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Hausarbeit, 2022
26 Seiten, Note: 1,0
1. Einleitung
2. Methodische und begriffliche Grundlagen
2.1 Die Literaturtheorie des close readings – Methode
2.2 Zum Begriff des Sadismus
2.3 Zum Begriff des Masochismus
3. Sadismus und Masochismus in Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
3.1 Die Begegnung zwischen Törleß und Basini
3.2 Der Sadismus Törleß'
3.3 Der Masochismus Basinis
3.4 Der Masochismus Törleß'
4. Fazit
Literaturverzeichnis
„From the very beginning, Musil does not allow any doubt to arise that, either as one of the main themes or perhaps the main theme, his novel deals with the problem of juvenile sexuality.“1 Robert Musils thematisiert in Die Verwirrungen des Zöglings Törleß 2 das Aufwachsen der Zöglinge eines Konvikts und rückt hierbei die Pubertät und die erwachende Sexualität der Jungen in den Fokus. Vor dem Hintergrund der autoritären Gesellschaftsstrukturen bestimmt insbesondere das sadistische und masochistische Handeln einzelner Figuren die Handlung maßgeblich. Ziel dieser Untersuchung ist, diese Neigungen mithilfe der literaturwissenschaftlichen Methode des close readings herauszustellen, wobei die Figuren Törleß und Basini im Zentrum des Interesses stehen werden. Diese Figuren erwecken den Anschein, einer Neigung zuordenbar zu sein, stellen sich bei näherer Betrachtung allerdings als komplexer und doppelsinniger dar, wodurch sie für eine genaue Analyse besonders geeignet erscheinen. In der Untersuchung sollen sowohl das Verhalten beider Figuren in ihrer unmittelbaren Begegnung als auch Bezugspunkte im vorherigen und nachfolgenden Geschehen beleuchtet werden, da diese als Vorausdeutungen oder Rückblenden fungieren können und somit die Wahrnehmung der zentralen Szene beeinflussen.
Um der Literaturtheorie des close readings gerecht zu werden und eine präzise Untersuchung zu ermöglichen, erfolgt die Analyse größtenteils im Hinblick auf eine Szene – die Begegnung zwischen Törleß und Basini während der Abwesenheit der anderen Zöglinge in einer kurzen Ferienzeit. Insbesondere durch die Absenz der Mitschüler Beineberg und Reiting enthält diese Szene das Potenzial, das Handeln Törleß' und Basinis präzise zu betrachten. Dennoch werden auch Handlungsmomente aus vorangegangenen und nachfolgenden Szenen hinzugezogen, insofern sie sich auf das Geschehen in der hauptsächlich untersuchten Szene auswirken oder beziehen lassen.
Da diese Textstelle inhaltlich bereits ohne weiterführende kulturwissenschaftliche Interpretationen viele Informationen über die Figuren preisgibt, eignet sich die literaturwissenschaftliche Methode des close readings mutmaßlich besonders für eine Betrachtung. Von einer umfassenden Vorstellung der Entstehung der Literaturtheorie und ihrer Kritik muss abgesehen werden, da diese den Rahmen dieser Untersuchung überschreiten würde.
In Vorbereitung auf die Textstellenanalyse wird zunächst in die Methode der Literaturtheorie des close readings eingeführt. Ein anschließender Überblick über die Begrifflichkeiten des Sadismus und Masochismus und die damit verbundenen Theorien führt in den motivischen Betrachtungsgegenstand dieser Arbeit ein. Für die Untersuchung mit der Literaturtheorie des close readings ist es von zentraler Bedeutung, textfremde Annahmen fernzuhalten siehe Kapitel 2.1, hierzu zählen demnach auch die der Psychologie entnommenen Theorien. Um das zu untersuchende Motiv grundsätzlich einzugrenzen, ist ein Überblick über die Begrifflichkeiten allerdings essenziell. Hierbei liegt der Fokus auf einer allgemeinen Übersicht, der die Theorie Freuds, Ergänzungen durch Reick und die Ansichten Fromms skizziert.
In Kapitel 3 erfolgt final die Anwendung der Literaturtheorie des close readings unter Berücksichtigung einer Analyse der Motive des Sadismus und Masochismus in der Begegnungsszene zwischen Törleß und Basini. Die Arbeit schließt mit einem Fazit, das die Ergebnisse resümiert und einen Ausblick auf weitere Forschungsansätze bietet.
