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Hausarbeit, 2022
33 Seiten, Note: 1,7
1. Einleitung
2. Der theoretische Rahmen: Von der nivellierten Mittelschicht der Nachkriegszeit zur 3+1-Struktur des 21. Jahrhunderts
3. Die Verortung der Alternativen für Deutschland und des Bündnis 90/Die Grünen in Reckwitz‘ Klassenmodell anhand ihrer Einstellung zur gleichgeschlechtlichen Ehe
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
6. Anhang
Tabelle 1: Vergleich der zentralen Merkmale von alter und neuer Mittelklasse
Tabelle 2: Anzahl der jeweiligen Textpassagen nach entsprechender Definition in den Wahlprogrammen der AfD
Tabelle 3: Anzahl der jeweiligen Textpassagen nach entsprechender Definition in den Wahlprogrammen der Grünen
Tabelle 4: Anzahl der jeweiligen Textpassagen nach entsprechender Definition in den Wahlprogrammen der AfD im Jahr 2017
Tabelle 5: Anzahl der jeweiligen Textpassagen nach entsprechender Definition in den Wahlprogrammen der Grünen im Jahr 2017
Tabelle 6: Anzahl der jeweiligen Textpassagen nach entsprechender Definition in den Wahlprogrammen der AfD im Jahr 2021
Tabelle 7: Anzahl der jeweiligen Textpassagen nach entsprechender Definition in den Wahlprogrammen der Grünen im Jahr 2021
Tabelle 8: Codierschmema Alternative für Deutschland
Tabelle 9: Codierschema Bündnis 90/Die Grünen
Seit mehreren Jahren beschäftigt das Phänomen des Rechtspopulismus zunehmend die Öffentlichkeit, Medien, Forschung und Politik. Seinen vorläufigen Höhepunkt fand der Rechtspopulismus 2016 mit der Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Aber auch in anderen Ländern der westlichen Welt, wie den Niederlanden, Großbritannien, Italien, Ungarn oder Frankreich gewinnen rechtspopulistische Parteien und Politiker1 an Einfluss und sind zunehmend in Parlamenten und Regierungen vertreten oder führen diese an. Vor der Bundesrepublik Deutschland macht der Rechtspopulismus in Form der selbsternannten Alternative für Deutschland (AfD) ebenfalls nicht halt.2 Auf der anderen Seiten haben links-grüne Parteien und Bewegungen in den letzten Jahren immens an Zulauf gewonnen. So bringt Fridays for Future zu Spitzenzeiten Millionen Menschen weltweit gleichzeitig auf die Straße. Die Umweltpartei Bündnis 90/Die Grünen (Grüne) erzielte bei der letzten Bundestagswahl in Deutschland mit 14,8 Prozent ihr bis zu diesem Zeitpunkt bestes Ergebnis und ist seither in einer Ampel-Koalition an den Regierungsgeschäften beteiligt. In anderen europäischen Ländern sind grüne Parteien ebenso Teil der Regierung. Eine Erklärung für den Zuwachs an Parteien und Bewegungen am rechten wie linken Rand und die zunehmende Aufsplittung des Parteienspektrums in links und rechts liefert der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz 2019 in seinem Buch Das Ende der Illusionen: Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne.
Nach Reckwitz entwickelte sich die westliche Gesellschaft zu Beginn der 1970er Jahre von einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft mit einer breiten, verhältnismäßig homogenen Mittelschicht zu einer ausdifferenzierten 3+1-Gesellschaft.3 Treiber dieser Entwicklung sind die spätmodernen Prozesse der Postindustrialisierung, der Bildungsexpansion und des Wertewandels. Bei diesen Entwicklungen fühlt sich die alte Mittelschicht zunehmend vernachlässigt, abgehängt und von ihrer Umwelt entfremdet. Politisch finden diese Gefühle Ausdruck in einer Neigung, rechtspopulistische Parteien zu wählen. Die akademische und kosmopolitische neue Mittelschicht hingegen profitiert von diesen Prozessen und fühlt sich links-liberalen Parteien zugehörig.
