Welche Chancen versprechen sich Jugendliche mit Hauptschulabschluss vom Besuch dieser Klasse des Übergangsbereiches für ihren weiteren (Aus-)Bildungsverlauf? Wie möchten die Jugendlichen die von diesem verpflichtenden Berufsschuljahr gebotenen Chancen wahrnehmen? Welche Rolle kommt der Berufsschule bei dieser möglichen Transformation von Pflicht zu Chance zu?
Das erste Kapitel befasst sich mit der definierenden und formalen Einordnung des Übergangssektors und weiterer verwendeten begrifflichen Bestimmungen, den der Untersuchung zugrundeliegenden Annahmen und Theorien sowie dem Stand der Forschung und den vielfältigen kritischen Stellungnahmen zum Übergangsbereich. Das zweite Kapitel stellt die verwendeten Erhebungsmethoden dieses Forschungsprojektes vor, erläutert die Spezifika des Feldzugangs sowie des praktischen Erhebungsprozesses und begründet die Auswertungsmethoden. Im Kapitel drei werden die herausgearbeiteten Ergebnisse des Forschungsprozesses interpretiert und diskutiert. Im vierten Kapitel werden der vorliegende Forschungsbericht und durchgeführte Forschungsprozess kritisch reflektiert sowie ein Ausblick auf weitere Forschungsdesiderata und auf praktische Verwertungszusammenhänge der Forschungsergebnisse gegeben.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Begrifflichkeiten, Theorierahmen und Diskurse
1.1 Erlauterung der verwendeten Begriffe
1.2 Zugrundeliegende Theorien und Annahmen
1.3 Forschungsstand und Diskurse
2 Methoden der Erhebung und Auswertung
2.1 Vorstellung und Begrundung der Erhebungsmethoden Gruppeninterview und Kurzfragebogen
2.2 Feldzugang und Durchfuhrung der Datenerhebung
2.3 Auswertungsmethoden
3 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse
4 Reflektion, Fazit und Ausblick
5 Literaturverzeichnis
6 Anhang
6.1 Kurzfragebogen und Interviewleitfaden
6.2 Postskriptum-Notizen zum Gruppeninterview
6.3 Auswertung Kurzfragebogen
6.4 Transkriptionsregeln
6.5 Transkript des Gruppeninterviews
6.6 Regeln der Reduktion und der Kategorienerstellung
6.7 Entwickelte Kategorienschemata fur das Gruppeninterview
Abstract
Deutsch: Minderjahrige Jugendliche, die nach einem ersten Schulabschluss nicht in eine Ausbildung einmunden, gelangen ins berufsschulische sogenannte „Ubergangssystem“. Dieses ist wegen seiner Heterogenitat und Sinnhaftigkeit umstritten. Wenn die Jugendlichen dort keine motivierende Perspektive auf ei- nen hoherwertigen Schulabschluss erhalten - worin sehen sie dann ihre Chan- cen in diesem Berufsschulpflichtjahr oder geht es ihnen nur um eine Pflichter- fullung? Und was erwarten sie von der Institution Berufsschule? Dies wurde hier mittels eines Gruppeninterviews erhoben und mit der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) ausgewertet. Das Fazit dieses Forschungsprojektes lautet: Jugendliche, die zusatzlich zu den gesellschaftli- chen und bildungspolitischen Anforderungen auch noch Schwierigkeiten beim direkten Ubergang Schule-Beruf haben, benotigen individuelle padagogische Unterstutzung beim Erkennen ihrer Chancen und bei der Entwicklung konstruk- tiver Handlungslogiken.
English : Underage youths who do not enter vocational training after completing their first school leaving certificate enter the so-called "transition system" in vocational school. This “system” is discussed controversially because of its heterogeneity and meaningfulness. If the young people in this system do not get the motivating prospect of a higher-quality school leaving certificate - what will they then see as their chances in this compulsory vocational school year? Are they only interested in fulfilling their duties? What do they expect from the institution vocational school? This was investigated here conducting a group interview and was analysed using the summarizing qualitative content analysis by Mayring (2015). The conclusion of this research project is as follows: young people who, in addition to the social and educational requirements, also have difficulties in the direct transition from school to work need individual pedagogical support in recognising their opportunities and in developing constructive action logic.
