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Forschungsarbeit, 1998
24 Seiten
1 Soziale Probleme und soziologische Chancen
2 Der Forschungsstand zum Problem des Heimeintrittes
2.1 Institutionalisierungsquote und Institutionalisierungsrate
2.2 Subjektive Umzugsgründe
2.3 Objektive Umzugsgründe
3 Zusammenfassung und Lösungsansätze
4 Literatur
Über den Autor
Die demographische Alterung der bundesdeutschen Gesellschaft wird in den nächsten Jahren weiter voranschreiten. In der Sozialpolitik ist diese Entwicklung bereits eines der beherrschenden Themen. So sollen politische Maßnahmen in den verschiedensten Bereichen die Rahmenbedingungen schaffen, um die prognostizierte Entwicklung bewältigen zu können. Die Neuregelung der Vormundschaft und der Gebrechlichkeitspflegschaft durch das Betreuungsgesetz (BtG), die Implementierung der Sozialen Pflegeversicherung, die Neufassung des Heimgesetzes (HeimG) und staatliche Modellprogramme wie etwa die Seniorenbüros seien exemplarisch genannt. In der Folge ist in den letzten Jahren seitens politischer und anderer Institutionen die Nachfrage nach geeigneter wissenschaftlicher Forschung zu diesem Problemfeld gestiegen. Hierbei handelt es sich zu einem großen Teil um genuin soziologische Fragestellungen. Und: Die Soziologie hat die Theorie- und die Methodenkompetenz, diese Fragestellungen anzugehen. Vor diesem Hintergrund kann die zunehmende Bedeutung dieses expandierenden Arbeitsfeldes für Sozialwissenschaftler nicht genug betont werden.
Ein wichtiger Bereich innerhalb dieses Problemfeldes ist der Umzug älterer Menschen in ein Alten- und Pflegeheim. Trotz der zunehmenden Bedeutung dieses Themas ist - anders als in den USA – für die BRD bis dato ein gravierendes Forschungsvakuum zu bemängeln. So fehlt ein umfassendes theoretisches Modell zum Prozeß des Heimeintrittes - bis auf einige ökonomische Modelladaptionen (z. B. der moral-hazard-Ansatz) - bislang völlig (Schulz-Nieswand 1990). Auch empirische Forschungsarbeiten zu den Gründen oder Determinanten des Heimeintritts finden sich in der BRD bislang vor allem wegen des Mangels an repräsentativem Datenmaterial nur vereinzelt. Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über die vorliegende empirische Forschung zum Thema des Heimeintrittes älterer Menschen.[1] Unter soziologischer Perspektive läßt sich diese Bevölkerungsgruppe (Aussagegesamtheit) in zwei Subgruppen[2] unterteilen: einmal in Personen, die in Privathaushalten leben, und zum anderen in die sog. Heimbevölkerung, in die Personen also, die in Institutionen (bspw. in Altenheimen, Altenpflegeheimen und mehrgliedrigen Einrichtungen) untergebracht sind.
Nun ist die Zugehörigkeit zu einer der beiden Gruppen kein unveränderliches Merkmal wie etwa das Geschlecht. Vielmehr kann die Zugehörigkeit zu einer der beiden Gruppen “Heimbewohner / Nichtheimbewohner” als ein reversibler Prozeß betrachtet werden. Dieser Prozeß kann von der betreffenden Person im Lebensverlauf (auch mehrfach) in die eine und andere Richtung durchlaufen werden: Personen siedeln von Privatwohnungen in Heime um oder ziehen vom Heim aus in Privathaushalte (zurück). Dieser Beitrag befaßt sich mit der erstgenannten Prozeßrichtung: Welche Ursachen und Lebensumstände bewegen einen alten Menschen zu dem Entschluß, in ein Heim zu ziehen und welche subjektiven Beweggründe geben alte Menschen dabei an? Lassen sich Prädiktoren ausmachen, anhand derer sich die Bevölkerungsgruppen in Privathaushalten und in Heimen unterscheiden lassen?
