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Essay, 2022
11 Seiten
Einleitung
1. Diversion - Was ist das genau?
2. Welche Vorteile hat das Diversionsverfahren?
3. Die Jugendhilfe im Strafverfahren als Bindeglied zwischen Adressat:innen und anderen Akteur:innen der Kinder- und Jugendhilfe
Fazit
Literaturverzeichnis
Der hier vorliegende Essay soll sich mit der Frage befassen, inwiefern das Diversionsverfahren die Möglichkeit bietet, straffällige Jugendliche an die Leistungen der Jugendhilfe anzubinden. Deshalb sollen hier konkret die Vorteile einer Diversion herausgearbeitet werden, um anschließend zu argumentieren, inwiefern Unterstützungsmöglichkeiten durch die Jugendhilfe im Strafverfahren initiiert werden können. Knapp umschrieben, handelt es sich bei einer Diversion um eine Ableitung oder Umleitung aus dem Strafverfahren heraus (vgl. Nix et al. 2011, S. 131). Die Täter:innen sollen vom System formeller Sozialkontrolle weggeführt werden (vgl. ebd.). Durch die Diversion sollen verschiedene Ziele erreicht werden, die einerseits für den:die Täter:in, die nahen Angehörigen wie die Eltern, aber auch für die Justiz von Vorteil sind. Auch der Jugendhilfe im Strafverfahren (JuHiS) werden durch Diversionsverfahren flexible Handlungsspielräume eingeräumt, die für die Erziehungs- und Entwicklungsförderung nützlich und notwendig sein können.
Zunächst soll kurz durch einen Blick in die gesetzliche Grundlage erläutert werden, worum es sich bei Diversion konkret handelt. Anschließend soll es um die angedeuteten Vorteile der Diversion für die Täter:innen gehen. Im Anschluss soll konkret thematisiert werden, inwiefern die Jugendhilfe im Strafverfahren als Bindeglied zwischen anderen Ak- teur:innen der Kinder- und Jugendhilfe wirken können, um die Erziehung und Entwicklung der Adressat:innen angemessen zu unterstützen.
Um zu erläutern, worum es sich bei der Diversion genau handelt, lohnt sich ein näherer Blick in §§ 45, 47 des Jugendgerichtsgesetzes (JGG). Grundlegend gilt zwischen einer Diversion durch die Staatsanwaltschaft und einer Diversion durch den:die Jugendrichter:in zu unterscheiden.
Nach § 45 Abs. 1 JGG kann der:die Staatsanwalt/-anwältin von der Strafverfolgung ohne Zustimmung des Richters:der Richterin absehen, sofern die Voraussetzungen nach § 153 Strafprozessordnung1 (StPO) vorliegen. Außerdem kann gem. Abs. 2 durch den:die Staatsanwalt:anwältin von der Anklageerhebung abgesehen werden, sofern bereits eine erzieherische Maßnahme eingeleitet ist oder bereits durchgeführt wurde. Wenn der:die Jugendliche geständig ist, steht es der Staatsanwaltschaft offen, durch den:die Jugendrichter:in die Erteilung einer Ermahnung oder Weisungen gem. § 10 Abs. 1 S. 3 Nr. 4,7 und 9 zu erreichen, sodass es gegebenenfalls nicht zu einer Anklageerhebung kommen muss. Sobald der:die Jugendrichter:in dieser Anregung statt gibt, kann die Staatsanwaltschaft von der Strafverfolgung absehen, wenn den Weisungen und Auflagen nachgekommen wurde.
Im Fall einer richterlichen Diversion gem. § 47 JGG kann das Verfahren gem. Abs. 1 Nr. 1 ebenfalls eingestellt werden, sofern die Voraussetzungen gem. § 153 StPO vorliegen, eine erzieherische Maßnahme gem. § 45 Abs. 2 durchgeführt oder eingeleitet wurde (vgl. Nr. 2), der:die Richter:in eine erzieherische Maßnahme anordnet (vgl. Nr. 3) oder der:die Angeklagte mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist (vgl. Nr. 4). Für die Erteilung von Auflagen oder Weisungen kann dem:der Jugendlichen eine Frist von sechs Monaten gesetzt werden, in denen er:sie den Auflagen nachzukommen hat (vgl. S. 2). Zudem ist es möglich, dass der Einstellungsbeschluss in der Hauptverhandlung ergeht (vgl. Abs. 2 S. 2). Wenn neue Tatsachen oder Beweismittel auftauchen, kann wegen derselben Tat von neuem, Anklage erhoben werden (vgl. Abs. 3).