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Prozessmodell induktiver Kategorienbildung nach Mayring
Einleitung
„Was sollen wir hier eigentlich?“, das fragen sich viele minderjahrige Jugendli- che, die ihren Hauptschulabschluss zwar erlangt haben, aber aus verschiede- nen Grunden nicht den Ubergang in eine schulische oder berufliche Ausbildung leisten konnten und nun ihre gesetzliche Berufsschulpflicht im „Ubergangssys- tem“ noch erfullen. Ob freiwillig oder als Notlosung, ist umstritten.
Das sogenannten „Ubergangssystem“ (KBB 2006) besteht aus vielen sehr he- terogenen berufsschulischen Bildungsgangen, „die zu keinem berufsqualifizie- renden Abschluss fuhren, sondern auf eine Chancenverbesserung der Teilneh- menden ausgerichtet sind. Sie sollen nach erfolgreicher Beendigung des Aus- bildungsganges bessere Chancen zur Aufnahme einer dualen oder schulischen Berufsausbildung haben.“ (Schultheis, Sell 2014). Der Begriff „Ubergangssys- tem“ wird vielfach kritisiert (s. 1.3) und wird daher in diesem Bericht als „Uber- gangssektor“ oder „Ubergangsbereich“ (vgl. auch ABB 2018) bezeichnet.
Die aktuelle Vorstellung von Bildung ist grundlegend von national gepragten, soziokulturellen Normen beeinflusst. Den Von Humboldt‘schen zweckfreien all- gemeinen Bildungsbegriff konnen die Schulerinnen und Schuler (SuS) in dieser, dem allgemeinbildenden Schulbesuch anschlieBenden, Phase nicht (mehr) er- warten. Vorgaben durch Bildungspolitik und Bildungsinstitutionen (s. 1.1) sowie eine Eindeutigkeit in der Ausrichtung der zu vermittelnden Lerninhalte auf die gesellschaftlich normierte und erwartete Erwerbsarbeit und auf das dualistische Berufsausbildungssystem (zur Kritik s. 1.3) lassen wenig Spielraum fur indivi- duelle Bildungs-Vorstellungen. In dieser Untersuchung wird der Bildungsbegriff nach der Sichtweise von Faulstich (2010, S.311f.) herangezogen: Bildung als Selbst-Positionierung in der Gesellschaft und die Fahigkeit, angemessene Ent- scheidungen treffen zu konnen und wirkmachtig zu handeln. Das „zentrale Bil- dungsproblem“ ist nach Faulstich die Personlichkeitsbildung, welche mit der Er- kenntnis der Gestaltungsmoglichkeit des eigenen Lebens sowie der damit ver- bundenen Lernchancen einhergeht.
Dem folgend, soll in diesem Forschungsprojekt der Begriff der BildungsChance aus Sicht der Jugendlichen erforscht werden, in Abgrenzung zu ihrer gesetzli- che verankerten und zu erfullenden BerufsschulPflicht. Gilt der Ubergangsbe- reich als „Chancenverbesserungssystem“ (Neises 2018)? Wie schon ReiBig (2012, S.18f) statiert, sind die Motive der Jugendlichen fur die Wahl von Uber- gangs-Bildungsangeboten und deren subjektive Bewertung dieser Angebote kaum erforscht. AuBerdem fordern Tillmann & ReiBig (2019) eine starkere Be- rucksichtigung der spezifischen Bedarfe der Jugendlichen, sodass die berufs- bildenden Akteure diesen bei der Ubergangsbewaltigung helfen konnten. Gille & Sardei-Biermann (2011, S.45f.) monieren, dass die bisherige Fokussierung der (Berufs-)Bildungspolitik auf die formellen Qualifizierungsprozesse zu kurz greife und regen an, Jugendlichen aktive Handlungswirksamkeit aufzuzeigen und sie bei der Durchsetzung ihrer Ziele zu unterstutzen. Die Fahigkeit, sich eine eigene Struktur als Orientierungsrahmen zu schaffen, sehen Rahn et al. (2015, S.64) als entscheidenden Faktor zur Ubergangsbewaltigung - die Plane von Jugendlichen (auch wenn sie undifferenziert seien) konnten diese Funktion ubernehmen. Queisser (2010, S.37) formuliert kritisch, dass ublicherweise die Situation der Bildungsinstitution untersucht wird, nicht die der betroffenen Jugendlichen und deren „Erfahrungen, Vorstellungen und Wunsche“. WeiB (2019) sieht die padagogische Aufgabe darin, zu „schauen, wonach die Jugendlichen im Ubergangsraum auf der Suche sind, wenn nicht nach Integration in Ausbil- dung und Beruf“. Lohr (2016, S.33f.) fordert, dass im Ubergangssektor die Jugendlichen unterstutzt werden, „Bildungsinhalte in echte Chancen umzuwan- deln “ (Hervorh. i. O.) und dass fur einen gelingenden Ubergangsprozess ein Umdenken von der Vermittlung von Menschen in Arbeit zu „Vermittlung zwi- schen Menschen und Arbeit“ erfolgen sollte.