Wenn Reckwitz mit seinen Annahmen Recht hat, sollten rechtspopulistische Parteien Positionen der alten Mittelklasse vertreten, linke Parteien hingegen Positionen der neuen Mittelklasse. Inwieweit lassen sich rechtspopulistische und links-liberale Parteien in Reckwitz‘ Gesellschaftmodell einordnen? Lassen sich Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zwischen den Parteien finden? Ergeben sich Muster in der Argumentation? Dies soll anhand der Einstellung deutscher Parteien zur gleichgeschlechtlichen Ehe untersucht werden. Hierbei eignet sich Deutschland, da es erstens mit seinem Mehrparteiensystem eine reichhaltige Auswahl an Parteien aus dem rechten wie linken politischen Spektrum bietet. Zweitens ist die Thematik der gleichgeschlechtlichen Ehe im Gegensatz zu anderen Länder verhältnismäßig neu.4
Als Partei der alten Mittelschicht wird die AfD in die Untersuchung einbezogen. Bei ihr handelt es sich um eine rechtspopulistische Partei. Das Profil des AfD-Wählers ähnelt ebenfalls dem der alten Mittelschicht. So sind Wähler der AfD tendenziell weniger gebildet als die Wähler anderer Parteien (Lewandowsky 2018: 165-166). Ihr geringer Anteil an Arbeitslosen, gepaart mit einer durchschnittlichen Bildung, lässt auf eine durchschnittliche Einkommenssituation schließen (Lewandowsky 2018: 165). Deshalb sollte sie Positionen der alten Mittelklasse vertreten und die gleichgeschlechtige Ehe ablehnen. Als Vertreter der neuen Mittelklasse dienen die Grünen. Diese Partei vereint in ihrer Wählerschaft Merkmale der neuen Mittelklasse. So sind ihre Wähler überwiegend im urbanen Raum zu finden, überdurchschnittlich gebildet und arbeiten vorwiegend in der Wissensökonomie. Gleichzeitig handelt es sich bei dem grünen Wähler um eine gut situierte Person (Probst 2013: 530–532, 534).5 Lothar Probst sieht den grünen Wähler deshalb folgerichtig „vor allem in den neuen Mittelschichten beheimatet“ (Probst 2013: 531). Mit der AfD und den Grünen lassen sich damit typische Vertreter ihrer jeweiligen Klasse miteinander vergleichen. Sollten sich Reckwitz‘ Annahmen bewahrheiten, hätte sich die Spaltung der Gesellschaft damit bis in den politischen Raum vollzogen, mit allen damit einhergehenden Konsequenzen.
Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Zuerst wird der begriffliche Rahmen erläutert. Hierbei wird sich insbesondere auf die für die Forschungsfrage relevanten Klassen der alten und neuen Mittelklasse konzentriert. Anschließend wird im empirischen Teil ausführlicher auf die Methodik eingegangen und die Parteien hinsichtlich ihrer Haltung zur gleichgeschlechtlichen in das Gesellschaftsmodell von Reckwitz eingeordnet. Es wird erwartet, dass sich die AfD als Vertreter der alten Mittelklasse gegen die gleichgeschlechtliche Ehe ausspricht, die Grünen hingegen als Vertreter der neuen Mittelklasse diese befürworten. Abschließend werden die Ergebnisse resümiert und ein kurzer Ausblick gegeben.
Es wird sich zeigen, dass sich die AfD und die Grünen hinsichtlich ihrer Einstellungen zur gleichgeschlechtlichen in die Überlegungen von Reckwitz einordnen lassen. Während die AfD als rechtspopulistischer Akteur ein klassisches Familienbild propagiert und die gleichgeschlechtliche Ehe ablehnt, sind die Grünen als Partei aus dem linken politischen Spektrum für diese Form der Lebenspartnerschaft wesentlich offener. In Bezug auf ihre Einstellungen zur gleichgeschlechtlichen Ehe können Reckwitz‘ Überlegungen damit vorerst als korrekt angesehen werden.