Als grundsätzliche Vorteile eines Diversionsverfahrens nennen Nix et al. (2011, S. 131) die Vermeidung von Stigmatisierung der Betroffenen durch Abbau formeller Verfahren; schnellere Reaktionen, damit der Bezug zwischen Tat und Reaktion erhalten bleibt; flexiblere Problemlösungshilfen für die Betroffenen sowie den Abbau überschließender formellerer Sozialkontrolle und die Entlastung der Justiz. Während das letztere Argument der Entlastung von Staatsanwaltschaft und Gerichten dient, sind die ersteren Argumente auf den:die Tä- ter:in bezogen, mit dem Ziel und Zweck, die Persönlichkeit zu fördern und nicht durch formelle und aufwendige Gerichtsverfahren den:die Täter:in in seiner:ihrer Persönlichkeit zu destabilisieren. Die nun folgende Argumentation, die sich für Diversion positionieren soll, befasst sich mit zwei der drei Trias von Jugendkriminalität (Intensivtäterschaft als dritte Trias soll hier ausgeklammert werden), dem Erklärungsansatz „Labeling Approach“ sowie im anschließenden Kapitel der Initiierung erzieherischer Maßnahmen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe.
Die erste der drei Trias der Jugendkriminalität ist die Ubiquität. Nach Boers (2019, S. 10) werde in der Kriminologie unter Ubiquität die weite Verbreitung der Delinquenz im Jugendalter bezeichnet. Die Begehung leichter und mittelschwerer Delikte werde als regulärer Prozess der Normalsozialisation betrachtet; Normen würden während der pubertären Entwicklungsphase in sozialen Interaktionen erlernt und die Grenzüberschreitung diene dazu, die Durchsetzung der von Erwachsenen definierten Regeln zu testen (vgl. ebd., S. 11). Zudem könnten in der frühen Jugendphase hinsichtlich sozialer und persönlicher Merkmale der Täter:innen kaum Unterschiede festgestellt werden (vgl. ebd., S. 12).
Die zweite der drei Trias ist die Spontanbewährung. Die Spontanbewährung (spontan = aus sich selbst heraus) beinhaltet, dass die Rückgänge von Delinquenz im Jugendalter zwar nicht ohne Kontrolle, aber ohne formelle Kontrollinterventionen erfolgen (vgl. ebd.). Auch hier wird auf den Ausdruck einer im Kindes- und Jugendalter verlaufenden Normalsozialisation verwiesen, deren Lern- und Kontrollprozesse in den primären Sozialisationsinstanzen wie Familie, Schule und Freunden verlaufen (vgl. ebd.). Boers definiert auch an dieser Stelle, dass die in den 1980er Jahre eingeführte Diversion, die im Jahr 2015 in 76 % bei jugendlichen Straffälligen angewandt wurde, mit Blick auf die Spontanbewährung notwendig sei (vgl. ebd.). „Die Diversion vermeidet, solche normsozialisatorischen Prozesse strafrechtlich zu konterkarieren“ (ebd.). Empirisch konnte das Phänomen der Spontanbewährung mithilfe der Langzeitstudie „Kriminalität in der modernen Stadt“, in der über 13 Jahre hinweg Jugendliche, Heranwachsende und Erwachsene befragt wurden, um Lebensverläufe der Delinquenz zu untersuchen, nachgewiesen werden (vgl. Bentrup 2019, S. 95-96). Es wurde festgestellt, dass die Täter:innenanteile vom 13. bis zum 15. Lebensjahr zugenommen haben, und ab dem 16. Lebensjahr ein starker Rückgang, sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern, zu verzeichnen war (vgl. Walburg/Verneuer 2019, S. 132). Dieser Trend setzte sich bis zum 24. Lebensjahr stets fort (vgl. ebd.). Auch wenn die Stichprobengröße im Erhebungszeitraum (hier 2002 bis 2013) zum Teil voneinander abwich, kann hier dennoch die klare Tendenz zum von Boers und Reinecke (2019, S. 11) erwähnten glockenförmigen Verlauf der Alterskurve kriminologischer Prävalenzraten verdeutlicht werden.
Mit Blick auf das zweite Argument, die Stigmatisierung von Betroffenen zu vermeiden, soll an dieser Stelle auf einen spezifischen Erklärungsansatz zurückgegriffen werden, konkret den Etikettierungsansatz, auch im englischen „Labeling Approach“ genannt. Hinter dem Ettiketierungsansatz stecken verschiedene Namen, wie unter anderem die Stigmatisierungstheorie, Definitionansatz oder sozialer Reaktionsansatz, und steht in enger Verbindung mit dem Interaktionsansatz beziehungsweise konstruktivistischen Ansatz nach Durkheim (vgl. Müller 2011, S. 170). Labeling Approach kombiniert die Idee, dass Abweichung, neben einer Eigenschaft des Verhaltens, ebenfalls durch die Zuschreibung normsetzender und normdurchsetzender gesellschaftlicher Instanzen produziert wird, und dass gewonnene Selbstbild durch die Umwelt als Grundlage des menschlichen Verhaltens dient (vgl. ebd.). Bley (2020, S. 30) erläutert einige Thesen nach Sack (1968), die den Labeling Approach- Ansatz untermauern. So kann zum einen festgehalten werden, dass keine Verhaltensweise a priori die Qualität „abweichend“ enthalte und diese, wenn, durch Normsetzer:innen und Normdurchsetzer:innen, wie zum Beispiel Polizei, Justiz, Vorgesetzte oder Eltern, zugeschrieben würden (vgl. ebd.). Außerdem würden Mechanismen der „self-fulfilling prophecy“ in Bewegung gesetzt, die in Zukunft weitere Verhaltensweisen erwarten ließen, die als abweichend bezeichnet werden (vgl. ebd.).
