Rolle eines verschlossenen Außenseiters und unglücklichen Einzelgängers einnimmt, zeigen sich sowohl im Buch als auch im Film enge soziale Beziehungen. Zunächst ist der gehörnte Mader Gwin zu erwähnen, ein irreales ungezähmtes Tierwesen, das genau wie er aus Tintenherz herausgelesen wurde, von Staubfinger versorgt und gefüttert und in dessen Rucksack getragen wird und das immer wieder zu ihm zurückkehrt.
Im Film zählt Gwin neben dem Feuer zu den Attributen von Staubfinger. Er kündigt wiederholt sein Erscheinen an, indem die Kameraführung erst den Marder zeigt. Bei der ersten Flucht aus Capricorns Dorf lässt Staubfinger den Wagen anhalten, um Gwin zu retten, fährt also nicht ohne ihn weg (0:45:34). In einer späteren Szene kommuniziert er mit dem Marder, der ihm mit Lauten Farids Versteck im Kofferraum von Fenoglios Wagen auf dem Weg in Capricorns Dorf verrät. Mos amüsierter Kommentar „Du kannst ja wieselisch“ verstärkt den Eindruck von Staubfinger als einem feinsinnigen, einfühlsamen Charakter, der unzähmbare Wesen zähmt (01:01:14).
Eine besondere Beziehung sowohl zu Gwin als auch zu Staubfinger entwickelt Farid, ein orientalischer Junge, der im Laufe des Geschehens aus 1001 Nacht in Capricorns Dorf herausgelesen und bei der anschließenden Flucht mitgenommen wird. Er wählt sowohl im Buch als auch im Film Staubfinger als seine Bezugsperson aus und will von ihm die Kunst der Feuerakrobatik erlernen. „Ich folge dir doch wieder“, entgegnet Farid im Film auf Staubfingers Bemerkung „Ich sollte dich zurückschicken.“ (01:01:50)
Im Buch wird auch die Beziehung zwischen Staubfinger und Farid zwiespältig dargestellt. Er mag ihn zweifellos sehr. Auch sein Interesse und seine Fortschritte im Umgang mit Feuer scheinen Staubfinger mit Stolz zu erfüllen. Und dennoch ist Staubfinger im Buch der Unnahbare, der Nähe schwer erträgt, der versucht, alles von sich fernzuhalten, was ihn in seiner neuen, ihm verhassten Wirklichkeit binden könnte. „Und sooft Staubfinger auch zur Seite rückte – wenn er aufwachte, lag der Junge immer dicht neben ihm“ (S. 355). „Es wurde Zeit, den Jungen wieder loszuwerden. […] Nach einem Hund konnte man ein paar Steine werfen, aber nach einem Jungen…“ (S.339). Staubfinger zeigt sich dem Leser sogar missgünstig, dass Farid sich im Gegensatz zu ihm besser in seiner neuen Welt zurechtfindet: „Hatte ihn das Glück auf dem Gesicht des Jungen gestört?“ (S. 289).
Dieses Auf-Distanz-Halten wird im Film weniger deutlich. Auch wenn Staubfinger nicht imstande ist, die Geste einer engen körperlichen Umarmung von Farid zu erwidern (Vgl. 01:17:00), so zeigt er sich dennoch immer wieder fürsorglich und väterlich. Als Mo Fenoglio bittet, auf Meggie aufzupassen, ergänzt Staubfinger „und auf Farid.“ (0:56:50).
Dass sich hinter Staubfingers abweisender Art auch im Buch Zuneigung und Fürsorge verbergen, wird in der Schlussszene deutlich. Er schickt Farid weg mit den Worten „Zu mir gehörst du auch nicht.“ (S. 558) Aber gerade weil Staubfinger nicht bleiben will und auch weiterhin bemüht ist, sich in die Tintenwelt zurücklesen zu lassen, sorgt er sich im Grunde um Farid: „Was fängst du dann an? Dann bist du allein.“ (S. 558)
[...]
1 https://magazin.audible.de/buchverfilmungen/ (Stand 1.10.22)
2 Staiger Michael: Literaturverfilmungen im Deutschunterricht, S. 29
3 https://geboren.am/person/cornelia-funke (Stand 4.09.22)
4 Siehe Anhang 1
5 https://buchhexe.com/buch/tintenherz (Stand 21.09.22)
6 Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft
7 Alle Seitenangaben beziehen sich auf: Funke, Cornelia: Tintenherz
8 Siehe Anhang 2
9 Alle Zeitangaben beziehen sich auf: Softley Iain (2008): Tintenherz (Originaltitel Inkheart), Vereinigte Staaten, Deutschland, Italien, Vereinigtes Königreich: New Line Cinema, Warner Studios
10 Volk, Stefan: Filmanalyse 2. EinFach Deutsch – Unterrichtsmodelle, S.42
11 Vgl. Volk, Stefan: Filmanalyse 2. EinFach Deutsch – Unterrichtsmodelle, S. 46
12 https://twitter.com/CorneliaFunke/status/753775771160682496
13 Siehe Anhang 3
14 Siehe Anhang 4
15 Siehe Anhang 5
16 Volk Stefan: Filmanalyse 2. EinFach Deutsch – Unterrichtsmodelle, S. 47