Die folgende Einführung in die Methode des close readings konzentriert sich auf konkrete Handlungsanweisungen zur Arbeit am Text, die sich aus der Theorie ableiten lassen.
Greenham weist darauf hin, dass es keine Veröffentlichung gibt, die sich dezidiert mit der Methode des close readings befasst. Vielmehr gäbe es dutzende gelungener Beispiele für die erfolgreiche Anwendung dieser Literaturtheorie, aus denen die Methode abgeleitet werden müsse.3 Auch Hallet vertritt die These, dass man „noch nicht von einem gesicherten Repertoire kulturwissenschaftlicher Methoden der Literaturanalyse sprechen könne.“4 Er bezieht sich hierbei insbesondere auf die Literaturtheorien des New Criticism und somit auch auf das close reading. Aus diesem Grund werden für die vorliegende Arbeit insbesondere neuere, zusammenfasende Veröffentlichungen verwendet, die zumindest Ansätze eines methodischen Vorgehens aus den theoretischen Schriften extrahiert haben. Die Schriften der Wegbereiter des close readings, wie zum Beispiel Richards' oder Empsons, entbehren einer methodischen Herangehensweise und scheinen deshalb für den Zweck dieser Untersuchung weniger geeignet.
Das close reading vereint die präzise und textnahe Lektüre mit der Interpretation des Textes, die sich ausschließlich auf das Werk selbst bezieht. Der Text wird als autonom angesehen und unabhängig von Kontexten betrachtet. Ziel der werkimmanenten Interpretation ist das Herausarbeiten der sprachlichen Besonderheiten, formalen Merkmale und Bedeutungsdetails.5 „Durch diese Konzentration auf die Zeichen des Textes selbst soll die Lektüre freigehalten werden von ›textfremden‹ (theoretischen, ideologischen oder anderen textexternen) Vorannahmen ....“6 Brower konkretisiert dieses Fernhalten textfremder Inhalte im Rahmen seines HUM-6-Kurses an der Harvard University wie folgt: Bei der Analyse dürfen nur Thesen aufgestellt werden, die sich direkt vom Text ableiten lassen. Jegliche Behauptungen, die sich nicht anhand des Textes verifizieren lassen können, müssen unterlassen werden. Ebenso muss Abstand davon genommen werden, den Text in den Gesamtkontext menschlicher Erfahrungen und Geschichte zu setzen und so das anfängliche Unverständnis dem Text selbst gegenüber zu verbergen7:
Much more humbly or modestly, they die Studierenden were to start out from the bafflement that such singular turns of tone, phrase, and figure were bound to produce in readers attentive enough to notice them and honest enough not to hide their non-understanding behind the screen of received ideas that often passes, in literary instruction, for humanistic knowledge.8
Wenzel betont, dass das close reading nur auf solche Texte erfolgreich angewendet werden könne, die einen hohen Grad von Komplexität und Vielschichtigkeit sowie multidimensionale Bedeutungsnuancen aufweisen, da die Mehrdeutigkeit eines Textes von grundlegender Bedeutung für die Interpretation im Sinne des close readings darstellt.9 Musils Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß erweckt den Anschein, besonders geeignet für eine solche Interpretation zu sein, da er eine vielschichtige Sprache aufweist, die von psychologischen und emotionalen Bedeutungen durchsetzt ist, die Rückbezüge und Vorausdeutungen bereithält und die die Innensicht der Figuren umfassend präsentiert.
Interpretationen, die auf der Literaturtheorie des close readings basieren, fokussieren sich häufig auf eine Figur, einen Schauplatz oder auf ein Motiv.10 Letzteres ist auch Ziel dieser Arbeit. Die vorliegende Arbeit wird zwei Motive in der zweisamen Begegnung zwischen Törleß und Basini analysieren und interpretieren – den Sadismus und den Masochismus beider Figuren.
