Was wurde genau alles in Bezug auf Franckes Waisenhaus kritisiert? Welche Aspekte werden genannt und wie rechtfertigt sich August Hermann Franke?
Als August Hermann Francke im Jahr 1692 in Halle „als Pfarrer in die St. Georgen-Gemeinde Glaucha vor den Toren HaIles und als Professor für orientalische Sprachen an die sich im Aufbau befindliche Universität Halle“ erwartet wird, wird er Zeuge der ärmlichen Verhältnisse der Gemeinde. Besonders fielen ihm die zunehmende Verwahrlosung der Waisenkinder und die enorme Bildungsnot bei ihnen auf.
Einerseits realisierte er, dass die Kinder einen anständigen Wohn- und Lernort brauchten und dass der reine Unterricht sowie die Rückkehr der Kinder in ihre verwahrlosten Gegenden nicht zur verbesserten Lebensqualität beitrugen. Andererseits erkannte er schnell die Mängel seitens der „Regier[ung und des] Lehrstands“, wodurch sich letztendlich die Armut in der Gesellschaft manifestierte. So kam es zur Gründung des Waisenhauses, was bis heute als erfolgreiches Resultat und Symbol seines „Reformvorhaben[s]“gilt.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Uberlieferungslage und Quellenwert
3 Quelleninterpretation
3.1 Das Schreiben als Form der Rechtfertigung des Waisenhauses: Die Quellensyntax
3.2 Die zentralen Begrifflichkeiten im Rechtfertigungsschreiben von Fran>Quellensemantik
3.3 Die Wirkung des Schreibens im Kontext seiner Zeit: Die Quellenpragmatik
3.4 Mit welchen Argumenten untermauert Francke seine Sichtweise -Interpretation des Rechtfertigungsschreibens Franckes im Hinblick auf den Einsatz seiner rhetorischen Strategien und Argumenten
4 Schlussbetrachtung
5 Quellen -und Literaturverzeichnis
5.1 Quellen
5.2 Literatur
1 Einleitung
„Der wohlbegabte und geistreiche Herr Francke zu Halle hat durch seine holdseelige Deutlichkeit im Lehren und Predigen die Gemuther der Menschen an sich gezogen. “1
Als August Hermann Francke im Jahr 1692 in Halle „als Pfarrer in die St. Georgen- Gemeinde Glaucha vor den Toren Halles und als Professor fur orientalische Sprachen an die sich im Aufbau befindliche Universitat Halle“2 erwartet wird, wird er Zeuge der armlichen Verhaltnisse3 der Gemeinde. Besonders fielen ihm die zunehmende Verwahrlosung4 der Waisenkinder und die enorme Bildungsnot bei ihnen auf.5 Einerseits realisierte er, dass die Kinder einen anstandigen Wohn -und Lernort brauchten und dass der reine Unterricht sowie die Ruckkehr der Kinder in ihre verwahrlosten Gegenden nicht zur verbesserten Lebensqualitat beitrugen.6 Andererseits erkannte er schnell die Mangel seitens der „Regier[ung und des] Lehrstands“7, wodurch sich letztendlich die Armut in der Gesellschaft manifestierte. So kam es zur Grundung des Waisenhauses, was bis heute als erfolgreiches Resultat und Symbol seines „Reformvorhaben[s]“8 gilt. Im Jahr 1695 sammelte er Spenden, erwarb dadurch ein Haus in seiner Umgebung, nahm einige Waisenkinder auf und stellte zunachst einen Studenten ein. Mit der Zeit gewann Francke mehrere Studenten, denen er kostenfreie Mahlzeiten im Waisenhaus unter der Voraussetzung anbot, dass sie die Kinder unterrichteten und Verwaltungsarbeiten durchfuhren. Rasch hatte er viele Studenten, die fur ihn arbeiteten.