Reckwitz‘ Überlegungen basieren auf der Beobachtung einer zunehmenden Entfremdung der einzelnen Gesellschaftsschichten seit Beginn des 21. Jahrhunderts, welche insbesondere die westlichen Industrienationen betrifft (Reckwitz 2019: 63–65). Diese Bobachtung wird vielfach von anderen Autoren gestützt. So zeigte die US-amerikanische Soziologin Arlie Hochschild in ihrem Buch Strangers in their own Land, wie sich in der amerikanischen Mittelklasse der Südstaaten ein Gefühl der Entfremdung gegenüber den liberaleren Gesellschaften in den Küstenbundesstaaten und der Regierung ausbreitet. Für ihre Feldforschung begleitete Hochschild jahrelang konservative Christen im US-Bundesstaat Louisiana. Sie beschrieb in ihrer Untersuchung eine Gesellschaftsschicht im kulturellen und wirtschaftlichen Abstieg, die sich im Angesicht einer schneller verändernden und globalisierten Welt von den liberalen Teilen der Gesellschaft zunehmend herabgewürdigt und unverstanden fühlt. Daraus resultieren Gefühle wie Wut, Frust und Trauer. Eine Folge dieser Empfindungen und der damit einhergehenden Entfremdung ist die Unterstützung für Populisten wie Donald Trump oder die rechte Tea-Party-Bewegung (siehe Hochschild 2016). Die Journalistin Alexandra Rojkov beschreibt ebenfalls eindrücklich in ihrem Porträt über Jerry Pritchard diese Situation der Entfremdung und Abgehängtheit auf persönlich-individueller Ebene.6 Ähnlich wie Hochschild begleitet sie den 55-jährigen, weißen Trump-Fanatiker Pritchard aus Northampton/Pennsylvania durch seinen Alltag. Seine Ohnmacht gegenüber dem vermeintlichen kulturellen Bedeutungsverlust drückt der strenggläubige Christ und ehemalige Schulabbrecher durch eine manische Zuneigung gegenüber dem Populisten Trump sowie einer starken Abneigung gegenüber Schwarzen, Homosexuellen, Einwanderern und den gebildeten Eliten aus (siehe Rojkov 2022: 74–78). Aber auch in Europa beobachten Reckwitz und andere Soziologen ähnliche Entwicklungen (Reckwitz 2019: 64–65).7 Da andere Erklärungsansätze, wie materielle Ungleichheiten, der Aufstieg sogenannter Superreicher oder Erklärungen aus der Lebensstil- und Milieuforschung aus Sicht des Soziologen Reckwitz zu kurz greifen, kommt er zu einer weiteren möglichen Erklärung: Nach Reckwitz hat sich in den letzten Jahrzehnten in der Sozialstruktur Europas und den USA hinsichtlich Lebensführung und -vorstellungen der einzelnen Schichten etwas geändert, was diese zunehmende Entfremdung begründet (Reckwitz 2019: 65–67).
Er erklärt sich diese Entfremdung mit der Ausdifferenzierung der ehemals nivellierten Mittelstandsgesellschaft in eine 3+1-Gesellschaft in den Ländern des Westens. Während in den Schwellenländern des globalen Südens in den letzten Jahrzehnten eine wohlhabende und aufstiegsorientierte Mittelschicht entsteht, findet in den klassischen westlichen Industrienationen ein anderer Prozess statt (Reckwitz 2019: 69–71).8 Hier hat sich seit 1945 eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft etabliert (Reckwitz 2019: 71–72). Diese Schicht zeichnete sich durch einen hohen Grad an Gleichheit und Homogenität aus und schloss viele Bevölkerungsgruppen mit ein (Reckwitz 2019: 73; Schelsky 1965: 332).9 Mitglieder dieser nivellierten Mittelschicht konnten sich eines stetigen Wohlstandsgewinns sicher sein (Reckwitz 2019: 73–74).10 Der Alltag eines Mitglieds jener Schicht lässt sich als kleinbürgerlich-mittelständisch beschreiben (Reckwitz 2019: 76; Schelsky 1965: 332). Das Streben nach sozialem Prestige, Status, Normalität, Massenkonsum und sozialem Aufstieg sowie ein ausgeprägter Arbeits- und Familienethos spielen im patriarchalisch strukturierten Leben des nivellierten Mittelschichtlers in den Jahrzehnten nach 1945 eine zentrale Rolle (Reckwitz 76–77; Schelsky 1965: 332–335).11
