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Hausarbeit, 2022
29 Seiten, Note: 1,0
1. Einleitung
1.2. Forschungsstand
2. Diagnoseverfahren im Geschichtsunterricht
3. Kompetenzraster als Diagnoseinstrument zur Erfassung von Lernprozessen und Lernergebnissen im Geschichtsunterricht
3.1 Kompetenzraster im (inklusiven) Geschichtsunterricht - Chancen und Herausforderungen
3.2. Zwei Kompetenzraster für die Klassenstufe 5: Der „Nil als Lebensgrundlage für das Alte Ägypten“ - ein Vorschlag
3.2.1 Wembers Stufenmodell als Orientierungsrahmen
3.2.2 „Warum entstand ein Staat am Nil?“ & „Das Niljahr - Lebensader Ägyptens“: Zwei Kompetenzraster
Fazit
Literaturverzeichnis
Anhangsverzeichnis
„Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen [...] (Bernhardt 2021, 60) “
Das gleiche Recht auf Bildung für alle - das suggeriert das oben aufgeführte Zitat in Artikel 24 aus der UN-Behindertenrechtkonvention aus dem Jahr 2008.1 Mit dieser Bewusstmachung der Chancengleichheit für alle Menschen, hat der Fokus auf das Thema Inklusion in den letzten Jahren sowohl im Forschungs- als auch im Bildungskontext stark zugenommen. Die Idee der Inklusion strebt nach der Gleichwertigkeit aller Gesellschaftsmitglieder sowie dem damit verbundenen Normalitätszustand der Vielfalt. Im schulischen Kontext bedeutet dies, das System Schule zu Gunsten aller so zu verändern, dass allen Kindern die uneingeschränkte Partizipation am sozialen Leben gewährleistet werden kann (vgl. Bernhardt 2021, 57f.). Das Land Niedersachsen vertritt beispielsweise ein erweitertes Begriffsverständnis von Inklusion und meint damit die individuelle Förderung und Unterstützung der jeweiligen Talente, Begabungen und Bedarfe aller Kinder.2 Demgemäß versteht die inklusive Schule „Heterogenität als Grundlage und Chance schulischer Arbeit und Bildung“ (Niedersächsisches Kultusministerium 2022).3 Wichtig ist es, in der Gesellschaft, in den Schulen und in den Universitäten auf die überall präsente Heterogenität in Schulen aufmerksam zu machen, um im Unterricht Angebote zu schaffen, die es allen SuS ermöglichen, chancengleich am Bildungsgut zu partizipieren (vgl. Barsch 2020, 5).4 Nichtsdestotrotz herrscht über inklusive Schulsysteme in der Forschung und in der Gesellschaft kein einheitlicher Konsens: Es handelt sich um ein moralisch hoch aufgeladenes Thema, bei dem die einzelnen Positionen oftmals stark divergieren.5 Noch immer stellt sich Inklusion in Schulen als eine Herausforderung dar, da es bislang kaum didaktische Konzepte gibt, welche das Gelingen der schulischen Inklusion begünstigen. Vor diesem Hintergrund steht eine bislang ungeklärte Problemlage: Wie kann eine gemeinsame Beschulung der immer heterogeneren Schüler*innenschaft gelingen, die allen gerecht wird? Für dieses Problem ist bislang weder theoretisch noch empirisch eine adäquate Lösung gefunden worden (vgl. Bernhardt 2021, 71).
Vor diesem Hintergrund beeinflusst das neue Konzept der inklusiven Schulen auch die Aufgaben des Geschichtsunterrichts sowie seine Lehrenden: Der Geschichtsunterricht soll die Wahrnehmung von Vielfalt in den Schulen verbessern und somit das lernende Subjekt zentrieren („Subjektorientierung) (vgl. Barsch u.a. 2021, 9).6 Aufgabe der Lehrperson ist es, die schulische Heterogenität zu reflektieren (Rücksichtnahme auf: Behinderung, Hautfarbe, Geschlecht, Ethnie, sozial Herkunft, Migration, Sexualität, Religion, Alter) und zum anderen „Lernangebote bereitzustellen, die unterschiedliche Aneignungsweisen ermöglichen und diese durch Scaffolding zu differenzieren“ (Barsch u.a. 2021, 10). Dies ist durchaus eine Herausforderung für die Lehrenden, da das Schulfach Geschichte ein Lese- und Schreibfach und daher kognitiv sehr anspruchsvoll ist. Des Weiteren fehlt es an Unterstützungsmaßnahmen und Vorschlägen seitens der Forschung. Auch historisches Lernen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist von der Didaktik nur wenig erforscht (vgl. Bernhardt 2021, 71). Ungeklärt ist ebenfalls „die Frage nach den Zielen des historischen Lernens für Kinder mit unterschiedlichen Förderbedarfen und vor allem fehlt es an konkreten Vorschlägen für einen inklusiven Geschichtsunterricht in den Schulen“ (Bernhardt 2021, 72).
