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Ausarbeitung, 2021
7 Seiten, Note: 1
Die Organisation der Vereinten Nationen geht davon aus, dass weltweit rund 133 bis 275 Millionen Kinder häusliche Gewalt miterleben (vgl. UNO 2006: 14). Auch in der Schweiz ist häusliche Gewalt ein Thema, besonders kleinere Kinder gehören zu den Opfern: Studien weisen darauf hin, dass ca. 40% aller ein- bis vierjährigen Kindern in der Schweiz ein Mal pro Woche auf irgendeine Weise körperlich bestraft werden. Dies sind erschreckend hohe Zahlen, wenn bedacht wird, welch langfristigen Auswirkungen Gewalterfahrungen in der Kindheit haben können (vgl. Schöbi/Perrez 2004: 16, 24).
In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff Gewalterfahrung gleichgesetzt mit der Definition von „Gewalt im sozialen Nahraum“ nach Godenzi (1996: 27). Im Folgenden wird auf diese Definition zurückgegriffen, da weder in der Öffentlichkeit noch in der Wissenschaft eine allgemein-gültige Definition von häuslicher Gewalt besteht. Godenzi definiert Gewalt im sozialen Nahraum als „schädigende interpersonale Verhaltensweisen, intendiert oder ausgeübt in sozialen Situationen, die bezüglich der beteiligten Individuen durch Intimität und Verhäuslichung gekennzeichnet sind“ (ebd.: 27). Diese Definition eignet sich, da sie sich nicht auf die soziale Organisationsform der Familie beschränkt, sondern mit dem Begriff „Nahraum“ auch Gewalterlebnisse in anderen Settings umfasst. Ausserdem wird die Beziehung der Beteiligten charakterisiert, aber nicht eingeschränkt durch Bestimmungen wie Blutsverwandtschaft oder Zivilstand (vgl. ebd.: 27f.).
Gewalt kann unterschiedlich ausgeübt werden. Grundsätzlich werden vier verschiedene Typen von Gewalt unterschieden: Physische Gewalt, psychische Misshandlung, Vernachlässigung und sexueller Missbrauch, wobei Vernachlässigung die häufigste Gewaltform darstellt. Meistens treten mehrere dieser Gewaltformen als Mischform auf (vgl. Cierpka 2012: 312–314). Wenn im Folgenden von Gewalterfahrungen oder -erlebnissen die Rede ist, sind alle vier Gewaltformen sowie auch deren Mischformen gemeint.
Wird der Begriff Kindheit verwendet, bezeichnet dies nach der Definition des Lexikons der Sozialpädagogik und Sozialarbeit den Abschnitt der menschlichen Entwicklung von der Geburt bis zum 14. Lebensjahr (vgl. Stimmer 2000: 375f.). Gerade in dieser Zeit stellen Gewalterfahrungen ein grosses Risiko für die kindliche Entwicklung dar, da das Gehirn zu Beginn des Lebens die grösste Plastizität aufweist (vgl. Cierpka 2012: 312).
Die Risiken, die mit Gewalterfahrungen einhergehen, bestehen auch, wenn das Kind selbst nicht direktes Opfer der Gewalt wird, sondern diese nur miterlebt (vgl. Rudolph 2007: 25). Neuere Studien gehen davon aus, dass „die Intensität des Aufwachsens im Kontext von häuslicher Gewalt vergleichbar ist mit Kindesmisshandlung“ (Struck 2007: 445). Mittlerweile hat auch das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) anerkannt, dass Kinder, die Zeugen und Zeuginnen von häuslicher Gewalt werden, ebenfalls mitbetroffen sind, auch wenn sie selbst keiner direkten Gewalt ausgesetzt sind (vgl. EBG 2020: 3f.).
Solche Forschungserkentnisse über die Mitbetroffenheit von Kindern aus gewaltbelasteten Familien sind neu, denn dieses Thema wird erst seit wenigen Jahren systematisch erfasst. Es liegen nur geringe statistische Daten vor, da die Mitbetroffenheit bis anhin mehrheitlich unterschätzt und deshalb ausser Acht gelassen wurde. Abgesehen davon ist es allgemein schwierig, an aussagekräftige Daten zu kommen. Gewalterlebnisse im sozialen Nahraum sind ein Dunkelfeldphänomen, was daran liegt, dass sie oftmals sozial unsichtbar sind (vgl. EBG 2020b: 3). Gerade kleinere Kinder und ihre Familien, die wie schon erwähnt überdurchschnittlich häufig von Gewalt belastet sind, sind oftmals noch nicht in externe Strukturen oder Hilfsangebote eingebunden, die diese Gewalt melden könnten (vgl. Stiftung Kinderschutz Schweiz 2013: 8). Ausserdem besteht die verbreitete Ansicht, dass Vorfälle im familiären Umfeld Privatangelegenheit sind, in die sich niemand einzumischen hat. Dazu kommt noch das gesellschaftliche Tabu, das das Reden über Gewalttaten in der Familie verbietet (vgl. Bussmann 2007: 637–639). Zuletzt gibt es in der Schweiz auch kein institutionalisiertes Erfassungssystem, das Daten zu häuslicher Gewalt in der Schweiz sammelt (vgl. EBG 2020b: 3).