Relativ zur über 60jährigen Gesamtbevölkerung stagniert der Anteil an Heimplätzen für diese Bevölkerungsgruppe seit Jahren. Dieser gemeinhin als Institutionaliserungsquote interpretierte Quotient bewegt sich seit 1984 zwischen 3,8 und 4,0 Prozent (Statistisches Bundesamt 1996, BMFuS 1993, Hinschützer/Momber 1984, Klein et al. 1997). Allerdings besagt die Institutionalsierungsquote nichts über die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens in ein Heim umzuziehen. Zwischen Institutionalisierungsquote und der Institutionalisierungsrate ist also zu unterscheiden (Klein et al. 1997). Ebenso verborgen bleiben die der Institutionalisierungsquote zugrundeliegenden absoluten Populationsgrößen. Bei einem Zeitvergleich von Heimplatzzahlen mit der Zahl der Gesamtbevölkerung über 60 Jahre zeigt sich nämlich, daß mit der Altenpopulation auch die absolute Platzzahl in Alteneinrichtungen seit Jahren kontinuierlich ansteigt. Mitte 1994 existierten in der Bundesrepublik 682.220 Heimplätze in derartigen stationären Einrichtungen (Statistisches Bundesamt 1996)[3]. Betrachtet man die aktuellen Institutionalisierungsquoten bestimmter Altersgruppen, ergibt sich folgendes Bild (Abbildung 1).
Siehe Abbildung 1 im Anhang.
Bemerkenswert sind dabei die hohen Institutionalisierungsquoten in den beiden oberen Altersgruppen. Von bundesweit 0,5 Prozent der 60-65jährigen verdoppelt sich die Institutionalisierungsquote fast exakt alle 5 Jahre auf schließlich 34% bei den über 90jährigen (Abbildung 1).
Bei der Untersuchung der Gründe für einen Heimeintritt gibt es grundsätzlich zwei unterschiedliche Möglichkeiten der methodischen Herangehensweise: Die Erfassung subjektiver Heimeintrittsgründe durch die direkte Befragung des Heimbewohners und die multivariate Analyse nach objektiv meßbaren Variablen, die den Heimeintritt determinieren.
Zunächst zur direkten Befragung der Heimbewohner selbst nach ihren Beweggründen für die Heimübersiedlung. Das Ergebnis besteht aus retrospektiven Angaben, bei denen mögliche Verzerrungen durch nachträgliche Rationalisierungen des oft schon Jahre zurückliegenden Entscheidungsprozesses bedacht werden müssen (Tews 1979: 332).[4] Abbildung 2 (im Anhang) liefert eine Übersicht zu Erhebungen, in denen Heimbewohner ex post nach den Gründen für den zurückliegenden Umzug befragt wurden. Dabei fällt zunächst auf, daß zu subjektiven Heimeintrittsgründen bis auf eine Ausnahme bislang überhaupt keine für die Gesamt-BRD repräsentativen Angaben existieren. Die aktuellste und umfangreichste Erhebung ist in diesem Zusammenhang eine bundesweite Repräsentativbefragung von über 1560 Heimbewohnern (Gesamtstichprobenumfang N = 3.144) in insgesamt 101 stationären Alteneinrichtungen im Rahmen der Erhebung des Altenheimsurveys aus dem Jahre 1996 (Klein/Gabler 1996).
In der Synopse fallen gesundheitliche Beeinträchtigungen als die wichtigsten Umzugsgründe auf (Abbildung 2). Über die Hälfte der Heimbewohner geben ex post akute Erkrankungen oder daraus resultierenden Hilfe- und Pflegebedarf als Eintrittsgrund an (Beske 1960, Blume 1962, Falk 1978, Schmitz-Scherzer et al. 1978, Hirschfeld 1994, Schneider 1998a). Die bei Schneider (1998a) am häufigsten genannten gesundheitlichen Gründe waren Unfallfolgen, die Folgen eines Sturzes oder Behinderungen. Bei letzteren wurden am häufigsten Geh-, am zweithäufigsten Sehbehinderungen genannt. Ebenfalls häufig wurde ein Schlaganfall oder eine psychische Erkrankung (v. a. Alkoholismus) als Grund genannt. Bei vier von fünf Bewohnern, die gesundheitliche Gründe angaben, trat kurz vor dem Heimeintritt eine gesundheitliche Verschlechterung ein.