Die vorliegende Arbeit möchte einen theoretischen und in der Praxis praktikablen Beitrag zum historischen Lernen in inklusiven Schulen leisten. Zunächst wird die Wichtigkeit von Diagnoseverfahren im inklusiven Geschichtsunterricht auf theoretischer Ebene dargelegt. Darauf aufbauend möchte diese Arbeit ihren Schwerpunkt auf die Auseinandersetzung von Kompetenzrastern als Diagnoseinstrument zur Erfassung von Lernprozessen und Lernergebnissen setzten. Nach der Darlegung von Chancen und Herausforderungen des Diagnoseinstruments werden in einem nächsten Schritt zwei für die Integrierte Gesamtschule selbstkonzipierte Kompetenzraster zum Themenbereich „Nil als Lebensgrundlage für das Alte Ägypten“ in Jahrgang fünf vorgestellt und erläutert (Kerncurriculum 2021, 19.). Daher ist es unter anderem ein Ziel, auf Basis der aktuellen didaktischen Forschungsliteratur, einen konkreten und praktikablen Vorschlag für das inklusive historische Lernen in Schulen anzubieten.
Mit der Herausstellung der Chancenungleichheit in segregierenden Bildungssystemen durch PISA und des Inkrafttretens des Artikel 24 der UN-Behindertenkonvention hat sich die geschichtsdidaktische und die allgemein-pädagogische Forschung zunehmend mit dem Thema inklusiver Schulsysteme auseinandergesetzt. Barsch bezeichnet die inklusive Forschungslage aus bildungswissenschaftlicher und allgemein-pädagogischer Sicht als durchaus „zufriedenstellend“ (Barsch 2020, 5). Auch die Geschichtsdidaktik befasst sich nun intensiver mit historischem Lernen in heterogenen Lernumgebungen und konnte diesbezüglich bereits einige vielversprechende Beiträge leisten. Aufgrund der Tatsache, dass Behinderungen, Einschränkungen und/oder der Bedarf an Fördermaßnahmen für einzelne SuS kein singuläres und auch neues Phänomen ist, wurde diesbezüglich in den letzten Jahrzehnten bereits viel geforscht und veröffentlicht. Erwähnt werden muss, dass die vorliegende Arbeit nicht als ein Überblickswerk konzipiert ist, weshalb im Folgenden nur ein paar zentrale Werke der Forschung vorgestellt werden sollen und solche, die für das Thema dieser Arbeit von wichtiger Bedeutung sind.
Vor allem das von Barsch für den Geschichtsunterricht konzipierte Werk „Inklusiven Geschichtsunterricht planen“ leistet einen wichtigen Beitrag für die vorliegende Arbeit (Barsch 2020). Die durch Inklusion bedingten neuen Herausforderungen bezüglich der Planung und der Gestaltung des Geschichtsunterrichts (z.B. Subjektorientierung, neue Vorgehensweisen der Differenzierung) werden vom Autor herausgestellt. Vor dem Hintergrund dieser Problemlagen bietet das Buch Lehrpersonen erste Orientierungsmöglichkeiten, indem es Ideen und Praxisbeispiele zusammenträgt. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Diagnostik und der individuellen Förderplanung.7 Kühberger und Schneider verfolgen in ihrem Werk „Inklusion im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung geschichtsdidaktischer und sonderpädagogischer Fragen im Kontext inklusiven Unterrichts“ das Ziel, inklusive Ideen der Sonderpädagogik und der Geschichtsdidaktik zu verbinden (Kühberger/Schneider 2016). Es sollen Adaptionen aus dem geschichtsdidaktischen Handel und Denken gefunden werden, die einen inklusiven Geschichtsunterricht ohne Ausgrenzungen von Schüler*innen-Gruppen ermöglichen. Das 2020 erschienene Handbuch „Diversität im Geschichtsunterricht: inklusive Geschichtsdidaktik“ beleuchtet vor allem die verschiedenen Phänomene von Differenz in Klassen und Schulen (z.B. Ethnie, Sexualität, Gender, Klasse etc.) und betont in diesem Zusammenhang die Zentrierung der Lernenden (Subjektorientierung). Vor diesem Hintergrund werden Auswirkungen für die geschichtsdidaktischen Prinzipien ge- schlussfolgert sowie Vorschläge für die praktische Umsetzung im Unterricht präsentiert (Barsch u.a. 2020).8 In den Beiträgen von Heuer und Kühberger werden Diagnoseverfahren für die Anwendungsmöglichkeiten im Geschichtsunterricht präzisiert (Heuer 2007/ Kühberger 2014). Während Kühberger mehrere Verfahren zur Leistungsdiagnose und -messung darlegt, spezifiziert sich Heuer auf die Arbeit mit Kompetenzraster im Geschichtsunterricht. Zwar ist das Spektrum der Forschung in Bezug auf inklusiven (Geschichts-)Unterricht breit, mangelt es doch immer an praxistauglichen Vorschlägen.9 Auch in Bezug auf die Konzeption von Kompetenzrastern werden zwar erste Hinweise präsentiert, sind diese jedoch wenig präzise und bedürfen stets großen Eingriffen seitens der Lehrkörper - demnach sind sie kaum praktikabel (vgl. Kapitel 3.1).
Seit Mitte der 1990er Jahre spielen die Begriffe Evaluieren, Leistungen beurteilen und Diagnostizieren in der allgemeinpädagogischen und bildungspolitischen Debatte eine immense Rolle, da diese nach Erziehungswissenschaftlern und Bildungspolitikern eine wichtige Komponente zur Schulentwicklung und zur Sicherung der Unterrichtsqualität beitragen. Diese Ansicht erwuchs aus den großen internationalen Schulvergleichsstudien (Large Scale Assasment) wie TIMMS und PISA, die durch unbefriedigende Ergebnisse Forderungen zur qualitativen Messung von schulischen Lernprozessen und - ergebnissen anhand aufgestellter Kriterien herbeiführten (vgl. Adamski/Bernhardt 2012, 401). Die Beurteilung der Werthaftigkeit des Unterrichts auf Basis zuvor aufgestellter Standards soll „Individuen und Gruppen eine Rückmeldung über den Fortschritt ihrer Lernaktivitäten“ bieten (SEQuALS 2005, 8f.).10 Um diese Lernprozesse und damit individuelle Leistungen beurteilen zu können, bedarf es der Instrumente von Evaluation und Diagnostik (vgl. Adamski/Bernhardt 2012, 402f.). Die Nutzung dieser Instrumente im Unterricht soll zum Anstieg der Unterrichtsqualität und zur Verbesserung des individuellen Kompetenzerwerbs der SuS führen, „indem sie durch die Gewinnung objektiver Daten und Informationen das Material zur Verfügung stellen, mit dessen Hilfe eine rationale Bewertung des Unterrichts, seiner Voraussetzungen und seiner Ergebnisse möglich ist“ (Adamski/Bernhardt 2012, 405).
