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Einsendeaufgabe, 2021
29 Seiten, Note: 1
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Kunstfehler in der Psychotherapie
1.1 Einführung in unerwünschte negative Folgen der Psychotherapie
1.2 Kunstfehler bzw. Behandlungsfehler
1.3 Arten von Kunstfehlern
2 Horizontale Verhaltensanalyse nach dem SORKC-Modell
2.1 Einführung in die Verhaltensanalyse
2.1.1 Lerntheoretischer Hintergrund der Verhaltensanalyse
2.1.2 Verhaltensanalyse nach dem SORKC-Modell
2.1.3 Vorgehen bei der horizontalen Verhaltensanalyse
2.2 Fallbeispiel aus der Verhaltenstherapie
2.2.1 Anlass der Behandlung und Symptombericht des Patienten
2.2.2 Horizontale Verhaltensanalyse nach dem SORKC-Modell
2.2.3 Resümee aus dem Fallbeispiel
3 Therapeut-Patient-Beziehung im Erstgespräch
3.1 Einführung in die Therapeut-Patient-Beziehung und das Erstgespräch
3.1.1 Therapeutische Beziehung als Wirkfaktor
3.1.2 Ablauf eines Erstgesprächs
3.2 Allgemeine Anforderungen an das Erstgespräch
3.2.1 Ziele & Ansprüche des Therapeuten im Erstgespräch
3.2.2 Ziele & Ansprüche des Patienten im Erstgespräch
4 Literaturverzeichnis
§ 630a Abs. 2 BGB Paragraph 630a, Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches
§ Paragraph
Abs. Absatz
BGB Bürgerliches Gesetzbuch
Abbildung 1: Horizontale Verhaltensanalyse nach der SORKC-Verhaltensgleichung (entnommen aus Abbruzzese & Kübler, 2013, S. 110)
Tabelle 1: Ablaufschema eines Erstgesprächs (nach Wendisch & Neher, 2003, S. 126)
Obwohl Risiken und Nebenwirkungen in Ausbildung, Praxis und Forschung der Psychotherapie oft vernachlässigt wurden, ist es mittlerweile dennoch klar geworden, dass es auch in der Psychotherapie unerwünschte Effekte wie z.B. Nebenwirkungen oder Schädigung durch unethisches Verhalten gibt (Margraf & Scholten, 2018).
Für die Einführung des Begriffs Kunstfehler in der Psychotherapie wird zunächst eine Systematik von negativen Effekten von Psychotherapie vorgeschlagen.
S. O. Hoffmann et al. (2008) und Linden (2013) haben zum ersten Mal eine umfassende Systematisierung von unerwünschten Therapieeffekten geschaffen (Margraf & Scholten, 2018). Demgemäss wird zwischen (1) unerwünschten Ereignissen, (2) negativen Therapiefolgen, (3) Nebenwirkungen (inkl. Therapeutische Risiken, Kontraindikationen), (4) Kunstfehlerfolgen, (5) Krankheitsverschlechterung (inkl. Non-Response) und schliesslich (6) Schädigung unterschieden (Haupt et al., 2018; S. O. Hoffmann et al., 2008; Linden, 2013; Margraf & Scholten, 2018):
(1) Unerwünschte Ereignisse (unwanted events) beschreiben alle negativen Ereignisse, die zeitlich parallel zur Psychotherapie im Erleben, Verhalten oder der Umwelt des Klienten oder Patienten auftreten. Als unerwünscht gilt, was kein Therapieziel darstellt und sollte deshalb aus Sicht des Patienten, des Therapeuten oder der Umwelt vermieden werden.
(2) Negative Therapiefolgen (treatment emergent reaction) beschreiben alle unerwünschten Ereignisse, die durch die Therapie bedingt sind.
(3) Nebenwirkungen (adverse treatment reactions) stellen alle negativen Therapiefolgen einer korrekt durchgeführten Therapie dar. Dabei stellen therapeutische Risiken (therapeutic risk) alle im Vorfeld einer Therapie bekannten und absehbaren Nebenwirkungen dar. Mit Kontraindikationen (contraindications) werden alle Patienten-, Situations- und Therapiecharakteristika beschrieben (z.B. die Passung der Persönlichkeit zwischen Therapeuten und Patienten), die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit schwere Nebenwirkungen erwarten lassen.