Der Sadismus ist „eine Variante sexueller Befriedigung, bei dem der Sexualpartner mißhandelt und gequält wird...“.11 Benannt wurde die Neigung „nach dem für seine Schilderungen sexueller Grausamkeiten berüchtigten Schriftsteller Marquis de Sade (1740–1814) ...“.12 Die Beziehung des Sadisten, die meist mit einem Masochisten siehe 2.3 geführt wird, ist geprägt von Schmerz, Erniedrigung und Dominanz.13 Das Ausleben der sexuellen Neigung inklusive der vollzogenen Grausamkeiten hat für die Partizipierenden eine „fiktive Bedeutung, die die sexuelle Erregung erhöht.“14 Sigmund Freud führt in seinem psychoanalytischen Erklärungsansatz zwei Triebarten an, die das Dasein eines jeden Menschen beherrschen – den Eros, also den Sexualtrieb, und den Todestrieb später Thanatos benannt. Während der Todestrieb alles in ein Nichtsein zurückführen will, streben die Sexualtriebe nach dem Schaffen neuen Lebens und dessen Erhalt.15 Im menschlichen Körper trifft nun die Libido auf den „Todes- oder Destruktionstrieb, welcher dies Zellwesen zersetzen und jeden einzelnen Elementarorganismus in den Zustand der anorganischen Stabilität ... überführen möchte.“16 Die Libido macht diesen Trieb unschädlich, indem sie seine zerstörerischen Kräfte über die Muskeln nach außen ableitet, wo sie gegen Objekte gerichtet wird. Diese physische Gewalt wird zum Teil im Eros, genauer direkt im sexuellen Verlangen, gebunden, wo sie sich im Sadismus äußert.17 Reick interpretiert dieses Ableiten der destruktiven Kräfte im Sexualverkehr als „Zeichen der Zähmung des Todestriebs ....“18 Fromm weicht in seiner Theorie von der Triebbegründung ab und erkennt im Sadismus „die Leidenschaft ..., absolute und uneingeschränkte Herrschaft über ein lebendes Wesen auszuüben ...“.19 So bietet der Sadismus einen Mechanismus, der die Ohnmacht über die eigene Existenz, die durch das Bewusstsein über die Zufälligkeit des eigenen Daseins und die Begrenztheit des Lebens entsteht, in ein Erlebnis der Allmacht verwandelt.20 Die umfängliche Kontrolle über einen anderen Menschen „schafft die Illusion, die Grenzen der menschlichen Existenz zu überschreiten ...“.21 Dies gelte vor allem für denjenigen Menschen, deren Leben sich durch eine Abwesenheit von Freude und Schöpferkraft auszeichnet.22
Unter Masochismus verstehe ich eine eigenthümliche Perversion der psychischen Vita sexualis, welche darin besteht, dass das von derselben ergriffene Individuum in seinem geschlechtlichen Fühlen und Denken von der Vorstellung beherrscht wird, dem Willen einer Person des anderen Geschlechts vollkommen und unbedingt unterworfen zu sein, von dieser Person herrisch behandelt, gedemüthigt und misshandelt zu werden.23
Dieses Phänomen des Lustgewinns durch Unterwerfung und Schmerzempfinden erklärt Freud Anfang des 20. Jahrhunderts psychoanalytisch. Für den Begriff des Masochismus sind die Grundlagen zum Eros und zum Todestrieb aus Kapitel 2.2 ebenso bedeutsam wie für den Sadismus. Beim Masochismus wird der Todestrieb im Menschen durch die Kraft der sexuellen Triebe erotisch umgedeutet, da er nicht nach außen abgeleitet werden kann, er wird also als „sexuelle Miterregung libidinös gebunden ....“24 „Der Urmasochismus ist so eine gegen das Ich gerichtete Lust an der Zerstörung, ein Sadismus, der sich das Ich als Opfer gewählt hat.“25 Reick hält im Zusammenhang des Masochismus die Angst für wichtiger als die Lust am Schmerz und geht somit über die Ansichten Freuds hinaus. Er hebt für den Masochismus die Phantasie, das Suspensemoment und den demonstrativen Charakter als zentrale Merkmale hervor. Er stellt fest, dass Menschen mit einer schwach oder nicht ausgeprägten Phantasie keine Neigung aufweisen, zu Masochisten zu werden. Er folgert daraus, dass die Phantasie die Grundlage des Masochismus darstellt. Im Gegensatz zum Sadismus, in dem Lust auch ohne eine vorangegangene Phantasie entstehen kann, ist sie für den Masochisten unersetzlich.26 Nach Reik zeichnet sich der Masochismus häufig durch einen Konservatismus aus, der sich in einer Beständigkeit der Phantasie niederschlägt. Diese wird häufig über Jahre hinweg kaum verändert und für lange Zeit als erregend empfunden, bevor sie dann einer neuen Phantasie weicht, die aber zum Teil Elemente der vorangegangenen Vorstellung wieder aufgreift. In der Phantasie kann sich der Masochist auch mit der grausam handelnden Person oder mit dem unbeteiligten Zuschauer identifizieren und beschränkt sich nicht auf die Rolle des Opfers.27
Ein weiteres zentrales Merkmal für den Masochismus ist der besondere Ablauf des Lusterlebnisses, das sich durch das Warten auf den zu erwartenden Schmerz oder die Bestrafung auszeichnet. Betroffene Personen nehmen dieses Herauszögern, also das Suspensemoment, im Rahmen ihrer Phantasien als besonders erregend wahr. Es scheint wichtiger zu sein als das Eintreten des Schmerzes selbst. Das Prolongieren eines Zustands zwischen Ängstlichkeit und Lust widerstrebt prinzipiell dem menschlichen Bedürfnis nach Entspannung, erhält aber im Masochismus eine herausgehobene Bedeutung. Reick verwendet den Ausdruck ›suspense‹, um den Zustand des „Ungewissen, Zögernden, Schwebenden ...“28 zu beschreiben. Dieser Zustand soll im Gegensatz zu Tendenzen innerhalb der sexuellen Norm verlängert werden. Die Spannung soll nicht abgebaut, sondern möglichst lang aufrechterhalten werden – im Idealfall so lang, dass die Endlust ausbleibt, da diese mit Angst verbunden ist. Die Lust verlässt den Masochisten schließlich29, sein „Luststreben läuft in Unlust ... oder in ein Aussetzen der Spannung ohne Befriedigung aus.“30 In diesem von Unlust geprägten Höhepunkt zeigt sich die Verbindung von Luststreben und Selbstquälerei. Die Erregung könne nie ausreichend groß sein, um in einem lustvollen Orgasmus zu münden, da sie im suspense gehalten werde.31
Als drittes Merkmal des Masochismus führt Reick den demonstrativen Zug an, also die Tatsache, dass der Masochist sein Leiden, seine Unlust, die Beschämung oder Erniedrigung offen zeigt und zum Element des sexuellen Erlebens macht. Der Masochismus ist hier mit dem Exhibitionismus verbunden, da dem Zurschaustellen eine wichtige Rolle zukommt. Während allerdings im Exhibitionismus in der Regel das präsentiert wird, was als schön gilt, ist diese Bewertung im Masochismus nicht von Bedeutung. Gerade das Präsentieren des eigenen, als hässlich bewerteten Körpers steigert das Lustempfinden noch,32 da „das Gefühl selbst zum Merkmal der masochistischen Lust ...“33 wird. Neben körperlichen Merkmalen können aber Minderwertigkeitsgefühle – zum Beispiel ausgelöst durch mangelnde Fähigkeiten – zum zentralen Punkt des eigenen Masochismus werden. Unabhängig davon, ob körperliche oder charakterliche Eigenschaften im Vordergrund stehen, ist von Bedeutung, dass diese auffallend präsentiert werden und in den Fokus rücken, um auf diese Weise Aufmerksamkeit für das eigene Leiden zu erregen und dadurch Genuss zu empfinden.34
Im Vorfeld der Analyse erfolgt an dieser Stelle eine Zusammenfassung der untersuchten Szene. Während die meisten Zöglinge über ein, durch zwei Feiertage verlängertes Wochenende das Konvikt verlassen, bleibt Törleß aufgrund der Entfernung zu seinem Zuhause vor Ort zurück. Auch Basini verbleibt im Konvikt, da er auf Geheiß Reitings eine Einladung in das Elternhaus Dschjuschs ablehnen musste. Nach der Abreise der Mitschüler konzentriert sich Törleß' Aufmerksamkeit zunehmend und im Lauf des Tages dann ausschließlich auf Basini.35 In der darauffolgenden Nacht „hätte Törleß beinahe Basini überfallen “ (140), wird aber durch ein schnelles Einschlafen von seinem Verlangen abgehalten. Am Abend des nächsten Tages verstärkt sich der Trieb in Törleß. Nachdem er vorerst versucht, sich von den Gedanken an Basini zu lösen, ist es schließlich ein innerer, nicht zu kontrollierender Antrieb, der ihn aufstehen, sich auf Basinis Bett setzen und ihn schließlich wecken lässt. Durch Basinis Aufwachen wird sich Törleß seines Vergehens schlagartig bewusst und Gefühle der Scham bestimmen sein Denken. (vgl. 141f.) Konditioniert durch Beineberg und Reiting steht Basini auf und geht in Begleitung Törleß' zur Kammer auf dem Dachboden. Es folgt das Entkleiden Basinis, das in Törleß eine Faszination und Assoziationen von Weiblichkeit hervorruft: „an seinem Leibe fehlte fast jede Spur männlicher Formen, er war von einer keuschen, schlanken Magerkeit, wie der eines jungen Mädchens.“ (143) Anstelle davon, dass Törleß sich an seinem Mitschüler körperlich vergeht, wie Beineberg und Reiting es taten, folgt eine verhörähnliche Szene, in der Törleß in Erfahrungen bringen möchte, aus welchen Gründen Basini die Misshandlungen zulässt und was während dieser in ihm vorgeht. Törleß Befragungen sind geprägt von psychischem Druck, Drohungen und Gedanken des Sadismus. Basini wiederum weist ein unterwürfiges Verhalten, verbunden mit starken masochistischen Tendenzen auf. Das Handeln der Figuren, ihre Gedanken sowie die sprachliche Darstellung werden in den nachfolgenden Unterkapiteln analysiert.
Noch vor der nächtlichen Begegnung mit Basini sind Hinweise auf den Sadismus Törleß' erkennbar. Bereits kurz nach der Abreise der Mitschüler fixiert er sich gänzlich auf seinen Mitschüler: „das Bewußtsein seines Alleinseins mit Basini ergriff herrisch von Törleß Besitz ....“ (138) Weiter heißt es: „Vorne saß Basini, hinten er, mit den Augen ihn festhaltend, sich in ihn hineinbohrend.“ (138) Auffällig ist an dieser Stelle der Sprachgebrauch. Durch die Verwendung der Wörter „herrisch“ und „hineinbohrend“ entsteht der Eindruck von Gewalt und einem starken Machtgefälle. Auch dass „Törleß beinahe Basini überfallen“ (140) hätte, lässt sich in denselben Sprachbereich einordnen. Erneut wird das Bild des Angreifens angeführt, wenn es heißt: „den Schlafenden wie eine Beute zu überfallen.“ (141) Törleß hinterfragt diese Gedanken: „Er wollte ihn doch nicht prügeln? Gott bewahre!“ (141) Unübersehbar ist hier die Verwendung des Fragezeichens am Ende des Deklarativsatzes. Hatte Törleß sich, als er die Misshandlungen Basinis durch Beineberg und Reiting nur beobachtet hatte, noch geekelt und geschämt, (vgl. 103), zeigen sich nun ähnliche Tendenzen wie bei seinen prügelnden, sadistischen Mitschülern. Zwar ist durch den Mehrwortausdruck „Gott bewahre!“ zu erkennen, dass Törleß' sein Verlangen weiterhin mit seiner Moral abgleicht und sich dem sündhaften Verlangen widersetzen will, das Fragezeichen bringt diese Werte aber zumindest in einen instabilen Zustand. Dass Törleß seine moralische Beurteilungsfähigkeit aber nicht gänzlich verliert, wird im späteren Handlungsverlauf nach der Rückkehr Beinebergs und Reitings bestätigt, als die Misshandlung Basinis eine neue und noch unmenschlichere Qualität annimmt:
Doch als Reiting vorschlägt, mit Basini ‚einen Schritt weiter zu gehen‘, und ‚ihn noch weiter demütigen und herunterdrücken‘ 167 will – unter anderem stellt er sich vor, ‚wie Basini Kot frißt‘ 183 –, wendet sich Törleß von den Kameraden ab. Er realisiert, daß die ›Bestrafung‹ Basinis keineswegs ein Weg in eine ›andere‹ Welt ist, sondern ‚nichts als eine gedankenlose, öde, ekelhafte Quälerei‘. 18436
[...]
1 Matthias Luserke-Jaqui: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Adolescent sexuality, the authoritarian mindset, and the limits of language. In: Philip Payne, Graham Bartram u. Galin Tihanov (Hrsg.): A Companion to the Works of Robert Musil. Rochester 2007, S. 163.