Diese einheitliche Gesellschaft der Nachkriegszeit wandelte sich langsam in eine differenzierte 3+1-Gesellschaft der Spätmoderne aus neuer und alter Mittelklasse, prekärer Unterklasse und Oberklasse. Verantwortlich für diese Entwicklung macht Reckwitz drei Prozesse, die seit den 1970er Jahren zunehmend die westlichen Industriegesellschaften verändern. Bei diesen Prozessen handelt es sich um die Postindustrialisierung der Wirtschaften, die Bildungsexpansion und den Wertewandel (Reckwitz 2019: 77). Postindustrialisierung bezeichnet den Wandel von einer Industriegesellschaft zu einer Dienstleistungsgesellschaft (Reckwitz 2019: 77–78, 135–202).12 Zentral für eine Dienstleistungsgesellschaft ist der zunehmende Anteil an Beschäftigten im Dienstleistungsbereich, während die Anzahl der Arbeiter im klassischen Industriebereich langsam ausstirbt (Reckwitz 2019: 78).13 Damit einher geht der Niedergang von Industrieregionen, wie dem Ruhrgebiet in Deutschland oder den amerikanischen Rust-Belt-Staaten im Mittleren Westen (Reckwitz 2019: 78). Der klassische Industriearbeiter, der in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft noch das Rückgrat einer Volkswirtschaft gebildet und für zunehmenden Wohlstand gesorgt hat, stirbt damit somit aus (Reckwitz 2019: 78–79). Zwei weitere Merkmale runden die postmoderne Dienstleistungsgesellschaft ab. Zum einen sind mehr Frauen erwerbstätig und zum anderen bildet sich im Kontrast zur Vollbeschäftigung der nivellierten Mittelstandsgesellschaft ein Mindestmaß an Arbeitslosen (Reckwitz 2019: 79).14 Gleichzeitig entsteht durch den starken Zuwachs an Dienstleistungen eine Trennung zwischen hoch- und niedrigqualifizierten Servicetätigkeiten (Reckwitz 2019: 79–80). Als hochqualifizierte Dienstleitung gilt jegliche Art der Arbeit, für die im Regelfall ein Hochschulabschluss benötigt wird (Reckwitz 2019: 80). Dazu zählen juristische Berufe oder Beschäftigungen im Bereich der Forschung, Beratung oder Medizin (Reckwitz 2019: 80). Demgegenüber steht eine Reihe an Dienstleistungen, für die keine spezielle Aus- oder Weiterbildung erforderlich ist. Dazu zählen Tätigkeiten im Bereich der Gastronomie oder der Reinigung (Reckwitz 2019: 79–80). Reckwitz sieht in dieser Trennung eine steigende Polarisierung zwischen hoch- und niedrigqualifizierten Dienstleistungen (Reckwitz 2019: 80).
Zusätzlich befeuert wird die Entwicklung zur 3+1-Gesellschaft von einer zunehmenden Bildungsexpansion. So nimmt seit den 1970er Jahren die Zahl der Absolventen einer Hochschule stark zu (Reckwitz 2019: 80–81).15 Die wachsende Akademisierung der Gesellschaft liefert den Wissensökonomien damit seine Arbeiter (Reckwitz 2019: 82–83). Mit diesem Wachstum an akademischer Bildung geht eine Entwertung von nicht-akademischen Tätigkeiten einher. So kommt es neben einer Polarisierung im industriellen Bereich zu einer Bildungspolarisierung zwischen Menschen mit hohem und niedrigerem Bildungsgrad (Reckwitz 2019: 83).
Als letzten Trend, welcher zur postmodernen Mehrklassengesellschaft führt, identifiziert Reckwitz einen kulturellen Wertewandel.16 Es findet eine zunehmende Liberalisierung von Werten in der modernen Gesellschaft statt, welche die ehemaligen Werte der nivellierten Mittelschicht ersetzt (Reckwitz 2019: 83–84, siehe Inglehart 1977). Die Gesellschaft wird damit postmaterialistischer (Reckwitz 2019: 84). Im Fokus stehen vermehrt der Genuss und das Erlebnis als der materielle Konsum.
Diese drei Prozesse sorgen für ein Zerbrechen der nivellierten Mittelstandsgesellschaft in eine Sozialstruktur aus neuer und alter Mittelklasse, prekärer Klasse und winziger Oberklasse (Reckwitz 2019: 85–86).17 Zwei Prozesse sind für die Sozialstruktur des 21. Jahrhunderts zentral: Während die neue Mittelklasse aus den drei genannten Umbrüchen als Gewinner hervorgeht und aus der nivellierten Mittelklasse nach oben steigt, fällt eine neu entstehende prekäre Unterklasse aus ihr nach unten ab (Reckwitz 2019: 86).18 Als Akademikerklasse profitiert die neue Mittelklasse von der zunehmenden Ausbreitung einer Wissensökonomie. Gleichzeitig treibt sie die Bildungsexpansion an und steht mit ihrem postmaterialistischen Werteverständnis stellvertretend für den Wertewandel der letzten Jahrzehnte (Reckwitz 2019: 86-87). Die alte Mittelklasse wiederum, die jahrzehntelang die zentrale Klasse der Nachkriegsgesellschaft war, sieht sich von diesen Veränderungen abgehängt und droht den Anschluss an die neue Mittelklasse zu verlieren (Reckwitz 87–88). Verstärkt wird dieses Gefühl von einer anwachsenden ökonomischen wie kulturellen Ungleichheit zwischen alter und neuer Mittelklasse (Reckwitz 2019: 88-89). Alte und neue Mittelklasse entfremden sich damit zusehends in ihrem Einkommen, ihren Werten und Lebenseinstellungen, weswegen Reckwitz von einer Spaltung der Mittelklasse spricht (Reckwitz 2019: 89–90).
Doch was zeichnet diese neu entstehenden gesellschaftlichen Schichten aus?19 Im Folgenden wird ausführlich auf die für die Beantwortung der Forschungsfrage relevanten Mittelschichtklassen eingegangen.20 Die neue Mittelklasse ist die „Klasse der Hochqualifizierten“ (Reckwitz 2019: 90). Mitglieder dieser Klasse verfügen über akademische Abschlüsse, die sie zu einer Arbeit in der Wissensökonomie befähigen (Reckwitz 2019: 90–91). Ihr kulturelles (in Form von Bildungsabschlüssen und anderweitigen Kompetenzen) und ökonomisches Kapital ist durchschnittlich bis überdurchschnittlich hoch, wobei die Spannbreite an ökonomischen Kapital innerhalb dieser Klasse variiert (Reckwitz 2019: 90–91). Frauen und Männer agieren in der neuen Mittelklasse größtenteils gleichberechtigt (Reckwitz 2019: 91). Heimisch ist diese Klasse insbesondere in urbanen Regionen und Universitätsstädten (Reckwitz 2019: 91–92). Für einen Angehörigen der neuen Mittelklasse ist es nicht unüblich, seinen Wohnort zu wechseln. Es handelt sich somit um eine mobile Klasse (Reckwitz 2019: 91–92). In ihrer Lebensführung streben Mitglieder der neuen Mittelklasse nach möglichst großer Selbstentfaltung und sozialem Status, um ein möglichst sinnvolles und befriedigendes Leben zu führen (Reckwitz 2019: 92). Der Fokus liegt hierbei vor allem auf einer möglichst großen Lebensqualität und weniger auf dem Erreichen von materiellem Status und Anerkennung (Reckwitz 2019: 92–93).21 Als Profiteur der Postindustrialisierung, der Bildungsexpansion und des Wertewandels handelt es sich um eine progressiv-fortschrittliche, links-liberale Klasse, die dem Kosmopolitismus zugeneigt ist (Reckwitz 2019: 96–96). Die neue Mittelklasse versteht sich damit als Vertreter einer kosmopolitischen Kultur, die sich auf jedem Ort der Welt heimisch fühlt (Reckwitz 2019: 94–95). Als kosmopolitische Klasse steht sie der Globalisierung positiv gegenüber (Reckwitz 2019: 96).
Dieser, sich im Aufwind befindlichen neuen Mittelklasse, steht eine sich im vermeintlichen Abstieg befindende alte Mittelklasse gegenüber. In ihren Merkmalen unterscheidet sich diese diametral von ihrem neuartigen Gegenstück. Anders als die neue Mittelklasse handelt es sich bei der alten Mittelklasse nicht um eine Akademikerklasse. Ihre Mitglieder verfügen über mittlere Bildungsabschlüsse, was nicht zwangsläufig mit einem unterdurchschnittlichen Einkommen einhergeht (Reckwitz 2019: 97–98). Im Gegensatz zur neuen Mittelklasse trachtet die alte Mittelklasse nach materiellem Status (Reckwitz 2019: 98–99). Disziplin, Ordnung und regionale Verwurzelung bilden die Grundlage der Lebensführung der alten Mittelschicht (Reckwitz 2019: 98). Das Familienbild der alten Mittelschicht ist traditionell geprägt mit einer klassischen Arbeitsteilung nach Geschlechtern (Reckwitz 2019: 99). In Zeiten der zunehmenden Emanzipation der Frau sieht die alte Mittelschicht ihr Familienbild damit in Gefahr (Reckwitz 2019: 113). Als in ihrer Region stark verwurzelte Klasse ist ihr Mobilitätsgrad deutlich geringer als der der neuen Mittelklasse. Deswegen lässt sich ein Mitglied der alten Mittelklasse im Kommunitarismus verorten (Reckwitz 2019: 99–100).22 Während die wirtschaftliche Situation der alten Mittelklasse weitestgehend zufriedenstellend ist, gerät sie kulturell in die Defensive. Ehemals traditionelle Werte und Berufe dieser Klasse leiden unter einem zunehmenden Prestigeverlust. Reckwitz spricht dahingehend von „kultureller Entwertung“ (Reckwitz 2019: 100–101). Verstärkt wird dieses Entwertungsgefühl durch die Wohnhaftigkeit der alten Mittelklasse im verödenden peripheren Raum, welcher im Vergleich zu den Metropolen und Boomregionen dieser Welt an Prestige verliert (Reckwitz 2019: 100–101). Dieser Dualismus zwischen aufsteigenden Wachstumsregionen (neue Mittelklasse) und verödenden peripheren Räumen (alte Mittelklasse) verstärkt die Polarisierung und Entfremdung zwischen den beiden Mittelklassen (Reckwitz 2019: 119–121). Politisch zeigt sich dieses Abwertungsgefühl in der Wahl rechtspopulistischer Parteien (Reckwitz 2019: 102, 128–129).