„Je stärker die soziale Umwelt und die Institutionen der sozialen Kontrolle einer Person ein stigmatisierendes Merkmal bzw. abweichendes Verhalten zuschreiben, desto mehr vermindern sich die konformen Handlungsmöglichkeiten dieser Person und Este eher übernimmt diese Person die ihr zugeschriebenen Merkmale in ihr Selbstbild. Dieser Ansatz führte zur Einführung von Diversion als Alternative zur Sanktion “ (ebd., S. 31, Hervorhebung NH).
Abschließend lässt sich feststellen, dass zwei starke Argumente für die Durchführung von Diversionsverfahren sprechen, als für die Anklageerhebung und die Durchführung eines formellen Verfahrens vor Gericht: Zum einen die Erklärung, dass Kriminalität im Jugendalter als Bestandteil der Normalsozialisation zu begreifen ist, und andererseits, dass ein informelles Verfahren, außerhalb des Justizsystems, weniger eine Selbstettiketierung der Jugendlichen wahrscheinlich macht. Unter Berücksichtigung dieser zwei Aspekte stellt sich dennoch die Frage, ob ein Eingriff in das erzieherische Geschehen der Jugendlichen/Heranwachsen- den gegebenenfalls sinnvoll ist, um einerseits zu verdeutlichen, dass das Verhalten gesellschaftlich nicht akzeptiert ist, und andererseits präventiv weiterem kriminellen Handeln entgegenzuwirken. Dafür hat die Jugendhilfe im Strafverfahren einige Möglichkeiten, die sie in Kooperation mit anderen Diensten des Jugendamtes, wie zum Beispiel dem ASDrea- lisieren kann.
Mit der Durchführung einer Diversion wird die Verwirklichung des Grundgedankens aus § 1 SGB VIII ermöglicht, da aus einem straffälligen Anlass heraus geprüft werden, ob neben Reaktionen durch die Polizei, Familie oder Schule die Kinder- und Jugendhilfe zu Entwicklung und Förderung der Jugendlichen oder Heranwachsenden beitragen kann (vgl. LWL- Landesjugendamt 2016, S. 67). Unter der Berücksichtigung des sozialpädagogischen Gedankens, dass Jugendliche nicht „Probleme machen“, sondern „Probleme haben“, sollte vor dem Hintergrund einer Straftat und bereits erfolgter oder angeregter außer-justizieller Reaktion geprüft werden, ob weitere formelle Maßnahmen der Erziehungshilfe gemäß §§ 27 ff. SGB VIII als sinnvoll und nützlich erscheinen (vgl. ebd.). Die Mitwirkung des Jugendamtes in jugendgerichtlichen Verfahren beziehungsweise die Jugendhilfe im Strafverfahren (Ju- HiS) legitimiert sich über § 52 SGB VIII als auch über §§ 38, 50 JGG, wobei im JGG die JuHiS konkret beim Namen genannt wird (hier aber noch Jugendgerichtshilfe).
In § 52 Abs. 2 SGB VIII wird deshalb formuliert, dass das Jugendamt rechtzeitig zu prüfen hat, ob für den Jugendlichen oder den jungen Volljährigen Leistungen der Jugendhilfe oder anderer Sozialleistungsträger in Betracht kommen. Das Einleiten einer entsprechenden Maßnahme oder eine bereits bestehende Durchführung kann dazu führen, wie bereits im vorletzten Punkt erläutert, dass die Verfolgung der Straftat gem. § 45 JGG, oder das Verfahren gemäß § 47 JGG eingestellt werden kann. Die in § 52 Abs. 1 SGB VIII vorgesehene behördenübergreifende Zusammenarbeit im Rahmen von gemeinsamen Konferenzen oder vergleichbaren gemeinsamen Gremien, beinhaltet auch die jugendamtsinterne Zusammenarbeit. Da sich die Hilfen des SGB VIII auf den Gedanken stützen, junge Menschen in ihrer Entwicklung und Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu unterstützen (§ 1) sowie Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung zu beraten und unterstützen (§ 1 Abs. 3 Nr. 3), müssen sich Fachkräfte der Jugendhilfe die Frage stellen, ob familienunterstützende oder familienergänzende Leistungen in Betracht kommen könnten. Zwar formulieren Goldberg und Trenczek (2014, S. 274) die hier vorliegende Annahme, dass defizitäre und belastende Sozialisations- und Lebensumstände sowie mangelnde Handlungskompetenzen Kriminalität beeinflussen, mit Bezug auf die mehrfach straffälligen Jugendlichen und Heranwachsenden, aber auch bei erstmals in Erscheinung getretene Adressat:innen der Jugendhilfe im Strafverfahren können unter Umständen Problemlagen das Alltagsbild belasten.
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1 Absehen von der Verfolgung bei Geringfügigkeit, wenn zum Beispiel die Schuld des Täters/der Täterin als gering angesehen wird, oder kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht.