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Hausarbeit, 2021
20 Seiten, Note: 1,7
1 Einleitung
2 Die Theorie: „Interaktionsrituale“ von Erving Goffman
2.1 Wissenschaftstheoretische und -historische Verortung
2.2 Goffmans Vorgehensweise und Werk - ein fokussierter Überblick
2.3 Interaktionsrituale - über Verhalten in direkter Kommunikation
2.4 Im Fokus: Imagepflege sowie Ehrerbietung und Benehmen
3 Das Phänomen: misslungener Übergang Schule-Arbeitsmarkt
3.1 Misslingender Übergang Jugendlicher in den Arbeitsmarkt
3.2 Interaktionskompetenz als Sozialkompetenz
3.3 Im Fokus: Techniken der Imagepflege / Ehrerbietung und Benehmen
4 Kritisches Fazit
Literaturverzeichnis
Der Fokus dieser Arbeit liegt auf Interaktionsritualen in direkter Kommunikation (nach Goffman 1967/2013) und wird angewandt auf das Phänomen der Jugendlichen, denen der Übergang von der Schule in den Ausbildungsmarkt nicht gelingt. Es wird hier davon ausgegangen, dass den Jugendlichen die gesellschaftlich erwarteten und geforderten Interaktionsrituale nicht geläufig sind, sie also nur über eine mangelnde Sozialkompetenz verfügen, was den Zugang in ein Ausbildungsverhältnis verhindert und zur Einmündung in den berufsschulischen Übergangssektor führt. In Kapitel zwei wird die inhaltlich leitende Theorie der Interaktionsrituale vorgestellt. Das Werk Erving Goffmans mit den Schwerpunkten Interaktionsordnung und -ritualen sowie direkte Kommunikationssituationen wird theoretisch eingeordnet und die für die Interaktionsrituale relevanten Werke und Aspekte werden dargestellt, mit denen er versucht, die Strukturen, Mechanismen und Regeln von interaktionalem Verhalten zu erfassen. Das Phänomen Interaktionskompetenz als Herausforderung für Jugendliche im Übergang Schule-Arbeitsmarkt unter Berücksichtigung von Sozialisation und Individuation wird in Kapitel drei beschrieben und mit Goffmans theoretischem Ansatz verknüpft. In Kapitel vier erfolgt ein kritisches Fazit.
Nach Dellwing dreht sich Erving Goffmans gesamtes Werk um die Art der Darstellung unterschiedlicher offizieller und inoffizieller Realitäten, „wie eine ,offizi- elle Version‘ der Welt erschaffen und eine inoffiziell subtil mitkommuniziert wird“ (2014, S. 21). Dabei sind Goffmans zwei große Themen, die Interaktionsordnung und face to face-Situationen, nur in der Kombination verständlich: die face to face-Situationen sind die Grundlage, die die bestehende soziale Interaktionsordnung als soziale Realität darstellen und reproduzieren (ebd., S. 40). In den folgenden Unterkapiteln wird Goffmans Werk wissenschaftstheoretisch und - historisch eingeordnet (2.1), auf seine forschende Vorgehensweise sowie die hier relevanten Werke eingegangen (2.2), und es werden die Kernthesen seiner ,Interaktionsrituale‘ (2.3) dargestellt.
Interaktion bedeutet, dass mindestens „zwei Individuen miteinander und aufeinander bezogen handeln“ (Abels 2009, S. 184). Die Frage nach dem ,Wie?‘ und dem ,Warum?‘ ist nach Abels einerseits mit dem normativen Paradigma (in der Tradition Durkheims und Parsons‘) zu erklären, andererseits mit dem interpretativen Paradigma (ebd., S. 185, unter Bezug auf Wilson 1970, Hervorh. i. O.).
Das hier angewandte interpretative Paradigma erklärt zwischenmenschliches Handeln damit, dass handelnde Individuen die jeweiligen Situationen und ihr Handeln reziprok interpretieren und aktiv definieren (ebd.) und ist in dieser Arbeit grundlegend. Simmel („Individuen [vergesellschaften sich] im Prozess der Wechselwirkung fortlaufend“) und Weber („Handeln erfolgt in einer sozialen Beziehung [...] und ist eine soziale Beziehung“)1 können nach Abels als basisbereitende Klassiker für Interaktionstheorien gelten (ebd.). Mead und Blumer, als maßgebliche Vertreter des Symbolischen Interaktionismus, sehen das Individuum im Vordergrund und Interaktion als wechselseitige Interpretation und damit als Definition des Selbst, des Handelns und der Situation (ebd.). Vester sieht Blumer „als auf den Schultern von Mead stehend“ mit dem Versuch, den Symbolischen Interaktionismus als „Schule“ in der Soziologie zu etablieren, mit einem „offenen, interpretativen Charakter der Interaktion“ (2010, S. 21) und Gof- fman „zweifellos“ als wichtigsten und originellsten Nachfolger von Blumer (ebd., S. 22). Grills schreibt: „Goffman, like Blumer (1986) takes human interaction to be crucial for understanding the social fact“ (2015, S. 142). Als weiterer starker Einfluss auf Goffmans Forschungshandeln wird hier Garfinkels Ethnomethodo- logie gesehen. Diese geht als praktische Methode des Alltagshandelns davon aus, dass in Interaktionen, je nach Gruppe, Milieu oder Gesellschaft, ein gemeinsames Alltagswissen vorhanden ist (Abels 2009, S. 219f.). In alltäglichen Interaktionen bieten Individuen implizit Erklärungen für ihr Verhalten und das der Interagierenden an und stellen durch diese Sinn-Definitionen die Interaktionsordnung her (Abels 2020, S. 214). Um aufzudecken, wie alltägliches Handeln funktioniert, hat Garfinkel experimentell in alltägliche Routinen eingegriffen und diese gestört. Goffman hat durch sein wiederholt regelbrechendes Verhalten in alltäglichen Situationen Irritation in sozialen Interaktionen hervorrufen wollen und ist somit, nach Dellwing, der „eigentliche Begründer des Garfinkel- schen Krisenexperiments“ (2014, S. 36). Garfinkel dagegen habe sozial irritierendes Verhalten als „offizielle Forschungsform“ benannt (ebd.). Es wird deutlich, dass Goffman die Theorien des Symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie in seiner Interaktionsforschung kombinierte.
Auf Goffmans Methoden und Werk wird im folgenden Kapitel eingegangen.
Goffman geht bei der Entwicklung seiner Theorien nicht methodisch kongruent oder empirisch nachvollziehbar vor und weist auch selbst darauf hin, dass seine „unsystematische und naturalistische Beobachtungen“ ihre Grenzen hat (1971/2009, S. 15). Methoden und Analysepraktiken werden von ihm nicht erläutert (Dellwing 2014, S. 2) und er lehne eine Systematisierung, eine Reduzierung der Welt auf abstrakte Systeme, bewusst ab (ebd., S. 4, 64). Goffman entwickele, so Dellwing weiter, kein zugrundeliegendes Theoriegebäude, er untersuche immer wieder das gleiche Feld; die gleichen „Hürden“ werden immer wieder genommen, ohne deutlichen Bezug zu seinen anderen Werken und auch immer aus anderen Perspektiven sowie anderen Zielsetzungen (ebd., S. 59, 63). Nicht ein kohärentes Theoriensystem, sondern Metaphern sind das „organisatorische Gerüst“ (ebd.), mit dem Goffman versucht, Alltägliches zu erfassen, um „Kreativität und Einsicht“ zu befördern (ebd., S. 65). Laut Abels habe Goffman selbst nie versucht, seine Theorie zu erklären; er „ließ es einfach darauf ankommen, dass man ihn verstand - oder auch nicht.“ (2020, S. 241). Grills sieht die Stärke Goffmans in „an unrelentig commitment to sociological insight grounded in empirical evidence derived from human action as is situated in our living, and loving and singing together“ (2015, S. 143) und hebt so den alltäglichen Charakter seiner Beobachtungen hervor. Goffman betrachte und beschreibe soziale Erscheinungen aus drei Perspektiven: interaktionistisch (Sinn und Identität werden in Interaktionen hergestellt oder zerstört), dramaturgisch (Interaktionen sind von Settings und Rollenvorgaben geprägt) und semiotisch (Interaktion und Dramaturgie sind in nicht manipulierbare Zeichensysteme eingebettet) (Vester 2010, S. 23f.).
In dem webbasierten open-source Projekt der EGA (Shalin 2007-2017) wird der Begriff des „bios sociologicus“ entwickelt, als ein der Soziologie gewidmetes Leben, ohne klare Trennung zwischen Goffman als Wissenschaftler und Goff- man als Mann (ebd.). Auch Dellwing konstatiert, dass es keine Trennung zwischen Goffmans Forschungsvorgehen und seinen alltäglichen Lebenswelten gab (2014, S. 37) und schreibt, dass diese fehlende Trennung zum „Grundprinzip seiner Sammlung erhoben“ wurde, die er „gierig“ und „serendipitös“ betrieb (ebd., S. 51). Goffman habe bewusst Verstöße sozialer Regeln inszeniert, sei es durch Ehrerbietungsverweigerungen oder unangepasstes Verhalten, um die Mechanismen von Interaktionsritualen dadurch aufzudecken, dass er gegen soziale Erwartungen verstieß und so Reaktionen hervorrufen konnte, die er dann in seinen Arbeiten verwendete (ebd., S. 30ff.). Goffman wollte der zu erforschenden Weltoffenheit mit ebenso offener Forschungsmentalität und Erkenntnisbereitschaft begegnen (1963/2009, S. 20). Mit seinem ethnomethodologi- schen Zugang, der teilnehmenden Beobachtung, einer „Flaneurethnografie“ (Dellwing 2014, S. 4), könne Goffman viele alltägliche Interaktionen beschreiben, auf Basis derer er seine theoretischen Gedanken entwickelt. Nach Dellwing sei diese scheinbare Ungenauigkeit, die Anordnung von Material um metaphorisch entwickelte Ideen, „die sauberste Form der grounded theory “ (ebd., S. 5f., Hervorh. i. O.). Goffman habe alles verwendet, was ihm nützlich erschien, alles an Material sei erlaubt gewesen, was ihm für seine analytischen Ziele gedient habe (ebd., S. 56). Damit sei seine Materialsammlung nicht von der Analyse zu trennen, die Methode schränke die Analyse nicht ein, (ebd., S. 57). Bude und Dellwing ordnen Goffman den „lebensweltlichen“ Alltagssoziologien zu (2015, 10ff.), welche den Konstruktionismus (,Wie machen wir es?‘) und den Kontextualismus (,Was bedeutet es? Kommt drauf an.‘) in den Mittelpunkt stellen und Abstraktionen und Vorabdefinitionen als hinderlich betrachten für das explorative Erkenntnisinteresse einer alltäglichen Ordnung unter Berücksichtigung der individuell Handelnden (ebd.). Goffman kreierte durch seinen unprätentiösen, verständlichen und auch oft amüsanten Stil, so Dellwing, eine Form der „hinterlistigen Soziologie“: die beschriebenen alltäglichen Interaktionen mit ihren Unsicherheiten und Seltsamkeiten werden von den Leser*in- nen wiedererkannt, womit „im flanierenden Schritt“ die Hemmschwelle zwischen Realität und abstrakter soziologischer Perspektive übertreten und der soziologische Wert alltäglicher Handlungen erkannt wird (2014, S. 1).
Goffman konzentriert sich in seinen Untersuchungen auf Erhebungen in der US- amerikanische Mittelschicht in der Mitte des 20. Jahrhunderts, sowie von einem Forschungsaufenthalt in einem Dorf auf den Shetland-Inseln. Der Schwerpunkt von Goffmans Arbeit liegt auf der „Mikrowelt der sozialen Interaktion“, welche aber „in lockerer Weise [mit der makrosozialen Welt] verkoppelt ist“, beide sind als „eigenständige Realitäten“ zu betrachten, als „ein Gefüge von Sinnschichten“ (Vester 2010, S. 22). Goffman hat mehrere Texte zu dem auf der Mikroebene verorteten interaktionalen Handlungsbereich veröffentlicht, die jeweils unterschiedliche Perspektiven einnehmen (1971/2009, S. 21) und nicht kohärent aufeinander bezogen sind. Alle Werke haben als Thema die ,Interaktions- ordnung‘. In diesem Kapitel werden diejenigen Werke chronologisch und verkürzt vorgestellt, die Psathas als zentral für Goffmans Untersuchungen der direkten Interaktion erachtet (1980/1994, S. 52) und welche als Verständnisgrundlage dieser Hausarbeit dienen. Dabei ist es interessant, welche differierenden Perspektiven Goffman auf das Thema der zu untersuchenden Interaktion anwendet.
In Interaktion: Spaß am Spiel/Rollendistanz (,Encounters‘ 1961/1973) betreibe Goffman eine „Soziologie der Aufeinanderbezogenheit“ (Dellwing 2014, S. 44). In diesem Werk differenziert Goffman die nicht-zentrierte („unfocused“) und die zentrierte („focused“) Interaktion. Die letztere besteht, im Gegensatz zur nichtzentrierten Interaktion, aus einem gemeinsamen Fokus kognitiver oder visueller Aufmerksamkeit, welcher zeitlich limitiert ist (ebd., S. 7) und ist das Thema der zwei Essays in diesem Buch, die sich mit zentrierten Versammlungen als „na- türliche[r] Einheit der sozialen Organisation, in der eine zentrierte Interaktion auftritt“ befassen (ebd. S. 8). Das Essay ,Spaß am Spiel' nähert sich diesen spieltheoretisch, das zweite Essay ,Rollendistanz' dagegen aus einer rollentheoretischen Perspektive. Durch diesen Perspektivwechsel wird der Versuch Gof- fmans deutlich, möglichst variabel Interaktionen zu erfassen.
In der Einleitung zu Interaktion im öffentlichen Raum (,Behavior in Public Places' 1963/2009) schreibt Knoblauch, dass sich, nach Goffman, bei sozialen Situationen mit aufeinander bezogenen Handlungen „ein Reich der Interaktion“, mit eigenständiger „Interaktionsordnung“, entfalte (ebd., S. 9ff.). ,Öffentlichkeit' finde also statt, wenn Handelnde sich bemerkbar machen, beobachtet werden können, als Raum wechselseitiger Erwartungen und Interaktion, durch Interaktion gebildet (ebd., S. 13). Goffman bezieht sich in seinem Buch auf seine Beobachtungen in psychiatrischen Anstalten, auf seine Shetland-Erhebungen und seinen „Zettelkasten“ frappierender Zitate (ebd., S. 20). Er nennt als Ziel seines Buches, einen strukturellen Rahmen „einfacher sozialer Kontakte“ zu entwickeln und unterscheidet zwischen gebilligten Handlungen und Handlungen, die als „falsch und ungehörig“ gelten (ebd.), nimmt ergo direkt Bezug auf gesellschaftlich geforderte Normen. Goffman verwendet hier die Formulierung der ,sozialen Ordnung' als „Folge jedes moralischen Normensystems, das die Art regelt, in der Personen irgendwelche Ziele verfolgen“ (ebd., S. 24). Dies ist ein klarer Bezug auf die makrostrukturellen sozialen Regeln und deren Einfluss auf die mikrostrukturellen, direkten Kontakte zwischen Personen. Goffman fasst dies so zusammen: „In Gegenwart anderer wird der Einzelne durch ein besonders System von Regeln [situative Anstandsformen] gelenkt,“ (ebd., S. 247) und nennt schlussfolgernd „eine soziale Zusammenkunft [eine] kleine Gesellschaft“ (ebd., S. 248), welche ,unpassendes' Handeln mit der Einweisung in eine psychiatrische Anstalt sanktioniert (ebd., S. 252).
In Interaktionsrituale (,Interaction Ritual' 1967/2013) veröffentlichte Goffman sechs Aufsätze, die in differenzierenden Perspektiven die Frage nach dem erforderlichen Grundmodell des Handelns im sozialen Miteinander mit dem „Ergebnis der geordneten Interaktion“ stellen (ebd., S. 9.). In Interaktionen sind die „rituellen Eigenschaften“ und die territorialen Eigenheiten miteinander verknüpft (ebd., S. 7). Sie beeinflussen die individuelle, oft unbewusst übernommene und angewandte, Verhaltensstrategie, die immer mittels (non-) verbaler Handlungen die interaktiv-reziproke (Selbst-) Einschätzung der Situation und aller anwesenden Personen ausdrücken soll (ebd., S. 8) - hier setzt der Ritualgedanke Goff- mans an. Die Essays tragen die Titel ,Techniken der Imagepflege‘, ,Über Ehrerbietung und Benehmen', ,Verlegenheit und soziale Organisation', ,Entfremdung in der Interaktion', ,Psychische Symptome und öffentliche Ordnung' und ,Wo was los ist - wo es action gibt'. Die ersten beiden Essays stehen in dieser Hausarbeit im Zentrum und werden ausführlich im folgenden Kapitel behandelt.
Strategische Interaktion (,Strategic Interaction' 1969/1981) befasst sich aus spielmetaphorischer Sicht mit persönlicher Interaktion, die nach Goffman zwar immer eine Art von Kommunikation ist, aber keinesfalls auf diese allein beschränkt ist (1969/1981, S. 9). Sein Thema in diesem Werk, mit Beispielen aus dem Spionage-Leben, sind „die Fähigkeiten des einzelnen (sic!) zur Gewinnung, zur Lieferung und zum Verbergen von Informationen“, mit dem Fokus auf kontextabhängige, (non-) verbale und (un-) intendierte „ Ausdrucks-Information “ (ebd., S. 14f., Hervorh. i. O.). Goffman behandelt in diesem Buch zum einen ,Ausdrucksspiele', in welchen Informationen strategische Bedeutung erlangen und manipulativ angewandt oder ausgelassen werden können. Es kommt zu einem „Wettkampf um die Einschätzung“ der Situation und der Interaktionspartner (ebd., S. 18), welche aber durch die Manipulations- und Beurteilungsmöglichkeiten immer eine, jeder sozialen Situation innewohnenden, „Unsicherheitsstruktur“ beinhaltet (ebd., S. 74). Zum anderen beschreibt Goffman die ,Strategische Interaktion', in welcher er die aus Berechnung möglichen ,Spiel- züge' und „Funktionen“ in Interaktionen differenziert (ebd., S. 77ff.). Hier bezieht sich Goffman deutlich auf Mead und die „symbolische Interaktion“ (ebd., S. 117), sieht aber eine Weiterentwicklung dieser Perspektive erstens durch die „Vollständige Interdependenz“ der ,Spielenden' und zweitens (unter Bezug auf Schelling) mit der „Dynamik der Interdependenz bei beiderseitigem Wissen um sie“ (ebd., S.118). Goffman zeigt aber auch deutlich Einschränkungen der Anwendung dieser analytischen Perspektive auf soziale Beziehungen und soziale Zusammenkünfte auf (ebd., S. 120f.). Damit ist klar zu erkennen, dass er viele theoretische Überlegungen entwickelte, diese aber nicht zu einer in allen sozialen Situationen anwendbaren Theorie verdichtet.
In Das Individuum im öffentlichen Austausch (,Relations in Public' 1971/2009) gilt Goffmans Interesse der öffentlichen Ordnung, „jenen Grundregeln und Verhaltensregulierungen, die Bereich des öffentlichen Lebens wirksam sind“ (ebd., S. 14). In den sechs Essays des Buches, nach ihm „recht eigensinnige Kapitel“ (ebd., S. 21), versucht Goffman „ein Ziel von sechs verschiedenen Positionen aus zu treffen“ und betont, dass so „keine systematische, erschöpfende und Wiederholungen vermeidende Behandlung ihres gemeinsamen Themas beansprucht“ wird (ebd.). Die sechs unterschiedlichen Perspektiven sind die auf das Individuum (als Fortbewegungs- und Partizipationseinheit), die Territorialität, den bestätigenden und den korrektiven Austausch (als stark ritualgeprägt), auf Beziehungszeichen und normale Erscheinungen. In diesem Buch wird die Komplexität des Forschungsinteresses Goffmans deutlich: soziale Interaktionen sind so vielfältig, dass sie empirisch unendlich sind und eine allgemeintheoretische Fassung schlicht unmöglich erscheint.
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1 Diese bewusste stark verkürzte Darstellung der Theorien wird hier nur verwendet, um eine wissenschaftshistorische Einordnung des im Fokus stehenden Werkes von Goffman zu leisten.