Im Jahr 1698 wurde das Waisenhaus gegrundet und im Jahr 1700 fertig gebaut.9 Obwohl Francke gesellschaftsverbessernde Gedanken hatte, stieB er zunehmend auf Kritik.10 Trotz seines Vorhabens, das auf das Schaffen besserer Lebensumstande11 abzielte, musste er sich stets verteidigen.12 Dabei stand insbesondere die Architektur des Waisenhauses im Mittelpunkt der Kontroverse.
Seine Reaktion auf eine ganz besondere Art der Kritik, die ihn erreichte, soil in dieser Hausarbeit untersucht werden: August Hermann Franckes verteidigende Antwort auf die kritische Beurteilung des Waisenhauses. Sein Rechtfertigungsschreiben tragt den Namen „Antwort Auf die Beurtheilung des neuen Waysen-Hauses“ und stammt aus dem Sammelwerk „Segensvolle FuBstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes / Zur Beschamung des Unglaubens und Starckung des Glaubens“. Seiner starken Frommigkeit verleiht er Ausdruck, indem er als Pietist darin von den gottlichen Wirkungen berichtet. Das Sammelwerk „FuBstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes" erweist sich als „Rechenschaft uber den Bau des Waisenhauses [sowie als] pietistisches Erbauungsbuch“13. Franckes Werk zeichnet sich zum einen besonders durch die Kombination sehr detailreicher Erlauterungen zur BaumaBnahme aus.14 Zum anderen basiert sie auf eigenen Erfahrungen und gottesglaubigen AuBerungen, welche allerdings die Echtheit seiner Schilderungen nicht in Frage stellen. Forschungsliteratur zur Kritikauseinandersetzung Franckes gibt es kaum. Es wird hauptsachlich thematisiert, was das Waisenhaus zu bieten hatte15, wie der Alltag im Waisenhaus16 ablief, wie es das Leben zahlreicher, obdachloser Kinder veranderte17 und wie die Kinder dort erzogen18 wurden. Oft wird es auch als eine Sehenswurdigkeit19 und als einen Auftrag Gottes20 dargestellt. Die Historiker betonen vielmehr die positiven Aspekte des Waisenhausgebaudes und setzen sich wenig mit der Schattenseite dessen auseinander. Gerade aus dieser Perspektive lohnt es sich erheblich, Franckes Rechtfertigungsart des Waisenhauses im Rahmen der ausgewahlten Quelle genauer zu betrachten und zu analysieren, mit welchen rhetorischen Strategien und Argumenten der „wohlbegabte und geistreiche Francke“21 in seinem Rechtfertigungsschreiben die Architektur des Waisenhausgebaudes rechtfertigt. Zum aktuellen Forschungsstand ist festzuhalten, dass Francke sein konkretes Ziel zur erfolgreichen Verbesserung der Sozialstruktur in seiner kompletten Form (wie z.B. die Grundung seiner Stiftungen), wie sie heutzutage vorzufinden ist, nicht vor Augen hatte. Es gab sozusagen kein genaues Konstrukt und keine Quellenbelege uber sein reformatorisches Vorhaben.22 In heutigen Darstellungen ist er jedoch durchaus als Reformer23 bekannt.
Im Folgenden wird zunachst der Quellenwert des Rechtfertigungsschreibens uber das Waisenhaus dargelegt. AnschlieBend soll im Rahmen einer inneren und auBeren Quellenkritik die Antwort auf die negative Beurteilung des Waisenhauses von August Hermann Francke dahingehend untersucht werden. Die Form und der Inhalt dieses Schreibens sollen moglichst Aufschluss uber die Argumente und rhetorischen Strategien, mit denen er das Waisenhaus rechtfertigt, geben.
2 Uberlieferungslage und Quellenwert
In diesem Kapitel soll zunachst die Uberlieferungslage des Schreibens von Francke dargelegt werden. Darauffolgend soll die fur das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit beste Edition der Quelle begrundet ausgewahlt werden.
