In der folgenden Arbeit soll ein Ansatz herausgearbeitet werden, welcher den Einsatz von Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ im Literaturunterricht erleichtern soll. Dabei soll ein Zugang zum Werk geschaffen werden, der schon vor der Gesamtlektüre Einblicke gibt in die grundsätzlichen Themen und ihre Umsetzung im Roman, damit die SchülerInnen bei der Bildung ihres mentalen Modells unterstützt werden und ihnen so die Gesamtlektüre erleichtert wird. Hauptziel ist dabei immer, das Textverstehen zu fördern und falschem textfernen Verstehen vorzubeugen. Im zweiten Teil der Arbeit werden die Ergebnisse der Analyse aufgegriffen und daraus ein geeigneter Zugang für die schulische Beschäftigung mit dem Roman ausgearbeitet. Dieser wird in drei aufeinanderfolgende Unterrichtssequenzen aufgeteilt, welche einzeln vorgestellt werden: a) Gesellschaftspolitische Kontexte hinzuziehen, b) Literarisches Gespräch über die Themen des Werkes und c) Das Grundmuster nachvollziehen mithilfe eines produktionsorientierten Verfahrens. Dabei soll auf die bestehenden Herausforderungen für Schüler und Schülerinnen eingegangen werden, ebenso wie auf Chancen und Grenzen des vorgestellten Zugangs. Letztlich soll diese Arbeit dazu dienen, eine Möglichkeit aufzuzeigen, „Tauben im Gras“ für den Literaturunterricht fassbar zu machen, ohne die literarischen Besonderheiten des Werkes zu vernachlässigen.
Auf 228 Seiten beschreibt Wolfgang Koeppen in seinem Roman „Tauben im Gras“ das Nachkriegsleben in einer deutschen Großstadt zu Beginn der 1950er Jahre. In diesem Rahmen wird zwar nur ein einziger Tag geschildert, doch mehr als 30 Figuren und die damit verbundenen häufigen Perspektiv- und Schauplatzwechsel sorgen für Komplexität und multidimensionale Einblicke in Figuren- und Zeitgeschichte. Den Roman für den Einsatz im Literaturunterricht auszuwählen, heißt ein Werk auszuwählen, das besondere Chancen bietet, das sich durch seine besondere Erzähltechnik, Sprache und Stil - in Anlehnung an den modernen Roman - auszeichnet und dabei einen Einblick gibt in eine vergangene Zeit. Wobei es nicht schon längst historisch geworden ist, sondern konstante Themen der menschlichen Erfahrung anspricht, wie Rassismus, Umgang mit Diversität und Freiheit. So kann der Roman beispielsweise als „Medium interkultureller Reflexion“ gebraucht werden, der zeigt, wie Vorurteile jede kulturelle Begegnung beeinträchtigen.
Inhaltsverzeichnis
1.Einleitung
2. Fachwissenschaftliche Betrachtungen zu „Tauben im Gras“
2.1 Ein besonderer Aspekt des Romans: Die Figuren
2.2 Die Figur der weißen Deutschen Carla
2.3 Die Figur des schwarzen amerikanischen Soldaten Washington
2.4 Carla und Washingtons interkulturelle Liebesbeziehung
2.5 Die Reaktionen des Umfelds auf Carlas und Washingtons Beziehung
3. „Tauben im Gras“ - Fachdidaktische Überlegungen
3.1 Eignung von „Tauben im Gras“ für den Literaturunterricht
3.2 Ein fachdidaktischer Zugang zu „Tauben im Gras“
3.2.1 Gesellschaftshistorischen Kontext hinzuziehen
3.2.2 Literarisches Gespräch über die Themen des Werkes
3.3.3 Das Grundmuster nachvollziehen mithilfe eines produktionsorientierten
Verfahrens
4. Zusammenfassung und Fazit
5. Quellen- und Literaturverzeichnis
6. Anhang
1.Einleitung
Auf 228 Seiten beschreibt Koeppen in seinem Roman „Tauben im Gras“ das Nachkriegsleben in einer deutschen Großstadt zu Beginn der 1950er Jahre. In diesem Rahmen wird zwar nur ein einziger Tag geschildert, doch mehr als 30 Figuren und die damit verbundenen häufigen Perspektiv- und Schauplatzwechsel sorgen für Komplexität und multidimensionale Einblicke in Figuren- und Zeitgeschichte:
‚Tauben im Gras‘ wurde kurz nach der Währungsreform geschrieben, als das deutsche Wirtschaftswunder im Westen aufging, als die ersten neuen Kinos, die ersten neuen Versicherungspaläste die Trümmer und die Behelfsläden überragten, zur hohen Zeit der Besatzungsmächte, als Korea und Persien die Welt ängstigten und die Wirtschaftswundersonne vielleicht gleich wieder im Osten blutig untergehen würde.1
Der Roman Koeppens zeichnet ein Bild von der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, welches sich durch Armut, Selbstversorgung und den Nachklang einer gewaltbereiten, faschistisch-ideologisierten Gesellschaft auszeichnet.2 „Diese Zeit, den Urgrund unseres Heute, habe ich geschildert, und möchte nun annehmen sie allgemeingültig beschrieben zu haben […]“ schreibt Koeppen über seinen Roman im Vorwort zur zweiten Auflage.3 Die Frage, ob Koeppens Werk als Zeitroman4 gelten kann, soll Thema einer anderen Arbeit sein.5 Festgehalten werden aber kann, dass es Koeppens Roman gelingt, das Leben seiner Figuren so darzustellen, dass jedem Rezipienten die Prägung derer durch die soziopolitischen Umstände dieser Zeit auffällt.6 Der Roman beschreibt die Lebensumstände der Zeit, indem er diese an individuellen Figuren zeigt. Genauso wie er zeitgleich Individualschicksale präsentiert, die immer durch die zeitgeschichtlichen Verhältnisse bestimmt sind. Doch der Roman stellt nicht nur da, sondern warnt im Zuge dessen vor latentem Rassismus als Quelle von Gewalt.7 Das Zusammentreffen der deutschen Bevölkerung mit den amerikanischen Besatzern stellt einen Großteil des Werkes dar, wobei sich vor allem spannungsgeladene Verhältnisse zwischen den schwarzen Soldaten und der weißen Bevölkerung abzeichnen, in welchen nationalsozialistische Grundgedanken ihre Fortführung finden.
Den Roman „Tauben im Gras“ für den Einsatz im Literaturunterricht auszuwählen, heißt ein Werk auszuwählen, dass besondere Chancen bietet, dass sich durch seine besondere Erzähltechnik, Sprache und Stil - in Anlehnung an den modernen Roman - auszeichnet und dabei einen Einblick gibt in eine vergangene Zeit. Wobei es nicht schon längst historisch geworden ist, sondern konstante Themen der menschlichen Erfahrung anspricht, wie Rassismus, Umgang mit Diversität und Freiheit. So kann der Roman beispielsweise als „Medium interkultureller Reflexion“8 gebraucht werden, der zeigt, wie Vorurteile jede kulturelle Begegnung beeinträchtigen. Es heißt jedoch auch ein Werk auszuwählen, dass durch seine komplexe Erzählstruktur, das Fehlen eines für alle verbindlichen Plots sowie einer Hauptfigur und dauerhaften Perspektiv- und Schauplatzwechseln Herausforderungen für Schüler und Schülerinnen und den Einsatz im Unterricht mit sich bringt.9 Um mit dieser Komplexität umgehen zu können, soll in der folgenden Arbeit ein Ansatz herausgearbeitet werden, welcher den Einsatz von „Tauben im Gras“ im Literaturunterricht erleichtern soll. Dabei soll ein Zugang zum Werk geschaffen werden, der schon vor der Gesamtlektüre Einblicke gibt in die grundsätzlichen Themen und ihre Umsetzung im Roman, damit die SchülerInnen bei der Bildung ihres mentalen Modells unterstützt werden und ihnen so die Gesamtlektüre erleichtert wird. Hauptziel ist dabei immer, das Textverstehen zu fördern und falschem textfernen Verstehen vorzubeugen.
Der im Folgenden vorgestellte Zugang wird sich auf die Figuren des Romans fokussieren, wobei die beiden Figuren Carla und Washington als besonders geeignet ausgewählt wurden. An ihnen lassen sich exemplarisch die zum Verstehen des Werkes benötigten Grundaspekte aufzeigen: die Verknüpfung jeder individuellen Figurengeschichte mit den soziopolitischen Begebenheiten der im Roman geschilderten Zeit und die grundsätzlichen Themen – Umgang mit Diversität, Fortwähren der NS-Ideologie, Freiheitswunsch und Utopiedenken. Somit werden im ersten Teil der Arbeit besonders prägnante Szenen fachwissenschaftlich analysiert, in welchen a) Carla oder Washington, b) beide oder c) ihr Umfeld auftreten. Ihr Umfeld wird in dieser Analyse nur eine Rolle spielen, wenn es mit den beiden Figuren interagiert oder auf sie reagiert. So werden auch Textstellen Frau Behrend, Dr. Frahm oder Heinz betreffend mit in die Analyse einbezogen. Die fachwissenschaftliche Auseinandersetzung soll zeigen, dass die Figuren Carla und Washington geeignet sind, exemplarisch die zum Verstehen benötigten Grundaspekte des Werkes zu verstehen. Außerdem sollen schon vorgreifend für die fachdidaktische Auseinandersetzung Textstellen präsentiert und analysiert werden, die sich für den Einsatz im Literaturunterricht anbieten. Im zweiten Teil der Arbeit werden die Ergebnisse der Analyse aufgegriffen und daraus ein geeigneter Zugang für die schulische Beschäftigung mit dem Roman ausgearbeitet. Dieser wird in drei aufeinanderfolgende Unterrichtssequenzen aufgeteilt, welche einzeln vorgestellt werden: a) Gesellschaftspolitische Kontexte hinzuziehen, b) Literarisches Gespräch über die Themen des Werkes und c) Das Grundmuster nachvollziehen mithilfe eines produktionsorientierten Verfahrens. Dabei soll auf die bestehenden Herausforderungen für Schüler und Schülerinnen eingegangen werden, ebenso wie auf Chancen und Grenzen des vorgestellten Zugangs. Letztlich soll diese Arbeit dazu dienen, eine Möglichkeit aufzuzeigen „Tauben im Gras“ für den Literaturunterricht fassbar zu machen, ohne die literarischen Besonderheiten des Werkes zu vernachlässigen.
2. Fachwissenschaftliche Betrachtungen zu „Tauben im Gras“
Im ersten Teil dieser Arbeit soll eine fachwissenschaftliche Analyse des Romans „Tauben im Gras“ erfolgen. Der Fokus hierbei liegt auf einer Besonderheit des Werkes: den Figuren. Dabei wird sich vor allem auf die Figuren Carla und Washington konzentriert. Bevor es zur genauen Textanalyse kommt, wird herausgestellt, wieso die Figuren ein besonderes Merkmal des Romans darstellen, und wieso sie für den Rezipienten sowohl zur Verstehensgefahr als auch zum Verstehensschlüssel des Romans werden (können). In einem nächsten Schritt werden Textstellen ausgewählt und analysiert, die entweder Carla oder Washington als die für den Fokus ausgewählten Figuren behandeln, wobei es auch dabei zu Interaktionen mit anderen Figuren kommen kann. Weiterfolgend wurde sich für eine Textpassage entschieden, die das Paar zusammen beschreibt. Abschließend wird das Umfeld der beiden Figuren näher betrachtet, wobei vor allem Textstellen analysiert werden, die von Frau Behrend (Carlas Mutter) oder Heinz (Carlas Sohn) handeln. Insgesamt soll den Fragen nachgegangen werden: Was macht die Figurenstruktur des Romans besonders? Wo bestehen Gefahren, wo Chancen in Bezug auf das Textverstehen? Wie wird die Beziehung von Carla und Washington beschrieben und wie reagiert das Umfeld auf die Beziehung des schwarzen Amerikaners und der weißen Deutschen? Welche Themen sprechen die analysierten Textstellen an? Welches Grundmuster des Romans zeigt sich exemplarisch an diesen Textstellen/Figuren? Die Ergebnisse dieser fachwissenschaftlichen Analyse werden im zweiten Teil der Arbeit Grundlage für die fachdidaktische Auseinandersetzung.
2.1 Ein besonderer Aspekt des Romans: Die Figuren
Im Roman „Tauben im Gras“ spielen über 30 Figuren eine Rolle. Diese zeichnen sich durch verschiedenste sozialstrukturelle Merkmale aus: Alter (Kind Hillegonda bis alter Mann Josef), Milieu/Schicht (reicher Dichter Edwin bis mittellose Jugendliche) und Nationalität (Amerikaner bis Deutsche). Dadurch wird ein Bevölkerungsquerschnitt geschaffen, der nahelegt, dass die Figuren mit ihren Merkmalen nicht willkürlich gewählt wurden.10 Durch den Schreibstil Koeppens, der vor allem mit inneren Monologen und dem Bewusstseinsstrom arbeitet, taucht der Rezipient in die Innenwelt der einzelnen Figuren ein.11 So werden die Gedanken, Gefühle, Handlungsmotive und (Selbst-)Reflexionen der Figuren subjektiv wiedergegeben. Wodurch der Rezipient diese gut nachvollziehen kann.
Das multiperspektivische Erzählen in Kombination mit ständigen Standortwechseln weitet den zeitlichen und räumlichen Rahmen des Romans aus, welcher sich lediglich auf einen Tag in einer deutschen Großstadt beschränkt.12 Durch den fortwährenden Wechsel wird vom Leser ein „permanentes Umdenken, Sich-Einstellen auf eine neue Situation gefordert.“13 Die Komplexität des Romans steigt weiterhin durch die fehlende Zentralfigur und somit einen fehlenden Handlungsschwerpunkt. Auf manchen Figuren liegt jedoch eher der Fokus als auf anderen: so auf Edwin, Philipp, Emilia, Washington, Carla, Josef und Odysseus. Die Handlungsstränge und somit Personen kreuzen sich/berühren sich an mehreren Stellen14 bis sich schließlich fast alle Figuren treffen, indem die Handlungsstränge zusammenlaufen und in dem „Bräuhaus-/Negerklub- Höhepunkt“ oder bei Edwins Vortrag im Amerikahaus enden.15 Zu Beginn werden die Figuren jedoch scheinbar zusammenhangslos und isoliert eingeführt, die personalen Beziehungen decken sich erst im Laufe des Romans auf und es wird am Anfang des Romans nicht klar, ob Figuren eine wichtige Rolle spielen werden oder nicht. So wird es für den Rezipienten schwierig zu filtern, welche Informationen eher handlungszentral sind und welche eher Randinformationen. Das Beziehungsgeflecht wird immer dichter und am Ende des Werkes gibt es keine Person, die nicht anderen Personen persönlich begegnet ist oder zumindest durch „Bekannte“ verbunden wirkt.16 Ochs bezeichnet dies als „Begegnungsnetz“, welches sich durch ein beziehungsloses Nebeneinander der Figuren auszeichnet.17 Seinem Standpunkt, dass die Figuren eher nicht als Individuen, sondern als gesichtslose Masse dargestellt werden, kann widersprochen werden. Vor allem durch die eben erwähnten inneren Monologe und den Einsatz des Stilmittels „Bewusstseinstrom“ gehen die einzelnen Figuren eben nicht in einer Masse unter, sondern stechen durch ihre jeweiligen individuellen Geschichten und Gedanken heraus. Von Einsiedel geht darauf aufbauend jedoch davon aus, dass die einzelnen individuellen „Splitterschicksale […] sich zu einem in seiner Weise typischen Kollektivschicksal [fügen]“18, welches sich durch den Moment der Krise auszeichnet. Angst und Bedrohung durch einen nahenden Krieg, die fehlende Aufarbeitung des Vergangenen und geringe Lebensstandards führen zu Pessimismus und Resignation der Figuren, welche keine Hoffnung auf einen Wandel und somit keinen Ausweg aus ihrem Zirkel aus Angst, Armut, Bedrohung und Isolation sehen.19 Die Figur Washington stellt mit seiner Hoffnung auf eine sich bald erfüllende Utopie eine Ausnahme dar. Dass jedoch das Leben jeder Figur und alle Beziehungen zwischen den Figuren durch die negativen Auswirkungen der beschriebenen soziopolitischen Umstände belastet sind, lässt sich nicht verneinen. Die Verhältnisse der Figuren untereinander sind geprägt von Unverständnis, fehlender und fehlschlagender Kommunikation und so spürbarer Einsamkeit. So sagt die Figur der Emilia selbst: „Jede menschliche Beziehung ist blöd“.20
Es lässt sich zeigen, dass der Aspekt der Figuren Gefahren beim Textverstehen bieten kann, sei es durch das Fehlen einer Haupt-/Heldenfigur oder durch die fehlende Gewichtung oder Informationsregulation vor allem zu Beginn des Werkes. Jedoch bietet die Betrachtung der Figuren auch einen Zugang zum Werk, indem durch sie alle wesentlichen Themen des Romans angesprochen werden und sich dem Rezipienten so die spezifische Umsetzung Koeppens zeigt, der den historischen Kontext mit den Figurengeschichten verknüpft darstellt. An den Figuren Carla und Washington soll im Folgenden exemplarisch gezeigt werden, wie sich der Zugang zum Werk durch die Figuren ergibt.
2.2 Die Figur der weißen Deutschen Carla
Die erste Szene (S.47-50), welche in diesem Abschnitt näher betrachtet werden soll, beginnt mit Carlas Ankunft bei Dr. Frahm, kommt aber zügig zu einem Rückblick in Carlas Vergangenheit: „Wie hatte sie sich gefürchtet! Der erste Tag in der Kaserne der Schwarzen.“21 Es wird ein Einblick in ihr persönliches Schicksal und in ihre Handlungsmotive gegeben. So erfährt der Rezipient, dass ihr Mann und Vater ihres Sohnes tot, ertrunken oder begraben in/an der Wolga liegt und sie nach Abkehr von ihrer Mutter selbst für ihre Versorgung und der ihres Sohnes zuständig ist.22 Sie rechtfertigt ihren Arbeitsbeginn in der Kaserne mit dem Hunger, der zu dieser Zeit herrschte: „[…] sie mußte was auftreiben, man war am Verhungern, die schlimmen Jahre fünfundvierzig, sechsundvierzig, siebenundvierzig […]“23. Die allgemeine Situation zu dieser Zeit, welche sich durch Krieg, Tod der beteiligten Soldaten und Hunger auszeichnet, wirkt sich explizit auf das Schicksal der Figur Carla aus. Auch in dem Verhältnis von ihr und Washington zeigt sich dies. Er versorgte sie mit „Luxusgütern“ zu dieser Zeit: Schokolade, Konserven und Zigaretten.24 Sie verbrachten viel Zeit im Wagen, nachdem sie vor Carlas Haus ankamen. In ihrer Umgebung zeigen sich die Kriegsschäden: „Auf der Straße lag damals noch der Schutt der zerbombten Gebäude.“25
Auch Carlas Reaktion und die ihres Umfelds auf die amerikanischen schwarzen Soldaten und im Speziellen auf Washington wird beschrieben. Mehrmals fällt in diesem Zusammenhang das Wort fremd von Seiten Carlas: „[…] nicht das fremde Wesen sehen, nicht die dunkle Haut […] nur den Text, den er diktiert“26, „fremd, fremd aber ich bleibe ihm treu“27. Sie rechtfertigt die Annahme ihres neuen Jobs in der „Kaserne der Schwarzen“ vor sich: „[…] sie musste, warum sollte sie nicht? waren es nicht auch Menschen?“28. Ihr Umfeld reagiert anders auf die schwarzen Soldaten und ihr beginnendes Verhältnis mit Washington. Sie nehmen die „Luxusgüter“, die Washington ersteht und „vergaßen, daß die Waren im amerikanischen Lager Dollars und Cents kosteten.“29 Carla fühlt sich verpflichtet und schuldig (?), weil sie nicht mit einem Weißen zusammen ist: „Es war, als liefere Carla einen Tribut ab“.30 Durch ihre Beziehung mit Washington glaubt ihr Umfeld, sie würde mit jedem schlafen. Die Reaktion ihres Umfelds fällt anders/spezieller aus, als wenn sie eine neue Beziehung mit einem Weißen eingegangen wäre. Die Umstände veranlassen sie sogar zu einem Umzug und zur Kündigung ihres Jobs, damit sie ungestört mit Washington zusammenleben kann.31 Ein Aspekt des Romans zeigt sich hier exemplarisch: der Umgang mit Diversität.
In ihrem Nichtstun träumt sie von einer besseren Zukunft für sich und ihre Familie. So entwirft Carla ihre Utopie angeheizt von amerikanischen Frauenmagazinen, die Komfort und Sicherheit versprechen: „[…] keine Angstträume ängstigten mehr […] und die Frau war die Königin“.32 Ihre Utopie ergibt sich also nur durch Auswanderung in die USA. In Zusammenhang mit dieser Wunschvorstellung, „in diesem Paradies“33 war sie bereit Washington zu heiraten. Das setzt sie schon in die Realität um, indem sie die Todeserklärung ihres verschollenen Mannes in Gang setzt. Doch dann holt sie die ungeplante Schwangerschaft in die Realität zurück. Schon hier deutet sich an, dass Carlas Wunsch der Abtreibung mit ihren jetzigen Lebensumständen zusammenhängt. „Und da kam das Kind, ein schwarzes Wesen, […] kam zu früh“34, zu früh, bevor sie ihre Utopie in die Wirklichkeit umsetzen konnte.
Die genauen Gründe für ihren Abtreibungswunsch beschreibt Carla in der zweiten analysierten Szene auf den Seiten 126 und 127. Nachdem sich Carla mit ihrer Mutter im Domcafé getroffen hatte, erhält der Rezipient Einblick in ihre Gedanken. Carla zweifelt an der Umsetzungswürdigkeit ihrer amerikanischen Zeitschriftenutopie. Auch zweifelt sie daran, dass ihr ungeborenes Kind in diese Welt passen könnte.35 Die Handlungsmotivationen für ihre Abtreibung sind keine subjektiv bezogenen Gründe; nicht, dass sie Washington als schlechten Vater sieht oder sich selbst nicht dem Kind gewachsen fühlt. Im Gegenteil: Washington sei „ein guter Kerl“36. Doch er und auch alle anderen Schwarzen „saßen im falschen Zug.“37 Der „richtige Zug“ ist laut Carla der Zug der weißen Amerikaner, denn auch nur dieser könnte sie in ihre Utopie führen, in „die Welt des Wohlstandes, der Sicherheit und des Behagens“38. Wohingegen Washingtons Zug in eine „Welt, so dunkel, so schäbig, so dreckig, […] wie die Welt hier“39 fährt. Carla will ihr Kind also ebenso wenig in ihrer jetzigen Welt, wie auch in der anderen Welt bekommen, die Washington ihr (laut ihrer Meinung) eröffnen könnte. Implizit kristallisiert sich hier der Grund für Carlas Abtreibung heraus: die Möglichkeiten eines Schwarzen, hier im Speziellen Washington, in der Welt sind zu begrenzt und nicht die richtigen für ihr gemeinsames Kind. In dieser Szene bereut Carla ihre Beziehung mit Washington: „Es war ein Fehler gewesen, sich mit Washington zu vereinen. Carla war in den falschen Zug gestiegen.“, „Carla hätte in den richtigen Zug steigen können. Es war nie wiedergutzumachen.“40.
[...]
1 Koeppen, Wolfgang (2015): Tauben im Gras. Frankfurt am Main44: Suhrkamp Verlag. Vorwort zur Taschenbuchausgabe 1956.
2 Vgl. Wehdeking, Volker/ Blamberger, Günter (1990): Erzählliteratur der frühen Nachkriegszeit (1945 – 1952). München: Beck. S. 132.
3 Koeppen, Wolfgang (2015): Tauben im Gras. Frankfurt am Main44: Suhrkamp Verlag. Vorwort zur Taschenbuchausgabe 1956.
4 Definition Zeitroman: „Realistisch- essentialistisches ‚Erfassen‘, in diesem Fall der westdeutschen Nachkriegszeit“ (Eisele, Ulf (1987): Odysseus trinkt Coca-Cola. In: Eckart Oehlenschläger (Hrsg.): Wolfgang Koeppen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. S. 259).
5 Forschungsliteratur zugunsten der Ansicht, „Tauben im Gras“ sei ein Zeitroman: Wehdeking/ Blamberger: Erzählliteratur der Nachkriegszeit, S. 133.; Einsiedel, Wolfgang von (1976): Ein dichterischer Zeitroman. In: Greiner, Ulrich. Über Wolfgang Koeppen, S.33.; Scherpe, Klaus R. (1992): Die rekonstruierte Moderne. Studien zur deutschen Literatur nach 1945. Köln: Böhlau Verlag, S. 166. Forschungsliteratur gegen die Ansicht, „Tauben im Gras“ sei ein Zeitroman: Eisele, Ulf (1987): Odysseus trinkt Coca-Cola. S. 258 – 272.; Häntzschel, Günter (2003): Durchheiterter Ernst. Wolfgang Koeppens, Tauben im Gras. In: Häntzschel, Günter/ Leuschner, Ulrike (Hrsg.): Jahrbuch der Internationalen Wolfgang Koeppen-Gesellschaft (B. 2), S. 115.
6 Vgl. Wehdeking/ Blamberger: Erzählliteratur der Nachkriegszeit, S. 133.
7 Wehdeking/ Blamberger: Erzählliteratur der Nachkriegszeit, S. 136.
8 May, Yomb (2009): „Mit den Ausländern kannte man sich nicht aus“. Transnationale Erstbegegnungen als ästhetische Erfahrung in Wolfgang Koeppens Tauben im Gras. In: Gerd Ulrich Bauer (Hrsg.): Standpunkte und Sichtwechsel. München: Iudicium Verlag, S. 209.
9 Vgl. Costa, Shari (2017): Ein Unterrichtsmodell zu Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ für die gymnasiale Oberstufe. In: Miedema, Nine: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. Themenheft Germanistik in Europa: Forschungs- und Ausbildungsperspektiven (Jg.64). Göttingen: V&R unipress, S. 364 – 382).
10 Vgl. Koch, Manfred (1973): Wolfgang Koeppen. Literatur zwischen Nonkonformismus und Resignation. Stuttgart: Kohlhammer, S. 65.
11 Koeppen, Wolfgang, Tauben im Gras. Frankfurt am Main44 2015. Zum Beispiel: S.52. (im Folgenden in den Fußnoten unter dem Kurztitel TiG S. xy)
12 Vgl. Koch, Manfred (1973): Wolfgang Koeppen, S. 64.
13 Ochs, Tilmann: Kulturkritik im Werk Wolfgang Koeppens. In: Brenner, Peter (Hrsg.), Literatur – Kultur – Medien (B. 5), S. 130.
14 Zum Beispiel TiG ab Seite 50 (die Ampelszenen).
15 Vgl. TiG ab S. 172.
16 Vgl. Ochs, Tilmann: Kulturkritik im Werk Wolfgang Koeppens, S. 67.
17 Ochs, Tilmann: Kulturkritik im Werk Wolfgang Koeppens, S. 163.
18 Einsiedel, Wolfgang von (1976): Ein dichterischer Zeitroman. In: Greiner, Ulrich. Über Wolfgang Koeppen, S. 34.
19 Vgl. Koch, Manfred (1973): Wolfgang Koeppen, S. 76-79.
20 TigTiG S. 181.
21 TiG S. 47.
22 Vgl. TiG S. 48.
23 TiG S. 48.
24 Vgl. TiG S. 48.
25 TiG S.48.
26 TiG S. 48.
27 TiG S. 49.
28 TiG S. 48.
29 TiG S. 49.
30 TiG S. 49.
31 Vgl. TiG S.49.
32 TiG S. 50.
33 TiG S. 50.
34 TiG S. 50.
35 Vgl. TiG S. 127f. „Die andere Welt, die schöne bunte Welt der Magazine […] paßte nicht zu diesem Kind.“, „Carla zweifelte jetzt, ob sie die schöne Traumwelt der amerikanischen Magazine jemals erreichen würde.“
36 TiG S. 127.
37 TiG S. 127.
38 TiG S. 127.
39 TiG S. 127.
40 TiG S. 127.