Diese Forschungsdesiderata sowie die bisherigen personlichen Erfahrungen der Verfasserin fuhrten zu einem Erkenntnisinteresse, welches zu der Entwicklung dieser, dem vorliegenden Forschungsbericht zugrunde liegenden, Fragen fuhrte:
1) Welche Chancen versprechen sich Jugendliche mit Hauptschulab- schluss vom Besuch dieser Klasse des Ubergangsbereiches fur ihren weiteren (Aus-) Bildungsverlauf?
2) Wie mochten die Jugendlichen die von diesem verpflichtenden Berufs- schuljahr gebotenen Chancen wahrnehmen?
3) Welche Rolle kommt der Berufsschule bei dieser moglichen Transformation von Pflicht zu Chance zu?
Das erste Kapitel befasst sich mit der definierenden und formalen Einordnung des Ubergangssektors und weiterer verwendeten begrifflichen Bestimmungen, den der Untersuchung zugrundeliegenden Annahmen und Theorien sowie dem Stand der Forschung und den vielfaltigen kritischen Stellungnahmen zum Uber- gangsbereich. Das zweite Kapitel stellt die verwendeten Erhebungsmethoden dieses Forschungsprojektes vor, erlautert die Spezifika des Feldzugangs sowie des praktischen Erhebungsprozesses und begrundet die Auswertungsmetho- den. Im Kapitel drei werden die herausgearbeiteten Ergebnisse des For- schungsprozesses interpretiert und diskutiert. Im vierten Kapitel werden der vor- liegende Forschungsbericht und durchgefuhrte Forschungsprozess kritisch re- flektiert sowie ein Ausblick auf weitere Forschungsdesiderata und auf prakti- sche Verwertungszusammenhange der Forschungsergebnisse gegeben.
1 Begrifflichkeiten, Theorierahmen und Diskurse
1.1 Erlauterung der verwendeten Begriffe
Das so genannten „Ubergangssystem“ wurde im Nationalen Bildungsbericht 2006 erstmals als eines von drei Teilsystemen1 des Berufsbildungssystems be- zeichnet (KBB 2006, S.79). Ursprunglich hatte es den Zweck, „vermeintlich tem- porare Dysfunktionalitaten“ bei der Allokation von Schulabgangern in den Ar- beitsmarkt und „vermeintlich vorubergehende konjunkturelle Krisensymptome“ aufzufangen - und ist nun ein fester Bestandteil des Berufsbildungssystems (Munk 2010, S.32). Im Berufsbildungsbericht 2019 (BMBF 2019, S.12) ist der Ubergangsbereich integration in Ausbildung‘) als einer von vier Sektoren, die an die Sekundarstufe I anschlieBen, genannt.
In diesen Ubergangssektor munden minderjahrige Jugendliche ein, die unter die Berufsschulpflicht (z.B. Landesregierung S-H 2014, SchulG §23) fallen, weil sie nach der Erfullung ihrer allgemeinbildenden Schulzeit keinen Ubergang in Ausbildung (schulisch oder betrieblich) erreicht haben - dabei konnen durchaus schon hohere Bildungsabschlusse erlangt worden sein (ABB 2018, S.140).
Im Ubergangsbereich mit seinen nur teilqualifizierenden MaBnahmen sind (nach einer Reduzierung der Neuzugange in den Jahren 2007-2014) in den letzten drei Jahren steigende Eingangszahlen zu verzeichnen - 2017 waren es knapp 292.00 Neuzugange2, was 30% der Eintritte in den berufsschulischen Sektor ausmacht (ABB 2018, S.8). Damit steigt die quantitative Bedeutung des Ubergangssektors. Der schulisch berufsvorbereitende Bildungsbereich liegt (gegensatzlich zum Ubergangs-Angebot der BA (Bundesagentur fur Arbeit): BVB) mittlerweile uberwiegend in der Landerverantwortung (KBB 2018, S.137). Formal ist der Ubergangsbereich im Sekundarbereich II zu verorten und ist in BBiG §1(2) sowie §§68-70 (BMJV 2005) geregelt
Die Berufsausbildungsvorbereitung dient dem Ziel, durch die Vermittlung von Grundlagen fur den Erwerb beruflicher Handlungsfahigkeit an eine Be- rufsausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf heranzufuhren.“ sowie in der Veroffentlichung „Reform der beruflichen Bildung“ zusammenge- fasst (BMBF 2005, S.6; 31ff.).
Die zu vermittelnden Inhalte der Berufsausbildungsvorbereitung werden in Lehrplanen und Handreichungen der zustandigen Lander-Ministerien geregelt (z.B. Ministerium fur Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig- Holstein 2011, 2017) und sind abzugrenzen von der „Berufsorientierung“, wel- che mit dem Ziel „Personlichkeitsentwicklung und Starkung der Selbstkompe- tenz und [...] Berufswahlfahigkeit“ im allgemein bildenden Schulsystem stattfin- det (Landesportal Schleswig-Holstein 2019).
Die zentralen Funktionen dieses Sektors mit seinen sehr heterogenen Bildungs- angeboten3 sehen Euler & Nickolaus (2018, S.531) in der weiteren Entwicklung fachlicher, personlicher und sozialer Fahigkeiten sowie in der beruflichen Ori- entierung, in der Ermoglichung eines hoheren Schulabschlusses und in der uber Schule vermittelten beruflichen und gesellschaftlichen Integration der Jugendlichen. Siemon (2010, S.220) sieht diesen Berufsschulbereich als denjeni- gen mit der starksten Ausdifferenzierung; damit werde auf die „individuell sehr unterschiedlichen Ausgangs- und Bedarfslagen“ der SuS eingegangen.
Der Ubergang von Schule zu Beruf wird in den Bildungssystemen moderner Gesellschaften als weichenstellend fur den erfolgreichen Ubertritt in die Er- werbsarbeit und auch in den Erwachsenenstatus angesehen (Walther 2014b, S.78f.). Die (Berufs-) Schule als institutionelle Sozialisationsinstanz ist unum- stritten (Tillmann 2006, S.112) und orientiert sich an der Arbeitsmarktintegration sowie an der Illusion der Normalbiographie (Gusinde, Hildebrandt 2014, S.568; Hagedorn 2014, S.23). Diese „Nahtstelle“ im Ubergang vom Jugend- in das Er- wachsenenalter gilt als „Achillesferse“ fur bildungsschwache Jugendliche. (Gusinde, Hildebrandt 2014, S. 571). Diese Problematik ist der Bildungspolitik und den Arbeitgebern bewusst und u.a. im 15. Kinder- und Jugendbericht (BMSFSJ 2017; S. 431 f.) wie folgt beschrieben
„ Heute ist das Ubergangssystem weitgehend in die Struktur beruflicher Bildung integriert, ohne dass aber systematisch erkennbar wird, wie es auf die Kernherausforderungen des Jugendalters reagiert und insbeson- dere Qualifizierungs-, Verselbstandigungs- und Selbstpositionierungs- prozesse fur Jugendliche ermoglicht, die bestimmte Jugendliche und junge Erwachsene aufgrund sozialer Benachteiligungen nur in sozial be- grenzten Handlungsspielraumen gestalten konnen.“
Die beigemessene bildungspolitische Wichtigkeit des Ubergangs von Schule- Beruf wird durch eine landerubergreifende4 Abstimmung zur Zusammenarbeit deutlich (KMK, BA 2017). Auch die Wichtigkeit der sozialen Funktion des Ubergangs inkl. einer erfolgreichen Berufsausbildungsvorbereitung wurde u.a. durch die Grundung der Evaluationsinitiative „Bildungsketten“ als landerubergreifende Kooperation von Bundes- und Landerministerien und der BA (BMBF 2018, S.91) hervorgehoben, welche stetig erweitert wird5. Der Bildungsbericht 2018 bezeichnet diese Phase eine „wachsende padagogisch-professionell gestaltete Ubergangsphase“ (ABB 2018, S.137). Weiterhin gibt es viele (Bundes-)Initiati- ven zur Optimierung des Ubergangsmanagements (BMBF 2018, S.92f.). ReiBig (2019) fordert sogar ein „regionales Ubergangsmanagement“ zur kommunalen Koordination der extrem heterogenen MaBnahmen dieses Bereichs.
1.2 Zugrundeliegende Theorien und Annahmen
Jugendliche mit Hauptschulabschluss, die im Ubergangsbereich eingeschult werden, haben, entgegen der offentlichen Wahrnehmung, ein sehr ahnliches, teils auch ein hoheres Kompetenzniveau als Berufsausbildungsstarter (ABB 2018, S. 141; Euler 2019, 1. Frage; Solga 2017, S.459). Trotzdem wird die an- gebliche „mangelnde Ausbildungsreife“6 den Jugendlichen individuell zuge- schrieben und soll dann kompensatorisch padagogisch in den MaBnahmen des Ubergangssektors bearbeitet werden (Walther, 2014b, S.83). Dabei wird sepa- riert (kritisch dazu: Euler 2009, S.1,4 und 2019, 4. Frage) zwischen Ausbildung und Ubergangsbereich (Bertelsmann Stiftung 2009, S. 123) - die Frage, ob da- mit der Ubergangsbereich als „Warteschleife“ oder als Chancenverbesserung (Neises 2018) gilt, wird u.a. an dem Erfolg gemessen, den die Jugendlichen im Anschluss bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle haben (Geier, Braun 2014, S.176f.). Der Kritik von Munk (2010, S.44f.) folgend, wird hier der „Tun- nelblick“ auf die Integrierbarkeit ins Duale System und ggf. noch in schulische Ausbildungsberufe als auf das BBiG ausgerichtete Ausbildungen hinterfragt mMit Hinblick auf umherirrende Jugendliche, die „offenkundig nicht in dieses Duale System integrierbar“ sind und deren Perspektive in den Fokus gehort. Die Grunde fur den Besuch einer Ubergangs-BildungsmaBnahme konnen be- wusster Verzicht auf eine Ausbildungsmoglichkeit (durch bisher erfahrene Marktbenachteiligung oder Bedarf weiterer Berufsvorbereitungsunterstutzung) oder der angestrebte Erwerb eines hoheren Bildungsabschlusses sein. Beicht (2009, S.14) halt dabei die MaBnahmen des Ubergangsbereiches unverzichtbar fur diejenigen Jugendlichen, die in der allgemeinbildenden Schule die Ausbil- dungsreife nicht erlangt haben.
Die „Verdichtungs- und Verzogerungsprozesse des Jugendalters“ als Ungleich- zeitigkeiten zeigen sich auch in den Ubergangen von Schule zu Beruf und tra- gen zur Individualisierung und ggf. Entgrenzung bei (ReiBig 2016, S.23). Damit pragt diese zentrale Phase gravierend das Denken und Handeln der jungen Menschen, da das (verfehlte) Idealbild der geradlinigen Bildungsbiographie ge- sellschaftlich oft als Umweg oder Lucke benannt (ebd., S.24) oder als stigmati- sierendes Defizit wahrgenommen und sogar als demotivierende „self-fulfilling prophecy“7 angenommen wird (Euler 2019, 4. Frage, ab 2:15). Geier & Braun (2014, S.176f.) kamen in ihrer Untersuchung einer Langsschnittstudie8 auch zu dem Ergebnis, dass diejenigen Jugendlichen, welche sich nicht in einer Ausbil- dung platzieren konnten, durchgangig eine negative Zukunftsvorstellung haben. Auch Lex & Geier (2010, S. 170) fragen, ob der Fokus auf das (Aus-) Bildungs- system an den ersten Schwellenubergange nicht der abweichenden Verhal- tenslogik der Jugendlichen beim Ubergangsverhalten gegenuberstunde. Tillmann & ReiBig (2019) folgend, welche die Unterstellung von Motivation, Selbst- organisation und Selbstwertgefuhl seitens des institutionellen Unterstutzungs- systems an die zu fordernden Jugendlichen kritisieren, geht die Autorin auch hier von einer Skepsis der Jugendlichen gegenuber dem Schulsystem aus.
1.3 Forschungsstand und Diskurse
Nach der 17. Shell Jugendstudie (2015, S.15, 108) erkennen die Jugendlichen die “Schlusselrolle der Bildung” fur die Gestaltung ihrer individuellen Biographie und blicken zu 61% optimistisch in die Zukunft (ebd. S.14). Jugendliche aus den „unteren” Schichten sind sich aber ihrer mangelnden Chancen, ihren Wunsch- beruf zu erlernen, bewusst und blicken eher pessimistisch in die Zukunft, sehen sich ggf. in der bedrohlichen Situation der Bildungsverlierer (ebd., S.109). Trotz der positiven wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre haben viele Jugend- liche immer noch Angste, keinen Ausbildungsplatz zu bekommen und damit die in der Jugendphase u.a. zu erfullende Entwicklungsaufgabe der Bildung und Qualifikation nicht zu bewaltigen. Dies sei den gestiegenen Anforderungen auf- grund „der offenen und unstrukturierten Lebenslaufe in modernen Gesellschaf- ten“ geschuldet (Shell Jugendstudie 2015, S.40f.). Hier wird von der Verfasserin kritisiert, dass in der Stichprobe der Shell Jugendstudie von 2015 keine Teil- nehmer aus dem Ubergangsbereich interviewt wurden (ebd., s. Tabelle S. 396). Im Bereich „Berufsorientierung“ im allgemeinbildenden Schulysystem gibt es viele Untersuchungen zu den Erwartungen der SuS an dieses berufliche Ent- scheidungsfeld, z.B. die SINUS Studie 2018 (Schleer 2018), Schaupp (2014), Bruggemann (2013), Bohnsack (2013) und Thurnherr et al. (2013).
In den letzten Jahren ruckte der Fachkraftemangel und damit auch die Jugendlichen, welche nicht reibungslos den Ubergang in eine Ausbildung bewaltigen, in den Fokus der Forschung - besonders Rahn et al. (2015) untersuchten in ihrer Veroffentlichung „Geplantes Verhalten im Ubergangsprozess“ u.a. die Ubergangsplane und die Bedeutung der Ubergangsabsichten von Jugendlichen im Ubergangsbereich. Auch das Deutsche Jugendinstitut (DJI) hat nach einem ersten Ubergangspanel 2004-2010 (bundesweite Studie zum Ubergangsverhal- ten der Hauptschulabsolvent*innen) 2017 ein Ubergangspanel II („Was kommt nach der Schule?“) mit Blick auf die „bildungsbenachteiligten Jugendlichen“ mit Hauptschulabschluss begonnen, mit einem Schwerpunkt auf der Rolle des Ubergangssystems (ReiBig et al. 2018, S.6f.). Braun & Geier (2013) forschten zu der Frage, ob der Ubergangsbereich der Wartesaal des Berufsbildungssys- tems oder ein Ort der Chancenverbesserung sei. Schropp (2018) setzt ihren Untersuchungsschwerpunkt auf „Ressourcenorientierte Forderung von jungen Menschen im Ubergangsbereich“ und das „Zurcher Ressourcen Modell“ (Storch, Riedener 2009) entwickelte mit Fokus auf benachteiligte junge Men- schen ein Training zur selbstbestimmten, selbstorganisierten Handlungsfahig- keit fur Jugendliche.
Kritik am Begriff des Ubergangs“systems“ erfolgt von vielen Seiten, z.B. von ReiBig (2019), welche den Begriff „MaBnahmendschungel“ verwendet und von Beicht & Dionisius (2015, S.1). Munk (2010, S.33) bezeichnet diesen Bereich ob seiner Angebots-Unubersichtlichkeit als „Labyrinth“ und Queisser (2010, S.27) benennt den Ubergangsbereich als „Parallelsystem“, als „Instanzen“, wo- hin diejenigen vermittelt werden, die erfolglos sind bei dem reibungslosen Ubergang in eine Berufsausbildung. Von „Black Box Ubergangssystem“ sprechen Bojanowski & Eckert (2012). Euler & Nickolaus (2018, S.527f.) verwenden den negativ konnotierten Begriff „stabiles, dysfunktionales Dauerprovisorium“ und Lorenzen et al. fuhrten 2013 den Begriff „Ubergangsraum“ ein: die Statuspas- sagen seien zu undefiniert. Euler (2009, S.4) spricht von einem „bunten Durch- einander von Angeboten“ im Gegensatz zum durchorganisierten Dualen Be- rufsausbildungssystem. Der Ubergangssektor habe einen „doppelten Struktur- fehler“ so Lohmann 2011 (S.24): er beruhe auf negativer Vorauswahl und ver- mittle keine „anerkannten Abschlusse und Berechtigungen“.