Wichtig hierbei ist, dass nicht mehr die Lernzielorientierung („Inputorientierung“) im Vordergrund steht, sondern die Herausbildung von Kompetenzen. Das Erreichen dieser wird abhängig von den jeweiligen Lernbedingungen und dem jeweiligen Lerntempo des Einzelnen gemessen („Outputorientierung“) (vgl. Adamski/Bernhardt 2012, 405). Doch das Erfassen von komplexen Wissensstrukturen, die beispielsweise in den Kompetenzmodellen der Geschichtsdidaktik festgehalten sind, lassen sich deutlich schwieriger messen, als einfaches Sach- und Faktenwissen sowie Methoden- und Verhaltenswissen (vgl. Adamski/Bernhardt 2012, 406). Vor dem Hintergrund der Kompetenzorientierung wird demnach der Einsatz von Diagnose- und Evaluationsverfahren im Geschichtsunterricht immer wichtiger (vgl. Barsch 2020, 19). Außerdem ist die wachsende Bedeutsamkeit von Diagnoseverfahren im Geschichtsunterricht durch die Einführung von inklusiven Schulen und der damit verbundenen heterogenen Schülerschaft bedingt. Um inklusiven Geschichtsunterricht für alle SuS zielgerecht und auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnitten gestalten zu können, bedarf es einer ständigen Diagnostik. Für die fachdidaktische Diagnostik im Geschichtsunterricht lassen sich drei Verfahren festhalten: Erfassen von Lernvoraussetzungen, Evaluation von Lernprozessen und -ergebnissen, Leistungsmessung und -beurteilung (vgl. Barsch 2020, 19). Ziel dieser diagnostischen Maßnahmen ist es, eine möglichst objektive Vorstellung von den Kompetenzen der einzelnen SuS zu erhalten. Das historische Lernen der SuS soll mittels Verfahren gemessen werden. Des Weiteren ist es im Hinblick auf inklusiven Unterricht für die Lehrperson wichtig, sich reflexiv mit neuen Lernwegen der SuS auseinanderzusetzten, somit Einblicke in ihr Denken zu erhalten und ausgehend von den neu gewonnenen Erkenntnissen, inklusiven Geschichtsunterricht besser planen zu können (vgl. Barsch 2020, 19). Doch wie genau zeichnet sich die (fachdidaktische) Diagnostik aus? Die implizite Diagnostik zeigt sich als unterrichtliche Allgegenwärtigkeit jeder Lehrperson. Hier werden vor allem informelle diagnostische Verfahren (z.T. auch unbewusste Verfahren) angewandt: z.B.: „die Einschätzung des Lernerfolgs von Schülerinnen und Gruppen, Notizen, offene Beobachtungen, Einschätzung des sozio-ökonomischen Hintergrunds von Lernenden“ etc. (Barsch 2020, 20). Als Nachteil impliziter Verfahren kann die mangelnde Objektivität benannt werden. Lehrpersonen müssen sich ihrer eigenen Subjektivität und ihren möglichen Fehlbeurteilungen bewusst sein und diese reflektieren.11 Die explizite Diagnostik hingegen möchte dieser auftretenden Subjektivität durch Standardisierung entgegenwirken und die erforderliche Objektivität gewährleisten. Verfahren dieser sind z.B.: „Beobachtungsbögen, Diagnosebögen, Kompetenzraster, Selbstbeurteilungsbögen, Wissenstests, Schulleistungstests“ (Barsch 2020, 20).12 Zusammenfassend beschreibt die (fachdidaktische) Diagnose demnach: „alle diagnostischen Tätigkeiten, durch die bei einzelnen Lernenden und in einer Gruppe Lernenden Voraussetzungen und Bedingungen planmäßiger Lehr- und Lernprozesse ermittelt, Lernprozesse analysiert und Lernergebnisse festgestellt werden, um individuelles Lernen zu optimieren (Ingenkamp/ Lissmann 2008, 13)“.
Zwar existieren bislang kaum explizite diagnostische Verfahren für den (inklusiven) Geschichtsunterricht, dennoch darf vor diesem Hintergrund ihre Wichtigkeit nicht abgesprochen werden. Lehrpersonen müssen die Haltung hervorbringen, die eigene diagnostische Wahrnehmung kritisch zu hinterfragen, um stetig die allgemeinen diagnostischen Fähigkeiten weiterzuentwickeln (vgl. Barsch 2020, 22).13 Einer der wichtigsten Punkte ist, dass (Geschichts-)Lehrkräfte Diagnoseverfahren nicht nur als Zusatz, sondern als ständigen Bestandteil des Unterrichts anerkennen und anwenden müssen. In diesem Sinn muss auch der Unterricht konzipiert werden: So ermöglichen es bspw. offene Lehr- und Lernformen des Unterrichts, das Lernen der SuS sichtbar (beobachtbar) zu machen. D.h.: Wie arbeiten Gruppen und mit welchen Schwierigkeiten sind sie konfrontiert? Welche Lernstrategien werden von einzelnen SuS bevorzugt und warum? Welche Fachbegriffe und Methoden sind bekannt? Welche Aufgabenstellungen bergen Herausforderungen und welche sind ohne Probleme? Und vor allem: welche Lernenden sind von den getätigten Beobachtungen betroffen? (vgl. Adamski 2014, 20). Elementar ist es außerdem, die Lernenden bei dem Prozess der Beobachtung miteinzubeziehen. Ihnen müssen Ziele und Anforderungen stets transparent gemacht werden, um auch ihnen die Zeit und die Gelegenheit für genügend Reflexion über die eigenen Lernwege zu bieten (vgl. Barsch 2020, 24). Es zeigt sich, dass die Instrumente der Diagnose und der Reflexion in der unterrichtlichen Praxis und während der Vorbereitung auf den Unterricht viel Raum und Zeit einnehmen - Denn Diagnostik muss immer als ein Prozess verstanden und daher kontinuierlich in den Unterricht eingebunden werden, um Veränderungen bei den SuS festhalten zu können (Brasch 2020, 24). Sinnvoll sind diese Verfahren im Unterricht jedoch nur, wenn sie die Lernenden dabei unterstützen, ein Verständnis von historischem Lernen zu entwickeln und die Kompetenzen des historischen Lernens zu erweitern (vgl. Adamski/Bernhardt 2012, 406). Daher ist die Auswahl des Instruments zur Diagnose immer von der Lerngruppe abhängig (vgl. Barsch 2020, 24).