Das Rechtfertigungsschreiben mit dem Namen „ Antwort Auf die Beurtheilung des neuen Waysen-Hauses^ ist heutzutage als Digitalisat im Portal der digitalen Sammlungen des Studienzentrums August Hermann Francke aufrufbar24, wobei Archiv und Bibliothek der Franckeschen Stiftungen gemeinsam das Studienzentrum August Hermann Francke darstellen. Im Portal der Frankeschen Stiftungen von Halle wird auf die Unterstutzung seiner Mitarbeiter Johann Anastasius Freylinghausen, Georg Heinrich, Neubauer Canstein, Carl Hildebrand Freiherr von Canstein und auf die Bearbeiter der Quelle Paul Raabe sowie Almut Pfeiffer hingewiesen. Auch werden in der Frankeschen Datenbank samtliche Bestandsnachweise und ausfuhrliche FuBnoten von nahezu 1700 Titeln aufgefuhrt, welche die Authentizitat der Quelle bestatigen.25 Insgesamt bietet das Portal „umfangreiche historische Bestande zur Erforschung des Pietismus und der Fruhaufklarung“26.
Franckes Schreiben ist eine Reaktion zur Kritik an das Waisenhaus zu betrachten, das hochstwahrscheinlich von Gegnern von August Hermann Francke geauBert worden ist. Er verfasst dieses Schreiben vordergrundig, um zu erklaren, warum die Architektur des Waisenhauses angemessen ist und es anders hatte nicht gebaut werden konnen.27 Ausfuhrliche Erklarungen unterstutzen diese These. Das Schreiben beinhaltet des Weiteren stichhaltige Argumente, die sich eher an den kritisierenden Teil der Bevolkerung richten. Es ist moglich, dass Francke dieses Schreiben dafur nutzte, um auch zukunftige Auseinandersetzungen uber den Bau des Waisenhaues aus dem Weg zu raumen.
Verortet ist das Schreiben im historischen Sammelwerk „Segensvollen FuBstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes" aus dem Jahr 1711, das uber den „historische[n] Abriss der Anstaltsgenese in Glaucha“28 darstellt.
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1 Johann Gottfried Gregorii: Curieuser AFFECTen-Spiegel, Oder auserlesene Cautelen und sonderbahre Maximen, Die Gemuther der Menschen zu erforschen, und sich darnach vorsichtig und behutsam aufzufuhren, Franckfurt, u.a. 1715, S.387.
2 Ute Geiling: Padagogik, die Kinder stark macht. Zur Arbeit mit Kindern in Not, Opladen 2000, S.60.
3 Zu den miserablen Umstanden der Kinder vor allem Hanspeter Hochfilzer: Die Bindungen von Kindern. Ein Vergleich von Pflegekindern und Kindern in Heimen. Saarbrucken 2008. S.80.
4 Vgl. Peter Menk: Die Erziehung der Jugend zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nachsten. Begrundung und Intentionen der Padagogik August Hermann Franckes (Aneignung und Begegnung), Wuppertal 1969, S. 14.
5 Das Folgende nach Juliane Dittrich-Jacobi: Pietismus und Padagogik im Konstitutionsprozess der burgerlichen Gesellschaft: historisch-systematische Untersuchung der Padagogik August Hermann Franckes (1663 - 1727) . Bielefeld (Germany): Bielefeld University, 2002, S.90.
6 Das Folgende nach Elke Hartmann: Erste Ansatze einer allgemeinen technischen Bildung in der Padagogik Franckes. In: Kruger HH., Olbertz J.H. (eds) Bildung zwischen Staat und Markt. Schriften der Deutschen Gesellschaft fur Erziehungswissenschaft (DGfE) (Hauptdokumentationsband zum 15. Kongreb der DGfE an der Martin-Luther-Universitat in Halle-Wittenberg 1996). VS Verlag fur Sozialwissenschaften, Wiesbaden 1997, S.503.