[...]
1 Es wird darauf hingewiesen, dass aus Gründen der besseren und flüssigeren Lesbarkeit in der Hausarbeit auf eine genderspezifische Schreibweise verzichtet wird. Alle Bezeichnungen gelten sinngemäß für beide Geschlechter.
2 Für das Phänomen des Populismus und seine Spielart des Rechtspopulismus findet sich in der Wissenschaft eine große Anzahl älterer und neuerer englisch- wie deutschsprachiger Literatur. Hier sei eine kleine Auswahl gegeben: Für eine kurze Einführung und einen ersten Überblick über Begriff, Geschichte, Theorie und Ursachen des Populismus siehe Jörke / Selk 2017; Mudde / Kaltwasser 2017; Taggart, Paul 2000. Einen umfangreichen Überblick, insbesondere über regionaler Unterschiede und Besonderheiten, bieten Kaltwasser et al. 2017 und Torre 2019.
3 Reckwitz spricht in seinem Buch von einer Drei-Klassen-Gesellschaft, da er sich hauptsächlich auf die mit Abstand größten sozialen Schichten (neue und alte Mittelklasse sowie die prekäre Klasse) fokussiert. Strenggenommen handelt es sich um eine Vier-Klassen-Gesellschaft (neue und alte Mittelklasse, prekäre Klasse plus Oberklasse), oder 3+1-Gesellschaft, wie es Reckwitz selbst nennt (Reckwitz 2019: 72). Im Folgenden soll einheitlich der Begriff 3+1-Gesellschaft benutzt werden. So wird keine Klasse unterschlagen, aber gleichzeitig die besondere Stellung der Oberschicht betont.
4 So führten die Niederlande 2001 eine Ehe für homosexuelle Paare ein. Kanada (2005), Norwegen (2008), Schweden (2009), das Vereinigte Königreich (2013), Frankreich (2013) oder die Vereinigten Staaten von Amerika (2015) haben die gesellschaftliche Debatte hin zur gleichgeschlechtlichen Ehe ebenfalls größtenteils abgeschlossen. Gleichzeitig ist in vielen Teilen der Welt, vor allem in Afrika und Asien, Homosexualität strafbar. Diese Länder eignen sich deshalb nicht zur Untersuchung, da es in ihnen keine große Debatte über die gleichgeschlechtliche Ehe gibt.
5 Auf die Merkmale von alter wie neuer Mittelklasse wird im folgenden Kapitel detaillierter eingegangen.
6 Die Gemeinsamkeit zwischen Hochschild und Rojkov beginnt bereits beim Titel. So nannte Rojkov ihr Porträt Fremd im eigenen Land. Hierbei handelt es sich um eine Anspielung auf Hochschild, die in dem Artikel zu Wort kommt. Die Entfremdung einzelner Gesellschaftsschichten ist damit zentraler Bestandteil für die Erklärung rechter Wahlerfolge und der gesellschaftlichen Spaltung.
7 So beschreibt David Goodhart diese Entwicklung im Vereinigten Königreich. Nach Goodhart entsteht dort zusehends ein Cleavage zwischen den ländlich-konservativen, regional verwurzelten und weniger gebildeten Somewheres und den liberalen, städtischen, mobilen Anywheres mit Hochschulabschluss (siehe Goodhart 2017). Eine ähnliche Konfliktlinie beobachtet Christophe Guilluy in Frankreich. Guilluy sieht eine Trennung Frankreichs in einen ländlichen und städtischen Raum, wobei sich die Menschen auf dem Land zusehends von Politik und liberaler städtischer Gesellschaft miss- und unverstanden fühlen. Dieses findet Ausdruck in einer Hinwendung zum Populismus (siehe Guilluy 2015).