„Unterricht für alle gelingt besser, wenn wir als Lehrkräfte den Prozess aller Schüler - nicht nur den der Schüler mit Förderbedarf - beobachten und die entsprechenden Maßnahmen daraus ableiten. Wir müssen uns im Geschichtsunterricht ein Bild davon machen, wie ausgeprägt das Geschichtsbewusstsein unserer Schüler ist. Wir sind also - auch als Geschichtslehrer - in hohem Maße diagnostisch tätig“ (Stindt- Hoge/Bleeker 2019, 15).
Mit dem Einsatz von Kompetenzrastern im Unterricht können Lernstände oder Lernprozesse der SuS auf Ebene des Sach- und Methodenwissens differenziert festgestellt werden. In einer Matrix oder tabellarisch schriftlich fixiert, zeigen Kompetenzraster die Niveaustufen und inhaltlichen Kriterien zu den skizzierten Standards auf. Jede Stufe des Rasters beschreibt „Indikatoren [...], die sichtbar machen, auf welcher Niveaustufe sich der Schüler bei der jeweiligen Kompetenz befindet“ (Stindt-Hoge/Blee- ker 2019, 17). Vor allem vor dem Hintergrund der inklusiven Schulen ist das Verfahren zur Transparentmachung von Kompetenzen mithilfe dieses differenzierten Diagnoseinstruments von Bedeutung. Zudem können die Raster verschiedene Perspektiven einnehmen: Sie können das aufgebaute Wissen und die aufgebauten Kompetenzen einer bestimmten Unterrichtseinheit behandeln, oder Bezug zu den historischen Kompetenzen und dem historischen Denken der SuS im Allgemeinen nehmen (vgl. Barsch 2020, 27). Des Weiteren kann die Konzeption der Raster je nach Formulierung als Selbst- („Ich kenne ...“) oder als Fremdeinschätzung („Schülerin kennt ...“) fungieren (Heuer 2007, 29). Ebenfalls sind solche Formulierungen „stärkenorientiert“, denn „Kompetenzraster geben Auskunft darüber, was der Schüler oder die Schülerin bereits kann, was er oder sie sich zutraut, aber auch über das, was er und sie noch alles lernen könnte bzw. was noch alles zu lernen ist“ (Heuer 2007, 29).
Diese Formulierungen sind positiv, da sie vom Können der SuS ausgehen. Negative Formulierungen wie „ich weiß nicht, ich kann nicht...“ sollten möglichst vermieden werden (Stindt-Hoge/Bleeker 2019, 17), um die Motivation und ein positives Selbstbild der SuS zu begünstigen. Gleichsam wird Transparenz des Lernstandes und der Lernprogression für Lehrkräfte, SuS sowie Eltern gewährleistet, somit sind die Raster produkt- und prozessorientierte Diagnoseinstrumente (vgl. Kühberger 2014, 59). Vor allem aber werden die Lernenden miteinbezogen, was die eigene Selbststeuerung und die Selbstreflexion fördern. Werden Kompetenzraster zu Beginn einer Unterrichtsstunde oder einer Arbeitsphase ausgegeben, werden die Lernenden zum einen über die erwarteten (Teil)-Kompetenzen informiert und können zum anderen den eigenen Fortschritt bereits während des Lernprozesses beurteilen. Verwendet man bei der Konzeption zudem ein erweitertes Lernverständnis, können neben den fachspezifischen auch „allgemein methodisch-strategische (u.a. planen, organisieren), sozial-kommunikative (u.a. diskutieren, zuhören, argumentieren), oder persönliche Kompetenzen (u.a. Selbstvertrauen gewinnen, Werthaltungen aufbauen)“ diagnostiziert werden (Kühberger 2014, 59).14
Ein Einbezug all dieser Kompetenz-Variablen in das Diagnoseverfahren signalisiert den Lernenden, dass auch Entwicklungsprozesse in diesen Bereichen (neben den fachlichen) wichtig sind und festgestellt werden. Umso detaillierter Kompetenzraster zu (fach-)spezifischen Methoden konzipiert werden, desto besser kann die Intention des Lernarrangements von den Lernenden durchdrungen werden (Kühberger 2014, 59). Insbesondere für förderbedürftige Kinder ist das Festhalten eines erweiterten Lernverständnisses wichtig (z.B. Konzentration, Dokumentation von Ergebnissen und Unterrichtsbeteiligung). Hier sollten geeignete Schwerpunkte unter Berücksichtigung von Förderplänen und in Zusammenarbeit mit allen Lehrkörpern gesetzt werden, um die Betroffenen nicht zu überfordern (Stindt-Hoge/Bleeker 2019, 17).