7 Paul Menk: Die Erziehung der Jugend zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nachsten, S. 21.
8 Holger Zaunstock: Gebaute Utopien, S.6.
9 Das Folgende nach Paul Raabe: August Hermann Franckes Waisenhaus. Wirtschaftliche Autonomie und staatliche Forderung e. padagogische Herausforderung, in: Bildung zwischen Staat und Markt Beitrag. zum 15. Kongress der Deutschen Geschichte fur Erziehungswissenschaft vom 11.-13. Marz 1996 in Halle an d. Saale. Weinheim 1996, S. 176.
10 Das Folgende nach Raabe: August Hermann Franckes Waisenhaus, S.172.
11 Zu den Gedanken der Situationsverbesserung vor allem August Hermann Francke, in: Markus Vincent: Theologen: 185 Portrats von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 2004, S. 114.
12 Das Folgende nach Helmut Obst: August Hermann Francke und die Frankeschen Stiftungen in Halle, Gottingen 2002, S.57.
13 Paul Raabe: August Hermann Franckes Waisenhaus, S. 175f.
14 Das Folgende nach Dittrich-Jacobi: Pietismus und Padagogik im Konstitutionsprozess der burgerlichen Gesellschaft, URL: <http://archiv.ub.uni-bielefeld.de/disshabi/2001/0074.pdf> (15.03.2020). S.90.
15 Vgl. Holger Zaunstock u.a. (Hgg.): Hallesches Waisenhaus und Berliner Hof. Beitrage zum Verhaltnis von Pietismus und PreuBen. Francke und seine Konige. Hallischer Pietismus und PreuBen (1690-1750). Halle, Wiesbaden: Verlag der Franckeschen Stiftungen; Harrassowitz Verlag in Kommission (Hallesche Forschungen, Band 48) 2017.
16 Vgl. Axel Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus und seine Lehrer im 18. Jahrhundert (Hallesche Forschungen, Bd. 19), Tubingen 2006, S.75.
17 Vgl. Ebd.
18 Zur Erziehung der Waisenkinder vor allem Karl Aley: Vom Waisenknaben zum Waisenvater der Franckeschen Stiftungen in Halle, Saale. 1916 - 1946. Bonn 1987, S. 43.
19 Thomas J. Muller-Bahlke: Das Hallesche Waisenhaus. Die Franckeschen Stiftungen mit ihren Sehenswurdigkeiten (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 1), 3., erweiterte und aktualisierte Auflage, Wiesbaden 2015.
20 Vgl. Anne Schroder-Kahnt; Claus Veltmann (Hg.): Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 35), Halle, u.a. 2018, S.87.
21 Johann Gottfried Gregorii: Curieuser AFFECTen-Spiegel, S.387.
22 Das Folgende nach Holger Zaunstock (Hg.): Gebaute Utopien. Franckes Schulstadt in der Geschichte europaischer Stadtentwurfe (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 25), Halle (Saale) 2010, S.20.
23 Vgl. Michael Kotsch: August Hermann Francke. Padagoge und Reformer (Helden des Glaubens, Sonderband), Dillenburg 2011, S. 56.
24 August Hermann Fran>https://digital.francke-halle.de/mod3a/content/pageview/261617> (15.03.2020). Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werden die Zitationsangaben fur diese Quelle nach einmaliger kompletter Nennung in dieser FuBnote darauffolgend lediglich unter Angabe der Name der Quelle, der URL und der Seiten -und Zeilenzahl in den folgenden FuBnoten genannt.
25 Das Folgende nach Franckesche Stiftungen: Digitale Sammlungen, URL: <https://digital.francke- halle.de> (15.03.2020).
26 Das Folgende nach Franckesche Stiftungen: Digitale Sammlungen, URL: <https://digital.francke- halle.de> (15.03.2020).
27 Das Folgende nach Antwort Auf die Beurtheilung des neuen Waysen-Hauses, S. 155. URL:<https://digital.francke-halle.de/mod3a/content/pageview/261618> (15.03.2020).
28 Holger Zaunstock; Thomas J. Muller-Bahlke; Claus Veltmann: Die Welt verandern. August Hermann Francke - ein Lebenswerk um 1700. Verlag der Frankeschen Stiftungen: Halle (Saale) 2013, S. 266.