(4) Kunstfehlerfolgen (malpractice reaction) beschreiben alle negativen Therapiefolgen einer inkorrekt durchgeführten Therapie. Im Rahmen dieser Arbeit werden Kunstfehler im nächsten Kapitel näher erläutert.
(5) Unter Krankheitsverschlechterung (deterioration of illness) ist die Verschlechterung einer Krankheit trotz Therapie zu verstehen. Eine Therapie-Nonresponse (treatment non respose) stellt eine unzureichende Besserung einer Krankheit trotz Therapie dar.
(6) Bei einer Schädigung durch unethisches Verhalten verstösst der Therapeut gegen allgemeine und/oder spezielle ethische Prinzipien und schädigt dadurch seinen Patienten.
Ursprünglich wurde der Begriff Kunstfehler im engeren Sinne nur in der Medizin angewendet (Bienenstein & Rother, 2009) und bezeichnet ein absichtliches oder fahrlässiges Verhalten des Arztes, welches zur Schädigung des Patienten und Verschuldung des Arztes führt, da Fahrlässigkeit die Sorgfaltspflicht verletzt (Bienenstein & Rother, 2009). Der Begriff des Kunstfehlers wird heute nicht mehr verwendet, da bezüglich seines Inhaltes eine Verwirrung herrschte und es hat sich heute der Begriff des Behandlungsfehlers durchgesetzt (Imhof, 2010). Die Definition des Behandlungsfehlers lässt sich aus der Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht ableiten: «Der Arzt ist gegenüber seinem Patienten zur Wahrung der erforderlichen Sorgfalt verpflichtet, nicht aber zu einer erfolgreichen Behandlung.» (Imhof, 2010, S. 15). In der Fachliteratur werden die Begriffe Kunst- und Behandlungsfehler zumeist synoym verwendet (Margraf & Scholten, 2018).
Kunstfehler bzw. Behandlungsfehler gehören also zu den negativen Therapiefolgen, allerdings werden damit Folgen einer inkorrekt durchgeführten Therapie beschrieben.
Auch die Rechtsprechung orientiert sich bei Behandlungsfehlern in der Psychotherapie an den Grundsätzen des Arzthaftungsprozesses. Bei ärztlichen wie auch bei psychotherapeutischen Behandlungen gilt, dass sie sich an allgemeine anerkannte fachliche Standards zu halten haben (§ 630a Abs. 2 BGB). Der Behandlungsfehler orientiert sich also am Behandlungs-Standard, d.h. dem Standard der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse sowie therapeutische Erfahrung für die Erreichung des Behandlungsziels. Ein Behandlungsfehler liegt demnach vor, wenn eine vertragliche Pflicht durch den Therapeuten verletzt wird (§ 630a Abs. 1 BGB).
Sponsel (2002) hat den Begriff Kunstfehler aus der Medizin übernommen und hat folgende Definition des Begriffes vorgelegt: «Ein Kunstfehler liegt vor, wenn bei zumutbarer und kundiger Analyse der Einzelfall-Sachlage ein nach den allgemeinen oder zulässig individuell vereinbarten wichtigen Zielen und Zwecken der Behandlung gebotenes Tun oder Lassen nicht erfolgte.»
Im weiteren Verlauf legt Sponsel (2002) eine Auflistung potentieller Kunst- oder Behandlungsfehler in der Psychotherapie vor, die im Folgenden dargelegt werden. Zu jedem Punkt werden Beispiele genannt und Hinweise gemacht, wie man mit diesen Kunstfehlern umgehen bzw. wie man sie vermeiden könnte.
1. Kunstfehler zu Beginn einer Behandlung: Beispielsweise besteht keine Aufklärung über Dauer, Erfolgsaussichten und Risiken über die Therapie. Diese Fehler können vermieden werden, wenn am Anfang der Behandlung eine professionelle Aufklärung über Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie vorgenommen wird, damit der Patient oder Klient weiss, was auf ihn zukommt. Diese Aufklärung sollte jeweils dem Patienten, seiner Persönlichkeit, der Diagnose und seinem individuellen Risiko angepasst sein (Wells & Kaptchuk, 2012).
Der Therapeut könnte auch einen Patienten annehmen, ohne sich dem Fall ausreichend gewachsen zu fühlen. Auf dieses Problem könnten Therapeuten z.B. bereits in der psychotherapeutischen Ausbildung aufmerksam gemacht und dadurch das Risiko vermindert werden. Denn gemäss Castonguay et al. (2010) sollten Psychotherapeuten für ihre praktische Tätigkeit sowohl darauf vorbereitet werden, was sie zu tun haben, als auch darauf, was sie besser sein lassen sollten.
Auch kann es passieren, dass der Therapeut keine Erfahrungen bezüglich der vorliegenden Erkrankung hat und den Patienten trotzdem annimmt. Dieser Kunstfehler könnte vermieden werden, wenn er bereits in den probatorischen Sitzungen angesprochen wird (Fischer-Klepsch et al., 2018; Margraf & Scholten, 2018; Sponsel, 2002).
2. Kunstfehler aufgrund mangelhafter Diagnostik, Therapieplanung und therapiebegleitender Evaluation: Beispielsweise kann in der Therapieplanung versäumt werden, ein evaluierbares Behandlungskonzept, d.h. ein hypothesengeleitetes Vorgehen zur Beeinflussung der Störungen, zu entwickeln. Durch eine mangelhafte oder gar fehlende therapiebegleitende Evaluation (inkl. Dokumentation) kann es passieren, dass nicht rechtzeitig erkannt werden kann, wie die Erfolgs- und Misserfolgsaussichten sind. Es können auch zumindest stichprobenhafte Katamnesen zur Evaluation der Behandlungserfolge fehlen, was die Qualitätssicherung und Erfolgskontrolle tangieren kann. Diesen Kunstfehlern könnte man bereits mit der Thematisierung und Sensibilisierung in der Verhaltenstherapieausbildung begegnen (Castonguay et al., 2010). Auch haben Ladwig et al. (2014) zur Erfassung negativer Therapiefolgen aus Sicht der Patienten das «Inventar zur Erfassung negativer Effekte von Psychotherapie (INEP)» entwickelt, welches in der standardisierten Diagnostik einer therapeutischen Behandlung eingesetzt werden kann - interne Konsistenz des Inventars war gut mit a = .86.
Nach Sponsel (2002) sind in der psychologischen Diagnostik und Evaluation auch Suggestionen und Suggestivfragen als Kunstfehler zu behandeln. Nachfolgend finden sich zwei Beispiele von suggestiv-falschen Fragen während der Diagnostikphase mit richtigen Alternativvorschlägen (Sponsel, 2002):
- Suggestiv-falsch: «Sind Sie sexuell missbraucht worden?»
- Richtig: «Was haben Sie sexuell erlebt?»
- Suggestiv-falsch: «Leiden Sie seit der Vergewaltigung an Panikattacken?»
- Richtig: «Wann sind Ihre Panikattacken zum ersten Mal aufgetreten?»
3. Kunstfehler aufgrund mangelnder Abklärung oder Kooperation: Kunstfehler sind v.a. fatal, wenn medizinische Abklärungen im Bereich Psychosomatik und Psychopathologie mangelhaft sind. Eine unzureichende Zusammenarbeit mit weiteren relevanten Fachpersonen ist ebenfalls problematisch. Zweckdienlich wäre es, solche Probleme bereits in der therapeutischen Ausbildung zu thematisieren (Castonguay et al., 2010).
4. Kunstfehler gegen die therapeutische Beziehung: Sehr problematisch ist ein mangelnder Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung. Dabei spielt die Persönlichkeit des Therapeuten eine zentrale Rolle beim Aufbau einer tragfähigen Therapeut-Patient-Beziehung in der Verhaltenstherapie (Fischer-Klepsch et al., 2018). Nach Hippler und Görlitz (2001) zeichnet einen erfolgreichen Therapeuten aus, dass er Interesse am Menschen hat, empathisch und verständnisvoll ist, gut zuhören kann, Freude am Leben hat, humorvoll ist, sich gesund abgrenzen kann, mit Macht und Einfluss verantwortungsbewusst umgehen kann, Konfusion und Krisen innerlich aushalten kann etc. Ein «erfolgloser» Therapeut hingegen hat z.B. die Hoffnung, eigene psychische Probleme durch den Beruf heilen zu können (Hippler & Görlitz, 2001). Als ein weiterer Kunstfehler gegen die therapeutische Beziehung kann ein Aufbau von unnötig starker Bindung (abhängig machen) angesehen werden, wodurch z.B. Ablösungsschwierigkeiten entstehen können. Solche Ablösungsprobleme könnten z.B. in einer Supervision reflektiert und bearbeitet werden (Zimmer, 2018).
5. Kunstfehler aufgrund mangelnder Reflexion, Supervision und Fortbildung: Vor allem problematische und unklare Therapiesituationen sollten in einer Supervision, aber auch in einer Autosupervision, selbstkritisch reflektiert werden (Zimmer, 2018). Da sich die empirische Verhaltenstherapie um ständige Weiterentwicklung bemüht, ist auch hier eine andauernde Fortbildung des Therapeuten und berufsbegleitende Supervision indiziert (Margraf, 2018). Auch Schigl und Gahleitner (2013) schlagen einen proaktiven Umgang mit Kunstfehlern vor: Damit sind solche Fälle angesprochen, in denen ein Therapeut sich differenziert und zielorientiert mit seinen Fehlern und den daraus entstehenden Konsequenzen bewusst auseinandersetzt wie z.B. durch Selbstreflexion, Intervision, Supervision, aber auch durch Rückmeldung des Patienten. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, das eigene Tun in Frage zu stellen (oder stellen zu lassen). Somit wird eine Toleranz für die eigene Unvollkommenheit eröffnet und trägt zu einer positiven Weiterentwicklung bei. Es besteht also die Möglichkeit, dass das Fehlhandeln nach einer Selbstreflexion (z.B. in der Supervision) korrigiert werden kann z.B. durch die Arbeit an der eigenen Gegenübertragung (Schigl & Gahleitner, 2013).
6. Kunstfehler als Verstoss gegen die Ergebnisse allgemeiner Psychotherapieforschung: Solche Kunstfehler können z.B. durch unangemessene Durchführung von Diagnostik oder Therapie oder durch eine falsche Indikationsstellung entstehen, wobei gegen aktuelle Standards verstossen wird. Auch hier könnten diese Fehler z.B. durch ständige Weiterbildung abgefedert werden (Margraf & Schneider, 2018).
7. Fehler gegen das Persönlichkeitsrecht (Abstinenzgebot): Ein Aspekt dieses Kunstfehlers ist beispielsweise der narzisstische Missbrauch und ganz extrem der sexuelle Missbrauch von Patienten. Solch unethische Verhaltensweisen haben gemäss Margraf und Scholten (2018) ihren Ursprung auch in Versäumnissen der Ausbildung, weshalb während der gesamten Ausbildung, beginnend bereits im Studium, auf die Abstinenz-Thematik, die eigenen Verhaltensweisen (z.B. Kleidung, Sprache, non-verbales Verhalten, Übungen zu Copingstrategien) sowie die professionelle Beziehungsgestaltung sensibilisiert werden sollte (Margraf & Scholten, 2018). Bei einer schweizweiten empirischen Untersuchung mit Psychotherapeuten haben Rhyn und von Wyl (2020) zum Thema Verliebtheitsgefühle seitens der Therapeuten gegenüber Patienten Einflüsse und Erklärungsmuster, aber auch Schutzfaktoren aufzeigen können. Sie konnten bestätigen, dass Verliebtheitsgefühle gegenüber der Klientel kein seltenes Phänomen sind. Als Schutzfaktoren standen insbesondere die Supervision, ethisch-moralische Standards oder die eigene Partnerschaft im Vordergrund (Rhyn & von Wyl, 2020). Auch Maaz (2014) fordert Therapeuten auf, Verliebtheits- und sexuelle Gefühle gegenüber der Klientel im therapeutischen Setting zu hinterfragen und zu bearbeiten.
8. Kunstfehler gegen Effizienz und Wirtschaftlichkeit: Bei der Effizienz werden Kriterien der Kosten, des Nutzens und des Aufwandes berücksichtigt. Demnach soll der Patient so kurz und sicher (mit bewährten Methoden) sowie so ökonomisch wie möglich behandelt werden. Nach Grawe et al. (1994) wird bei einer Dauer von ca. 15 Sitzungen das Maximum der Effektivität einer Psychotherapie erreicht, nach ca. 40 Sitzungen wird der Therapieerfolg sogar zunehmend geringer. Bei der Frage nach der geeigneten Therapie hat sich z.B. bei Zwangsstörungen und Suchterkrankungen eher die Verhaltenstherapie durchgesetzt, bei narzisstischen Störungen zeigt die tiefenpsychologische Psychotherapie eine höhere Effizienz (Buchkremer & Batra, 2013).
Die Verhaltensanalyse basierend auf dem SORKC-Modell beruht auf der Grundlage des klassischen Konditionierens (Iwan Petrowitsch Pawlow, 1849-1936), Edward Thorndikes (1874-1949) Überlegungen zum instrumentellen Lernen, Frederik Skinners (1904-1990) Prinzipien des operanten Konditionierens sowie Albert Banduras Untersuchungen zum Modelllernen (Wittchen & Hoyer, 2011). Lindsley (1964) erweiterte in seinem SRKC-Modell die Skinner’sche S-R-C-Verhaltensformel um die Variable der Kontingenz (K). Kanfer und Saslow (1969, 1974) ergänzten dieses SRKC-Modell um die Organismusvariable (O) zum SORKC- oder SORCK-Modell (Wittchen & Hoyer, 2011).
Da ein bestimmtes Problemverhalten nicht isoliert betrachtet werden kann, muss man also auch die dem Verhalten vorausgehende Situationen sowie die nachfolgenden Konsequenzen analysieren (Verhaltensanalyse; Wittchen & Hoyer, 2011). Durch diese holistische Betrachtung des Problemverhaltens kann man seine Funktion und die aufrechterhaltenden Faktoren verstehen.
Das SORKC-Modell von Kanfer und Saslow (1969, 1974) geht von der Annahme aus, dass ein Reiz in einer problemrelevanten Situation (Stimulus; S) auf einen Organismus (O) einwirkt, der bei diesem ein bestimmtes Verhalten (Reaktion, R) auf kognitiver, emotionaler, physiologischer oder motorischer Ebene auslöst (sog. vorausgehenden Bedingungen; siehe auch Abbildung 1). Aus der Reaktion ergibt sich anschliessend eine Konsequenz (C) wie z.B. Erleichterung oder Flucht. Läuft dieser Vorgang häufig ab (Kontingenz, K), verstärkt sich die Reaktion und es findet ein Lernvorgang statt. Durch antrainieren anderer Verhaltensweisen oder durch Veränderung von Stimuli könnten beispielsweise bestimmte Problemverhalten wieder verlernt oder umgelernt werden (Wittchen & Hoyer, 2011).
Mit dem SORKC-Modell kann also nicht nur eine systematische Verhaltensanalyse vorgenommen werden, sondern es kann damit auch ein Verfahren zur Verhaltensmodifikation begründet werden (Wittchen & Hoyer, 2011).
Da die Verhaltensanalyse basierend auf dem SORKC-Modell das Problemverhalten in einer konkreten Situation auf einem zeitlichen Kontinuum betrachtet, wird diese Form der Analyse auch als Mikroanalyse oder horizontale Verhaltensanalyse bezeichnet (Abbruzzese & Kübler, 2013).
Ziel der Verhaltensanalyse ist die funktionale, strukturell-topographische, horizontale Beschreibung von Verhalten in Situationen, ist aber auch ausgerichtet auf Therapieplanung und Intervention (Hautzinger, 2011). Es geht also sowohl um bedingende und stabilisierende Zusammenhänge von Verhalten als auch um offene/verdeckte, kognitive, situative, kulturelle, genetische, biographische Aspekte, aber auch das Wirken des Verhaltens auf soziale Systeme wie z.B. Familie und deren Feedback (Hautzinger, 2011).
Die für die horizontale Verhaltensanalyse nach dem SORKC-Modell benötigten Informationen können mittels Selbst- oder Fremdberichten, standardisierten Beobachtungsverfahren für das Verhalten in natürlichen Situationen, Verhaltenstests, Rollenspielen, Inventaren, Fragebogenverfahren etc. erhoben werden (Abbruzzese & Kübler, 2013; Hautzinger, 2011).