Am zweithäufigsten wurden in bisherigen Erhebungen Probleme mit der Wohnung und danach Netzwerkwanderungen als subjektive Umzugsgründe angeführt. In der Synopse machen dort die Angaben ‘Kündigung’ und ‘Mieterhöhung’ einen verhältnismäßig hohen Anteil der angegebenen wohnungsbedingten Gründe aus (Abbildung 2). Unklar bleiben aber meist die eigentlichen hinter einer Kündigung stehenden Gründe und die Tatsache, welche Vertragspartei (Mieter oder Vermieter) die Kündigung aussprach. Schmitz-Scherzer et al. (1978) haben hier eine genauere Kategorisierung gewählt. Dabei zeigt sich, daß Wohnungsmängel mit 19% aller angegebenen Gründe einen entscheidenden Anteil an den Ursachen einer Wohnungsaufgabe ausmachen. Bei den Netzwerkwanderungen fällt ein großer Anteil an Umzügen auf, die von Einsamkeit oder dem Verlust des Partners motiviert sind. Bei Schneider (1998a) machen die Gründe “Einsamkeit / Partnerverlust / Alleinsein” zusammengenommen etwa drei Viertel der Netzwerkgründe aus. Am zweithäufigsten wurde dort unter der Kategorie ‘soziales Netzwerk’ der Umzug zu nahestehenden Dritten als Wanderungsmotiv angeführt. Meist handelt es sich dabei um Umzüge in die Anstaltswohnung des Partners, der dort bereits untergebracht war. Ein kleinerer Teil zog in die Nähe von sonstigen Verwandten oder Bekannten.
Im Vergleich zu vorherigen Befragungen zu dem Eintrittsgrund (Beske 1960, Hirschfeld 1994) fällt auf, daß dort Netzwerkwanderungen einen sehr viel geringeren Anteil ausmachen als es bei Schneider (1998a) mit 17% der Fall ist. Dagegen haben wohnungsbedingte Gründe in der älteren Literatur (Beske 1960, Blume 1962, Falk 1978) ein vergleichsweise größeres Gewicht. Ursächlich könnte der bei bisherigen Erhebungen der große Anteil an Nennungen des Grundes ‘Kündigung der alten Wohnung’ sein. Die dahinterstehende Ursache (Kündigung wegen Ausstattungsmängeln, Partnerverlust, Krankheit) bleibt in der Literatur meist verborgen. Schneider (1998a) zeigt, das der Kündigungsgrund oft in einer nicht altengerechten Ausstattung begründet liegt: Einige Wohnungen seien nicht barrierefrei, andere lägen in für Gehbehinderte schwer erreichbaren Stockwerken. Meist fehlte in solchen Fällen außerdem ein Aufzug. Oft waren die Wohnungen auch mit veralteter Heizungstechnik ausgestattet (Kohlefeuerung), so die Bewohner.[5]
Abschließend ist bei direkten Befragungen nach den subjektiven Heimeintrittsgründen die Problematik der Nichtbefragbaren zu beachten. Von Salaske (1997) ist beispielsweise bekannt, daß der Hauptausfallgrund i. d. R. im Gesundheitszustand der Befragten liegt, so daß, bezogen auf die Aussagegesamtheit, gesundheitliche Gründe für den Heimeintritt ein noch viel stärkeres Gewicht haben dürften. So ist zu vermuten, daß beispielsweise die Bedeutung des Hirnschlages als Heimeintrittsgrund bei derartigen Befragungen durch die Nichtberücksichtigung der Nichtbefragbaren regelmäßig weit unterschätzt wird.
Vergleicht man kontrastierend Erhebungen zu Umzugsgründen älterer Menschen, die, aus Privathaushalten kommend, in Privathaushalte ziehen, fallen folgende Besonderheiten auf: Der Gesundheitszustand spielt dort als Migrationsgrund eine untergeordnete Rolle. Dagegen finden nicht wenige Wohnortwechsel in eine geographische Wunschgegend (sog. “Ruhesitzwanderungen” Falk 1978, Friedrich 1994) oder in die Nähe von Verwandten oder Bekannten statt.[6] Wanderungsmotive also, die offenbar für einen Heimeintritt keine Relevanz haben.