2 Zur Wahl der Ausgabe: Mangels einer historisch-kritischen Ausgabe zum Zeitpunkt dieser Arbeit wurde die Ausgabe unter der Herausgeberschaft Oliver Pfohlmanns ausgewählt. Diese folgt der Ausgabe letzter Hand: Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Berlin 1931. In Zweifelsfällen beruft sich Pfohlmann auf die Erstausgabe von 1906. Die zeichenpräzise Behandlung des Originaltextes ist insbesondere für eine Betrachtung mit der Methode des close readings von großer Bedeutung. Zur Schreibweise: In der vorliegenden Arbeit wird in Orientierung an die Ausgabe Pfohlmanns stets die Buchstabenfolge TÖRLEß verwendet. Andere Schreibweise werden entsprechend angepasst. Eine Ausnahme bildet die Verwendung in direkten Zitaten.
3 Vgl. David Greenham: Close Reading. The Basics. London 2018, S. vi.
4 Wolfgang Hallet: Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze. Close Reading und Wide Reading. In: Vera Nünning u. Ansgar Nünning (Hrsg.): Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Berlin 2010, S. 293.
5 Vgl. Ansgar Nünning: Art. Close reading. In: ders. (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 5., aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart 2010, S. 105.
6 Wolfgang Hallet 2010, S. 294.
7 Vgl. Paul de Man: The Return to Philology. In: ders. (Hrsg.): The Resistance to Theory. Minneapolis 1986, S. 23.
8 Ebd.
9 Vgl. Peter Wenzel: Art. New Criticism. In: Ansgar Nünning(Hrsg.):Grundbegriffe der Literaturtheorie. Stuttgart 2004, S. 193.
10 Vgl. Peter Wenzel 2004, S. 193.
11 ––: Art. Sadismus. In: Gerd Wenninger: Lexikon der Psychologie. Bd. 4. Hamburg 2001, S. 60f.
12 Ebd., S. 61.
13 Vgl. ebd.
14 Ebd.
15 Vgl. Siegmund Freud: Das Ich und das Es. In: Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey (Hrsg.): Sigmund Freud. Studienausgabe. Band III. Psychologie des Unbewußten. 6. Auflage, Frankfurt am Main 1975, S. 307.
16 Siegmund Freud:Das ökonomische Problem des Masochismus. In: Anna Freud, Edward Bibring u. Willi Hoffer (Hrsg.): Sigm. Freud. Gesammelte Werke. Chronologisch sortiert. Dreizehnter Band. Jenseits des Lustprinzips / Massenpsychologie und Ich-Analyse / Das Ich und das Es. 8. Auflage, London 1976, S. 376.
17 Vgl. Siegmund Freud 1976, S. 376.
18 Theodor Reick: Aus Leiden Freuden. Masochismus und Gesellschaft. Hamburg 1977, S. 48.
19 Erich Fromm : Anatomie der menschlichen Destruktivität. 23. Auflage, Reinbek 2011 (rororo 17052), S. 326.
20 Vgl. ebd., S. 327.
21 Ebd.
22 Vgl. ebd.
23 Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindungen. Eine klinisch-forensische Studie. 10., verbesserte und theilweise vermehrte Auflage. Stuttgart 1889, S. 60. Krafft-Ebing führte den Begriff des Masochismus erstmalig ein. Namensgebend war hier der Autor Leopold von Sacher-Masoch, der in seiner Novelle Venus im Pelz aus dem Jahr 1870 den Lustgewinn durch Schmerz und Erniedrigung thematisiert.
24 Siegmund Freud 1976, S. 376.
25 Theodor Reick 1977, S. 49.
26 Vgl. Theodor Reick 1977, S. 62–65.
27 Vgl. ebd., S. 70–74.
28 Ebd., S. 80.
29 Vgl. ebd., S. 79–82.
30 Ebd., S. 82.
31 Vgl. ebd.
32 Vgl. Theodor Reick, S. 96–98.
33 Ebd., S. 98.
34 Vgl. ebd., S. 98–102.
35 Vgl. Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Mit einem Kommentar von Oliver Pfohlmann. 2. Auflage, Berlin 2020, S. 137–139. Künftig erfolgt die Textstellenangabe direkt im Fließtext mit Seitenangabe.
36 Roland Kroemer: Ein endloser Knoten? Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß im Spiegel soziologischer, psychoanalytischer und philosophischer Diskurse. München 2004, S. 42.