Trotz mangelnder Daten ist dieses Thema wichtig, da die Schweiz sich im Rahmen des Übereinkommens über die Rechte der Kinder vom 20. November 1989 (SR 0.107) zum Schutz der Kinder verpflichtet hat. Diese Konvention umfasst Versorgungs-, Schutz-, und Partizipationsrechte der Kinder und wurde von der Schweiz 1997 ratifiziert. In diesem Zusammenhang besonders erwähnenswert ist Artikel 19 dieser Konvention, welcher den Schutz der Kinder vor „jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschliesslich des sexuellen Missbrauchs“ benennt (ebd. Art.19). Auch in Artikel 11 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (SR 101) ist der besondere Schutz von Kinder und Jugendlichen verankert.
Die rechtlichen Grundlagen unterstreichen die Wichtigkeit des Schutzes der Kinder. Ist dieser nicht gewährleistet und kommt es zu Gewalterlebnissen in der Kindheit, kann dies langfristige Folgen haben und ein grosses Risiko für die Entwicklung der Betroffenen darstellen. Es kann zu Einschränkungen und Entwicklungsdefiziten kommen, da die seelische und körperliche Gesundheit unter den Erlebnissen leidet. Dementsprechend werden auch die Lebensqualität und der Schulerfolg beeinträchtigt (vgl. Egle/Cierpka 2006: 373–378). Die betroffenen Kinder fühlen sich oft schutzlos und ausgeliefert, gleichzeitig aber vielfach auch mitverantwortlich für die Gewalt und leiden unter Versagensängsten. Dies liegt daran, dass oftmals die Kindererziehung Auslöser von häuslicher Gewalt ist (vgl. Kavemann 2003: 6). Die gesamte Entwicklung der Persönlichkeit kann durch Gewalterlebnisse gestört werden (vgl. Ostbomk-Fischer 2003: 12). Verschiedene Autoren haben ausserdem darauf hingewiesen, dass Kinder ebenfalls Opfer der Gewalt werden können, auch wenn sich diese primär nicht gegen sie wendet. So kann beispielsweise ein Kind versuchen, die Gewalt zu stoppen, indem es in einen Konflikt eingreift, und sich dabei Verletzungen zuziehen (vgl. Rudolph 2007: 25). Auch kann es geschehen, dass das erwachsene Gewaltopfer seine/ihre Frustration dem Kind gegenüber auslässt und gewalttätig wird (vgl. Strasser 2001: 112–114).
Schliesslich beeinträchtigen Gewalterlebnisse in der Kindheit auch die Beziehungsgestaltung der Kinder massiv (vgl. Ostbomk-Fischer 2003: 13). Betroffene zeigen eine tief greifende Störung der emotionalen Sicherheit. Nach Studien wird der Anteil unsicherer Bindungen bei misshandelten Kindern auf 70-100% geschätzt. Solche Kinder zeigen aggressives oder autoaggressives Verhalten und provozieren oft ihre Bezugsperson, um deren Aufmerksamkeit und Schutz zu gewinnen. Bereits bei geringer Frustration kann es bei solchen Kindern zu Wutanfällen kommen (vgl. Cierpka 2012: 315f.). Je nach Art, Intensität, Häufigkeit und Dauer der Gewalterfahrung kann es auch zu einer posttraumatischen Reaktion oder Belastungsstörung kommen (vgl. Heynen 2003: 10).
Erlebt ein Kind Gewalt, kann es unter Umständen zum Entzug der elterlichen Sorge kommen (EBG 2015: 5). Wird das Kind nicht anderswo fremdplatziert, kommt es mit den beschriebenen Folgeerscheinungen zu Professionellen der Sozialen Arbeit in eine stationäre Kinderhilfe (vgl. KESB https://www.kesb.sg.ch/kes-recht/kindesschutz). Vor diesem Hintergrund stellt sich folgende Frage, die Ausgangslage für die vorliegende Arbeit ist:
Welche psychischen Auswirkungen haben Gewalterfahrungen in der Kindheit und mit welchen Methoden können Professionelle der Sozialen Arbeit in der stationären Kinder- und Jugendhilfe bei der Bewältigung ihrer Auswirkungen unterstützend wirken?
Übereinkommen über die Rechte der Kinder vom 20. November 1989 (SR 0.107). URL: https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19983207/index.html [Zugriffsdatum: 13. Januar 2021].
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (SR 101). URL: https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19995395/index.html [Zugriffsdatum: 13. Januar 2021].
Bussmann, Kai-Detlef (2007). Gewalt in der Familie. In: Ecarius, Jutta (Hrsg.), Handbuch Familie. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. S. 637–652.
Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) 2020b. Zahlen zu häuslicher Gewalt in der Schweiz. URL: https://www.ebg.admin.ch/dam/ebg/de/dokumente/haeusliche_gewalt/infoblaetter/a4.pdf.download.pdf/a4_zahlen-zu-haeuslicher-gewalt-in-der-schweiz.pdf [Zugriffsdatum: 13. Januar 2021].
Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) 2020. Häusliche Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. URL: https://www.ebg.admin.ch/dam/ebg/de/dokumente/haeusliche_gewalt/infoblaetter/b3.pdf.download.pdf/b3_haeusliche-gewalt-gegen-kinder-und-jugendliche.pdf [Zugriffsdatum: 13. Januar 2021].
Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) 2015. Elterliche Sorge, Besuchsrecht und Häusliche Gewalt. URL: https://www.ebg.admin.ch/dam/ebg/de/dokumente/haeusliche_gewalt/20-Gutachten_Prof._Dr._Andrea_Bchler_Elterliche_Sorge_und_Husliche_Gewalt_2015.pdf.download.pdf/20-Gutachten_Prof._Dr._Andrea_Bchler_Elterliche_Sorge_und_Husliche_Gewalt_2015.pdf#page3 [Zugriffsdatum: 13. Januar 2021].
Egle, Ulrich/Cierpka, Manfred (2006) Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung. In: Lohaus, Arnold/Jerusalem Matthias/ Klein-Hessling, Johannes (Hrsg.) Gesundheitsförderung im Kindes- und Jugendalter. Göttingen: Hogrefe. S 370–400.
Heynen, Susanne (2003). Häusliche Gewalt: direkte und indirekte Auswirkungen auf die Kinder. URL: https://docplayer.org/51160-Haeusliche-gewalt-direkte-und-indirekte-auswirkungen-auf-die-kinder-susanne-heynen-1-stand-november-2003.html [Zugriffsdatum: 13. Januar 2021].
Ostbom-Fischer, Elke (2003). Das Kindeswohl im Ernstfall. Auswirkungen Häuslicher Gewalt auf die psychosoziale Entwicklung von Kindern. URL: https://www.autonome-frauenhaeuser-zif.de/pdf/themen/th_01_osbomk_0704.pdf [Zugriffsdatum: 13. Januar 2021].
Stiftung Kinderschutz Schweiz (2013). Früherkennung von Gewalt an kleinen Kindern. Leitfaden für Fachpersonen, die im Frühbereich begleitend, beratend und therapeutisch tätig sind. URL: https://www.kinderschutz.ch/media/wqbpard0/leitfaden_frueherkennung_gewalt_an_kleinen_kindern.pdf [Zugriffsdatum: 13. Januar 2021].
Kavemann, Barbara (2003). Kinder und häusliche Gewalt – Kinder misshandelter Mütter. URL: https://www.wibig.uni-osnabrueck.de/download/Kinder%202003.doc [Zugriffsdatum: 13. Januar 2021].
UNO (2006). World Report on Violence Against Children. URL: https://daccess-ods.un.org/TMP/2323457.89670944.html [Zugriffsdatum: 13. Januar 2021].
Unicef (2016). Factsheet: Die UN-Kinderrechtskonvention. URL: https://www.unicef.ch/de/media/508/download [Zugriffsdatum: 13. Januar 2021].
KESB Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde. Entzug Aufenthaltsbestimmungsrecht. URL: https://www.kesb.sg.ch/kes-recht/kindesschutz [Zugriffsdatum: 13. Januar 2021].
Schöbi, Dominik/Perrez, Meinrad (2004). Bestrafungsverhalten von Erziehungsberechtigten in der Schweiz. Fribourg: Universität Fribourg.
Strasser, Philomena (2001). Kinder legen Zeugnis ab. Gewalt gegen Frauen als Trauma für Kinder. Innsbruck: Studien Verlag.
Godenzi, Alberto (1996). Gewalt im sozialen Nahraum (3. erweiterte Aufl.). Basel: Helbling & Lichtenhan.
Cierpka, Manfred/Cierpka Astrid (2012). Gewalt in Familien. In: Cierpka, Manfred (Hrsg.). Frühe Kindheit 0 – 3. Beratung und Psychotherapie für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern. Berlin/Heidelberg: Springer-Verlag. S. 311–324.
Stimmer, Franz (2000). Lexikon der Sozialpädagogik und der Sozialarbeit. 4. Auflage. München/ Wien: Oldenbourg.
Rudolph, Sabrina (2007). Kinder stärken gegen häusliche Gewalt. Ansätze für Interventionen und Aufklärung in der Schule. Marburg: Tectum.
Struck, Norbert (2007). Möglichkeiten der Absicherung von Unterstützungsangeboten für Kinder und Jugendliche bei häuslicher Gewalt. In: Kavemann, Barbara/Greyssig, Ulrike. Handbuch Kinder und häusliche Gewalt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 443 – 454.
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