8 So konnte die Mittelschicht in Ländern wie China, Indien oder Indonesien zwischen 1988 und 2008 im Vergleich zu den meisten OECD-Staaten exorbitante Einkommenszuwächse verzeichnen, wenn auch von einem deutlich niedrigeren Niveau aus (Milanovic 2016: 18–20). So verdreifachte sich das Pro-Kopf-Einkommen der chinesischen Mittelschicht in diesem Zeitraum (Milanovic 2016: 18–19). Für Deutschland lässt sich in dieser Schicht lediglich ein Einkommenszuwachs zwischen null und sieben Prozent verzeichnen (Milanovic 2016: 20). Branko Milanovic sieht deshalb die „emerging global middle class“ (Milanovic 2016: 19) neben den reichsten ein Prozent der Weltbevölkerung als Gewinner der Globalisierung (Milanovic 2016: 19, 21-23). Die Mittelschicht in den Schwellenländern schließt folglich zur Mittelschicht der westlichen Industrienationen auf, während diese in ihrem Einkommen stagniert. Von dem zunehmenden Reichtum in einigen Ländern profitieren nicht alle Staaten. So gibt es weiterhin eine Reihe stark unterentwickelter Länder. Global entwickelt sich die Welt damit in eine Drei-Klassen-Gesellschaft aus aufstrebendem globalem und unterentwickeltem Süden, sowie eines hochentwickelten globalen Nordens (Reckwitz 2019: 71).
9 Karl Martin Bolte hat dies in seinem Zwiebel-Modell bildlich dargestellt. Das Zwiebel-Modell zeichnet sich durch eine breite Schicht in der Mitte aus (Mittelschicht), während die oberen (Oberschicht) und unteren Enden (Unterschicht) der Zwiebel deutlich kleiner ausfallen (Bolte 1967: 316). Eine vergleichbare Richtung schlägt Ralf Dahrendorf ein. In seinem Hausmodell besteht die deutsche Nachkriegsgesellschaft aus einer breiten Mittelschicht, die sich vor allen Dingen aus einem Mittelstand und einer Arbeitsschicht zusammensetzt. Eliten und Unterschicht machen lediglich einen kleinen Teil der deutschen Gesellschaft der damaligen Zeit aus (Dahrendorf 1971: 97–107). Eine aktualisierte und um migrantische Schichten ergänzte Version von Dahrendorf findet sich bei Geißler 2014: 101–104.
10 Dies lässt sich mittels des Fahrstuhleffekts von Ulrich Beck metaphorisch darstellen. Nach Beck konnte die deutsche Nachkriegsgesellschaft seit den 1950er Jahren stetige Zuwächse an Einkommen, Bildung, Mobilität und Konsum verzeichnen (Beck 1986: 122). Sie wurde somit kollektiv „eine Etage höher gefahren“ (Beck 1986: 122), um es mit den Worten Becks zu beschreiben.
11 Der französische Demograph Jean Fourastié bezeichnet diese Epoche der nivellierten Mittelschicht in seinem Buch Les Trente Glorieuses, ou la révolution invisible de 1946 à 1975 (engl. The Glorious Thirty, or the Invisible Revolution from 1946 to 1975) beschönigend als dreißig glorreiche Jahre. Dieser Zeitraum zeichnete sich insbesondere in Frankreich, aber auch in anderen vom Zweiten Weltkrieg gezeichneten Ländern wie Deutschland und Japan, durch einen starken Anstieg an Löhnen, wirtschaftlicher Produktivität und Konsumausgaben aus (siehe Fourastié 1979). Die dreißig goldenen Jahre enden damit mit dem Niedergang der nivellierten Mittelstandsgesellschaft und dem Beginn der spätmodernen 3+1-Gesellschaft.
12 Das Konzept einer postindustriellen Gesellschaft geht auf die Soziologen Alain Touraine und Daniel Bell zurück. Die postindustrielle Gesellschaft sehen sie als Nachfolger der Industriegesellschaft. Kennzeichen dieser Gesellschaftsform sind eine auf Wissen, Wissenschaft und Technik basierende Ökonomie und eine Dominanz des Dienstleistungssektors gegenüber dem Industriesektor (siehe Bell 1971; Bell 1973; Touraine 1969).
13 So arbeiteten laut Statistischem Bundesamt 1951 44,2 Prozent der deutschen Beschäftigten im Industriebereich. 2021 waren es 23,8 Prozent. Bei den Beschäftigten im Dienstleistungssektor ist der Trend umgekehrt. 1951 arbeiteten 32,7 Prozent der Erwerbstätigen im Tertiären Sektor. 2021 waren es 74,9 Prozent (Statistisches Bundesamt 2022).