Das SORKC-Modell beschreibt demnach die fünf Grundlagen bzw. Komponenten von Lernvorgängen. Bei der verhaltensanalytischen Diagnostik geht es also darum, was eine Person in einer konkreten spezifischen Situation tut. Es wird davon ausgegangen, dass menschliches Verhalten neben physiologischen Faktoren durch die soziale Lerngeschichte, die Persönlichkeit, kognitive Prozesse, situative Bedingungen (Stimuli) und durch die Konsequenzen des Verhaltens kontrolliert wird (Hautzinger, 2011). Die Erhebung und Strukturierung diagnostischer Informationen anhand der (funktionalen) SORKC-Verhaltensgleichung (siehe Abbildung 1) wird in Anlehnung an Tuschen-Caffier und van Gemmeren (2018), Abbruzzese und Kübler (2013), Hautzinger (2011), Wittchen und Hoyer (2011) wie folgt beschrieben:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Horizontale Verhaltensanalyse nach der SORKC-Verhaltensgleichung (entnommen aus Abbruzzese & Kübler, 2013, S. 110).
- Unter Stimulusvariablen (S) werden alle internen und externen Reize zusammengefasst, die dem Problemverhalten vorausgehen und mit diesem potenziell in funktionalem Zusammenhang stehen. Zu den internen Bedingungen (Si) zählen Gedanken (z.B. «Ich schaffe das nicht»), Gefühle (z.B. Ängstlichkeit) oder körperliche Veränderungen (z.B. Anspannung). Die externen Bedingungen (Se) umfassen physikalische Umweltfaktoren (z.B. erhöhte Raumtemperatur) und soziale Merkmale (z.B. strenger Blick einer Person). Darüber hinaus kann präzisiert werden, wie Stimulus (S) und Reaktion (R) verknüpft sind. Je nach Art des Zusammenhangs erhält S die Qualität eines konditionierten Stimulus (CS), eines unkonditionierten Stimulus (UCS), deren Reaktionen biologisch determiniert sind oder eines diskriminativen Hinweisreizes, die die unerwünschte Verhaltensweise sowohl wahrscheinlicher machen als auch hemmen bzw. verhindern (Abbruzzese & Kübler, 2013). Bei der Analyse der S-Variable ist das Nachvollziehen solcher Konditionierungs- und Diskriminationsprozesse wesentlich, da es wichtige Hinweise für eine Verhaltensmodifikation aufzeigen kann (Wittchen & Hoyer, 2011).
- Zu den Organismusvariablen (O) zählen alle problemrelevanten zeit- und situationsübergreifenden, biologischen und psychischen Merkmale der Person, die sein Symptom und Verhalten beeinflussen (z.B. somatische Erkrankung, Intelligenz, Einstellungen, Persönlichkeitsmerkmale, Selbstkonzept, Kontrollüberzeugungen, Sozialisation etc.). Die O-Variable wird als Moderator zwischen der vorausgehenden Situation (S) und dem relevanten Verhalten (R) betrachtet (Abbruzzese & Kübler, 2013). Auch bildet die O-Variable der Mikroanalyse, d.h. der horizontalen Verhaltensanalyse, die Schnittstelle zur Makroanalyse, d.h. der vertikalen Verhaltensanalyse (Abbruzzese & Kübler, 2013), auf deren Ausarbeitung aber in dieser Arbeit nicht näher eingegangen wird.
- Die Reaktion (R) wird mit dem unerwünschten Problemverhalten auf kognitiver Ebene (Rkogn: Gedanken, Vorstellungen; «Weil ich den Lernstoff nicht verstehe, ist die Lehrerin mit mir nicht zufrieden»), auf emotionaler Ebene (Remot: subjektives Erleben/Empfinden; «Ich schäme mich sehr dafür»), auf motorischer Ebene (Rmot: beobachtbares Verhalten; «Ich kann der Lehrerin nicht in die Augen sehen») sowie auf physiologischer Ebene (Rphys: körperliche Reaktion; «Ich laufe im Gesicht rot an und schwitze fürchterlich») beschrieben. Ziel ist die qualitative und quantitative Beschreibung eines klar definierten und vorher spezifizierten problematischen Verhaltens sowie ggf. auch seine Intensität, Dauer und Auftretenswahrscheinlichkeit. Da eine Verhaltensanalyse i.d.R. als Grundlage für eine zielgerichtete Verhaltensmodifikation dient, soll bei der Bearbeitung der Verhaltensvariable R nicht nur das unerwünschte Ausgangsverhalten, sondern auch das erwünschte Zielverhalten möglichst akkurat beschrieben sein (Wittchen & Hoyer, 2011).
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