Einen völlig anderen Zugang zur Beforschung des Heimeintrittes bieten multivariate statistische Verfahren. Im Gegensatz zur Auswertung subjektiv angegebener Wanderungsmotive besteht bei der multivariaten Analyse nicht nur die besondere Chance, objektiv meßbare Prädiktoren aufspüren zu können, die den Heimeintritt begünstigen, sondern genauso auf Prädiktoren zu stoßen, die eine Institutionalisierung unwahrscheinlicher machen. Im übertragenen Sinn kommt diesem zweiten Aspekt die Frage an die Nichtinstitutionalisierten gleich, warum sie (bislang noch) nicht in eine stationäre Einrichtung übergesiedelt sind. Dieser entscheidende Vorteil multivariater Verfahren, begünstigende wie hemmende Faktoren gleichermaßen aufdecken zu können, macht diese Vorgehensweise so fruchtbar. Ungeachtet der subjektiv angegebenen Gründe werden dabei Merkmale des Befragten mit dem Ereignis ‘Heimeintritt’ in Beziehung gesetzt. Dies geschieht oft mit Hilfe der Regressionsanalyse. Diesem Verfahren liegt die Annahme einer kausalen, also asymmetrischen Beziehung von den explikativen zu der abhängigen Variablen zugrunde. Eine Annahme, die zuvor theoretisch zu begründen ist. Da die abhängige Variable bei der Analyse des Heimeintrittes auf nominalem Skalenniveau vorliegt (Person lebt in Heim / Person lebt nicht in Heim), findet in den diesbezüglichen Veröffentlichungen die logistische Regressionsrechnung Anwendung. Alternativ bedienen sich einige Autoren der Diskriminanzanalyse - ein Verfahren, das die Grundgesamtheit anhand zu bestimmender Merkmalskombinationen in zwei Gruppen zu trennen vermag - wie auch der Ereignisanalyse (Klein/Salaske 1994, Klein et al. 1997). Auch zu den objektiven Heimeintrittsgründen existieren anders als in den U.S.A. für Gesamtdeutschland fast keine repräsentative Analysen Die Veröffentlichung von Klein/Salaske (1994) zu Determinanten des Heimeintritts bezieht sich auf acht westdeutsche Wellen des Sozio-ökonomischen Panels und umfaßt 1.230 über 65jährige Personen, unter denen im Untersuchungszeitraum lediglich 55 in eine stationäre Alteneinrichtung übersiedelten. Die Untersuchung von Klein et al. (1997) verdient unter zwei Aspekten besondere Erwähnung: Zum einen stellt sie mit einem Stichprobenumfang von N = 3.144 die erste und bislang einzige bundesweit repräsentative Untersuchung des Heineintrittsrisikos dar. Zum anderen ist es dort durch eine neuentwickelte Operationalisierungsmethode möglich, das bedeutende Problem der Verzerrungen durch Antwortausfälle zu lösen. Die folgende Aufstellung bietet einen Überblick über empirische Arbeiten, die das Heimeintrittsrisiko mit einer der besprochenen Methoden untersucht haben.
[...]
[1] Einzelheiten zur Operationalisierung der Aussagegesamtheit “ältere Menschen” finden sich in Abb. 1.
[2] Die Gruppensoziologie differenziert zwischen sozialen Gruppen und sozialen Kategorien. Soziale Gruppen unterscheiden sich von sozialen Kategorien v.a. durch die Existenz dauerhafter face-to-face-Interaktionen. Strenggenommen wird in der Folge der Begriff ‘Gruppe’ also im Sinne einer sozialen Kategorie verwendet.
[3] Auch wenn diese Heimplatzzahlen nicht ohne weiteres mit institutionalisierten Personen gleichgesetzt werden können (Schneider 1998a).
[4] Einer anderen sehr interessanten Herangehensweise bedienen sich die wenigen existierenden ex-ante-Befragungen zu potentiellen Gründen eines fiktiven Heimeintrittes (Lehr 1991).
[5] Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß auch die neue Wohnung in der stationären Alteneinrichtung nicht in allen Bereichen eine Verbesserung verspricht. Bei einer Besichtigung von insgesamt 31 ost- und westdeutschen Alteneinrichtungen (12 Altenheime, 11 Altenwohnheime und 8 Altenwohnungen) wies nur ein Viertel der Wohnungen eine angemessene Sanitärausstattung auf (Jacobs 1994: S.35).
[6] In Ermangelung einer etablierten Bezeichnung für den Umzug zu oder in die Nähe von Angehörigen oder Bekannten sei hier der Terminus “Konvergenzwanderung” in Abgrenzung zu einem Umzug aus Gründen der geographischen Wohnqualität (Ruhesitzwanderung) vorgeschlagen.