Um das erwartete „Umsetzungsniveau“(Fundamentum) und die darüberhinausgehenden Leistungen (Additum) für die Lernenden möglichst differenziert darzulegen, können Teile des Rasters für ein spezifisches Lernarrangement gekennzeichnet werden (Kühberger 2014, 59). Wenn die von den SuS erreichten Niveaustufen von der Lehrperson festgehalten werden, können für jeden Lernenden individuelle „Kompetenzprofile“ resultieren, die für die Leistungsdiagnose und für eine Rückmeldung (z.B. Leistungsbewertung) Berücksichtigung finden (Kühberger 2014, 59). Vor diesem Hintergrund kann auf Stindt-Hoge und Bleeker verweisen werden, die auf einen weiteren Aspekt zur Nutzung von Kompetenzrastern aufmerksam machen: Auch außerhalb des Unterrichts können diese herangezogen werden, indem sie als Basis für Lernentwicklungsgespräche mit Eltern und SuS dienen (vgl. Stindt-Hoge/Bleeker 2019, 17).
Nichtsdestotrotz existieren bislang keine empirischen Erkenntnisse über die Definition einzelner historischer Kompetenzniveaus. Meist sind die Festlegung und die Ausformulierung der Kriterien seitens der Lehrperson willkürlich (vgl. Adamski/Bernhardt 2012, 411).15 Zwar arbeitet die geschichtsdidaktische Forschung bereits an Studien, um dieser Problematik entgegenzuwirken, diese sind bislang jedoch nicht auf die schulische Praxis übertragbar (vgl. Barsch 2020, 28f.). Zudem ist die Konzeption dieser Raster mit hohem Zeitaufwand verbunden, was unter anderem der Grund dafür sein mag, dass sie bislang kaum im Geschichtsunterricht verwendet werden. Sinnvoll wäre hier bspw. eine gemeinsame Gestaltung von Kompetenzrastern (Fachkollegen, Fachkonferenz) für verschiedene Unterrichtseinheiten, um die individuellen Lernprozesse und Lernstände der SuS über eine bestimmte Zeit konkreter zu diagnostizieren (vgl. Stindt-Hoge/Bleeker 2019, 17). Alle Beteiligten des Schulsystems würden davon profitieren.
Das nachfolgende Kapitel (3.2.) möchte die hier aufgeführten Chancen von Kompetenzrastern als Diagnoseinstrument im Geschichtsunterricht nutzen und den mangelnden Materialien in der schulischen Praxis entgegenwirken. Daher werden zwei Kompetenzraster (Anhang 5, 6) für eine fünfte Klasse im Fach Gesellschaftslehre einer Integrierten Gesamtschule konzipiert und vorgestellt. Der „Nil als Lebensgrundlage für das Alte Ägypten“ stellt den thematischen Schwerpunkt der Stunden. (Kerncurriculum 2021, 19.)
[...]
1 Die UN-Behindertenrechtskonvention 2008/2008 besteht aus 50 Artikeln, welche die Rechte von Menschen mit Behinderung herausstellen und die Staaten verpflichten, deren Ansprüche auf Selbstbestimmung, Diskriminierungsfreiheit und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe geltend zu machen (vgl. Bernhardt 2021, 59.)