14 Waren 1991 nach Angaben des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts 57 Prozent der Frauen erwerbstätig, sind es 2019 72,8 Prozent (Hobler / Pfahl / Schubert 2021: 1).
15 So stieg der Anteil an Studienanfängern laut Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) in den OECD-Ländern zwischen 2000 und 2012 um durchschnittlich 20 Prozent (OECD 2014: 28). In Deutschland haben im Jahr 2000 circa 30 Prozent der jungen Menschen ein Studium begonnen, 2012 lag der Wert bei über 50 Prozent (siehe Tabelle in OECD 2014: 29). Damit einher geht eine steigende Hochschulabschlussquote, die laut OECD in den Mitgliedsländern bei durchschnittlich 39 bis 40 Prozent liegt (Lohmann 2013: 61; OECD 2014: 30). In Deutschland verdoppelte sich die Quote zwischen 1995 und 2021 von 15 auf knapp 30 Prozent.
16 Mehr zum Wertewandel von materiellen zu postmateriellen Werten findet sich bei Ronald Inglehart (siehe zum Beispiel Inglehart 1977; Inglehart 1990).
17 Eine graphische Darstellung dieser Gesellschaftsstruktur findet sich bei Reckwitz 2019: 86.
18 Reckwitz spricht hier von einem Paternoster-Effekt (Reckwitz 2019: 72, 86). Anders als in Becks Fahrstuhlgesellschaft der Nachkriegszeit finden ein gleichzeitiger Abstieg der alten Mittelschicht und ein Aufstieg der neuen Mittelschicht statt. Dies unterscheidet den Paternostereffekt von der Fahrstuhlgesellschaft.
19 Es ist anzumerken, dass es sich bei den jeweiligen Klassen um Idealtypen handelt. Bei sozialen Klassen, die mehrere Millionen Mitglieder umfassen können, werden nicht alle Merkmale auf alle Individuen zutreffen. Mischformen sind daher möglich. Die Typologie von Reckwitz ist als generelle Einteilung zu begreifen und nicht allgemeingültig.
20 Für Informationen zu Ober- und Unterklasse siehe Reckwitz 2018: 350–370; Reckwitz 2019: 102–109.
21 In seinem Buch Die Gesellschaft der Singularitäten beschreibt Reckwitz den Lebensstil der neuen Mittelklasse ausführlicher. Nach Reckwitz lässt sich der Lebensstil der neuen Mittelklasse als Symbiose aus romantischen und bürgerlichen Lebensvorstellungen beschreiben (Reckwitz 2018: 285–289). Selbstverwirklichung und -entfaltung spielen für einen Menschen der neuen Mittelklasse eine ebenso große Rolle, wie die Möglichkeit, sich aus den zahllosen Möglichkeiten des spätmodernen Lebens die individuell besten Optionen herauszusuchen (Reckwitz 2018: 289–298). Er sieht sich als Vertreter einer kosmopolitischen Hyperkultur, die sich für alte Kulturen und kulturelles Erbe ebenso begeistern kann, wie für moderne Popkultur und fremde Kulturkreise (Reckwitz 2018: 298–303). Trotz seiner generell postmaterialistischen Einstellung spielen Investitionen in ökonomisches, psychisches und kulturelles Kapitel im Leben der neuen Mittelschicht eine große Rolle. Ziel ist es, dadurch eine größtmögliche Selbstentfaltung zu gewährleisten (Reckwitz 2018: 303–307). Mitglieder der neuen Mittelschicht zeichnen sich zudem durch eine gemeinsame Ess-, Wohn-, Reise-, Körper und Erziehungskultur aus (Reckwitz 2018: 309–335). Weitere Merkmale des neuen Mittelschichtlebens sind eine Vermischung von Arbeit und Privatleben, die soziale Verortung im urbanen Raum, eine zunehmende Affinität für Jugendlichkeit und Geschlechterneutralität, sowie eine politische Einstellung die im politischen Links-Rechts-Spektrum von mitte-links bis mitte-rechts reicht (Reckwitz 2018: 336–341). Dieser spätmoderne Lebensstil der neuen Mittelschicht ist allerdings stark anfällig für Enttäuschungen, was zu einer steigenden Anzahl an Menschen führt, die an Depressionen oder Burn-Out leiden (Reckwitz 2018: 342––350).
22 Mehr zum Konflikt zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen und der dadurch entstehenden Konfliktlinie siehe Merkel 2017 oder der Sammelband von Wilde et al. 2019.