2 Ein „enger“ Inklusionsbegriff bezieht sich auf SuS mit sonderpädagogischem Förderbedarf, während ein „weites“ Begriffsverständnis die schulische Heterogenität i. Allg. (z.B. sozio-ökonomischer Hintergrund, Sprache, religiöse Anschauungen etc.) mitberücksichtigt (vgl. Barsch 2020, 4).
3 Denn diagnostizierte Förderbedarfe oder Behinderungen sind i. d R. keine vereinzelten Erscheinungen. Beispielsweise werden bei Kindern aus sozio-ökonomisch schwachen Haushalten gehäuft Lernbeeinträchtigungen festgestellt. Bei Kindern mit Migrationshintergrund wird der „Förderschwerpunkt Lernen“ öfter diagnostiziert, als solchen ohne. Zudem bedingt die Immigration weitere Vielfalt in den Schulklassen, die sich bspw. sprachlich und kulturell äußert. Aber auch in den als fälschlicherweise homogen klassifizierten Gymnasien lässt sich zwischen den einzelnen SuS mehr Heterogenität feststellen als dato angenommen (vgl. Barsch 2020, 4).
4 Bereits die PISA-Studie konnte darauf aufmerksam machen, dass segregierende Schulsysteme die Chancenungleichheit bestärken, da eine Relation zwischen schulischem Erfolg und sozialer Herkunft existiert (Barsch 2020, 4). Das Niedersächsische Kultusministerium beruft sich auf den obig zitierten Abschnitt aus Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention und ermöglicht jedem Individuum, losgelöst von Herkunft, Einschränkungen oder Behinderungen, die Teilhabe an jeder Schule oder Schulform (Niedersächsisches Kultusministerium 2022). Im Land Niedersachsen ist demnach jede Schule eine inklusive Schule. Ziel hierbei ist es, einen „diskriminierungsfreien Zugang zum Bildungssystem“ zu garantieren (Niedersächsisches Kultusministerium 2022). Das Land Niedersachsen setzt die Idee der inklusiven Schulen rasch um: Zum Schuljahresbeginn 2013/14 wurde sie in Niedersachsen mit den Schuljahrgängen 1 und 5 verbindlich eingeführt und seitdem erweitert (vgl. Niedersächsisches Kultusministerium 2022). „Im Schuljahr 2018/2019 ist die inklusive Schule in den Schuljahrgängen 1 bis 10 der öffentlichen allgemein bildenden Schulen eingeführt. Zudem steigt sie seit diesem Schuljahr auch in den berufsbildenden Schulen auf. Im Schuljahr 2021/2022 hat sie den 13. Schuljahrgang erreicht. Damit sind nun alle Jahrgänge der allgemein bildenden Schulen inklusiv. Schülerinnen und Schüler mit einem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung erhalten eine entsprechende Unterstützung in der inklusiven Schule“ (Niedersächsisches Kultusministerium 2022).
5 So lehnen bspw. radikale Inklusionsvertreter die curricularen Bildungsstandards ab, da diese Diskriminierend seien und die Selektionsfunktion von Schule betonen würden. Gegenstimmen sehen eine radikale Inklusion hingegen als „Dekategorisierung“ der bisherigen Förderdiagnostik, wo der Mensch mit Behinderung/Beeinträchtigung umfassend in den Blick gerate - die Wahrnehmung der bestehenden Einschränkungen und der damit verbundenen Andersartigkeit dürfen nicht übersehen oder negiert werden, dies gelinge nur im Vergleich mit anderen (Bernhardt 2021, 63f).
6 Barsch u.a.. erläutern die neuen Zugänge des Geschichtsunterrichts, die vor dem Hintergrund der Inklusion und der damit verbundenen Heterogenität geschaffen werden müssen wie folgt: Aufgabe ist es „auf die identitätsprägenden Familiengeschichten und auf die in den ethnisch und sozial unterschiedlichen Communities verhandelten Geschichtsbilder zu reagieren, die medial geprägte Geschichtssicht der Schülerinnen und Schüler wahrzunehmen und einzubeziehen [...] (Barsch u.a. 2021, 10).
7 Auch das von Markus Bernhardt konzipierte und 2021 herausgegebene Werk „Inklusive Geschichte? Kulturelle Begegnung - Soziale Ungleichheit - Inklusion in Geschichte und Gegenwart thematisiert die neuen Herausforderungen des Geschichtsunterrichts vor dem Hintergrund inklusiver Schulsysteme. Der Band möchte Perspektiven (von der Antike bis Heute) auf Formen von Inklusion, sozialer Ungleichheit und kultureller Begegnungen in der Geschichte eröffnen bietet daher Ideen für historische Fragestellungen, die neue Impulse für den Unterricht der heterogenen Gegenwart setzten sollen (b. Bernhardt 2021).
8 Auch das Werk von Sasse und Schulzeck bietet mit dem Model der „Differenzierungsmatrix“ Vorschläge zur Planung inklusiven Unterrichts, wobei die fachdidaktische Umsetzung für unterschiedliche Unterrichtsfächer mit konkreten Beispielen Berücksichtigung findet (Sasse/Schulzeck 2021).
9 Nichtsdestotrotz sind in letzterer Zeit erste Werke erschienen, die anwendbare Materialien für die Ermöglichung eines inklusiven und damit differenzierten Unterrichts bieten. An dieser Stelle möchte ich auf einige dieser Erscheinungen verweisen: (Adamski 2020), (Adamski 2017), (Stindt-Hoge/Blee- ker 2019). Ingenkamp und Lissmann verdeutlichen bspw. bereits im Jahr 2008 mit dem „Lehrbuch der Pädagogischen Diagnostik“ die Signifikanz von diagnostischen Maßnahmen für den (inklusiven) Unterricht (Ingenkamp/Lissmann 2008).
10 Zitat entnommen aus: (Adamski/Bernhardt 2012, 402).
11 Barsch benennt drei empirisch nachgewiesene Beobachtungsfehler aus der impliziten Diagnostik, über die sich Lehrpersonen stets bewusst sein müssen, um gerechten Unterricht für alle gestalten zu können: Ersteindruck, Sitzordnung und der Stereotype-Threat-Effekt. Vor allem letzterer kann dazu führen, dass SuS aufgrund der ihnen zugeschriebenen Eigenschaften (z.B. Leistungsschwäche) und der daraus resultierenden Eintönigkeit von Leistungserwartungen seitens der Lehrperson, die Meinung verankern, nicht in der Lage sin, mehr zu leisten (Barsch 2020, 20f.). Weitere Beobachtungsfehler bei: Adamski/Bernhardt 2012, 407.
12 Zwar können die in Anm. 10 aufgezeigten Beobachtungsfehler der impliziten Diagnostik eine Gefahr für den Schulalltag darstellen, dennoch sind sie nach Barsch wichtige Bestandteile der Diagnose und sollten daher stehts mit expliziten Verfahren verknüpft werden (Barsch 2020, 22). So können beispielsweise die aufgestellten „Leitfragen der Diagnostik“ für Lehrende hilfreich sein, um ihre Einstellungen und ihre Objektivität zu überprüfen. (Siehe: Barsch 2020, 23f.).
13 Um die Kompetenzen der fachdidaktischen Diagnose herauszubilden und weiterzuentwickeln, ist die Berücksichtigung bestimmter Gütekriterien für Lehrkräfte von elementarer Bedeutung. Anhang 1 nach: (Adamski/Bernhardt 2012, 403; Kühberger 2014, 10) zeigt tabellarisch die Variablen der allgemeinen Gütekriterien der Diagnose im Unterricht auf. Entnommen aus: (Barsch 2020, 22). Anhang 2 nach: (Bormuth/Körber/Seidl 2020, 342) listet tabellarisch die fachdidaktischen Diagnosekriterien auf, die pädagogisch-didaktische Kriterien der Diagnostik mit fachdidaktischen Kriterien verbinden. Entnommen aus: (Barsch 2020, 23). Barsch erläutert hierzu treffend, dass die Berücksichtigung dieser Diagnosekriterien für die unterrichtliche Praxis kaum zu leisten ist, denn es fehlt an Materialen für die explizite Diagnostik, insbesondere für inklusiven Schulen. Daher werden bereits etablierte Verfahren kaum allen aufgeführten Gütekriterien entsprechen. Nichtsdestotrotz können im Idealfall die beigefügten Tabellen für jede Lehrperson als Optimierungsmöglichkeiten und als Überprüfungsmöglichkeiten der eigenen diagnostisches Fähigkeiten dienen (vgl. Barsch 2020, 23).
14 Ein Beispiel für so ein Raster, das soziale und fachspezifische Anforderungen verknüpft, findet sich bei: (Kühberger 2014, 60).
15 Dennoch bieten die festgelegten Kriterien einen Orientierungsrahmen über die Anforderungen des Lehrkörpers (Adamski/Bernhardt 2012, 411).