Eberhard & Ulrich (2011, S.97) nennen es einen „Mythos“, dass jeder ausbil- dungsfahige und -willige Jugendliche einen Ausbildungsplatz erhalte- nicht er- folgreiche Bewerber gelten mit „einer ersatzweisen Einmundung“ in den Uber- gangsbereich als „versorgt“9. Krafeld (2000, S.9 f.) halt es fur eine Illusion des Erziehungs- und Bildungssystems, dass die „Integration in die Arbeitsgesell- schaft prinzipiell fur alle erreichbar sei“ und kritisiert auch die Gleichung „keine Arbeit = keine Lebensorientierungen!“. Wiezorek (2007, S.101) untersuchte SuS mit Hauptschulabschluss und deren Bildungsentscheidungen und kritisiert ahnlich die Unterstellung einer „naturgegebenen“ Bildungsaspiration der Jugendlichen, welche dann durch die gesellschaftlichen und bildungsinstitutionel- len Selektionsmechanismen unterdruckt wurden. Wiezorek (ebd., S.238f.) weist auf die im Ubergang fur Bildungsprozesse essentiellen Punkte Motivation, An- erkennung und Koharenz hin. Munk (2010, S.46) sieht sogar das gesamte Be- rufsbildungs-System als ein auf Vergesellschaftung ausgerichtetes System, welches soziale Chancen zuteilt oder ausschlieBt. Zu wenig werde berucksich- tigt, dass nicht intendierte institutionelle AusschlieBungen das Gegenteil der je- weiligen BildungsmaBnahme hervorrufen konne. Die „Zweischneidigkeit“ des Ubergangsbereichs sieht (ReiBig 2016, S.26) darin, dass einerseits Jugendli- che uber diese „Zwischenschritte“ erfolgreich eine Berufsausbildung antreten konnten, andererseits konne der Ubergangssektor aber auch dazu beitragen, Jugendliche vom Ausbildungsmarkt fernzuhalten.
Die Folgen der Bildungsexpansion fur diesen Bereich seien negativ: die „Ver- lierer der Bildungsexpansion“ seien diejenigen gering Qualifizierten, welche an „der Schwelle des Ausbildungszugangs scheitern“, traditionelle Ubergangsmus- ter in beruflichen Ausbildungsverlaufen seien verandert (Konietzka, Hensel 2017, S. 303) und Solga (2005, S.177ff.; 2016, S.443) beschreibt, dass Jugend- liche mit Hauptschulabschluss als „unterhalb der Bildungsnorm“ gelten, die in ihrem „Stockwerk geblieben“ sind.
Walther (2014a, S.26) definiert „Ubergang“ als individuell zu bewaltigende Phase des „Ubergehens“, welche nicht mehr standardisiert nach institutionell geregelter Normalbiographie Richtung Erwerbsleben erfolge, sondern auch Un- sicherheit, Offenheit sowie eine Dynamik beinhalte, welche nicht in einem Dua- lismus von „Erfolg und Scheitern“ (2014b, S.84) dargestellt werden konnten. Er bezeichnet das „Ubergangssystem“ als „Gate-Keeper im Ubergang von der Schule in die Arbeit“ (ebd., S.83) mit dem Ziel, die Berufsaspirationen der SuS an die vom Arbeitsmarkt angebotenen Ausbildungsplatze anzupassen (vgl. zur Kritik der „Passungslogik“ der Berufsberatung auch Tillmann, ReiBig 2019). Nach Geier & Braun (2014, S.184) seien bildungspolitisch „gezielte Interventio- nen“ in den Bildungsgangen des Ubergangs notwendig, welche nicht einen Aus- bildungsabschluss anbieten.
Euler (2019, 2. Frage) auBert in einem Video-Interview Kritik an den landerspe- zifischen und damit uberaus heterogenen strukturellen Ausgestaltungen des Ubergangssektors. Er fordert einen bildungspolitisch organisierten inklusiven statt eines separierenden Ubergangsbereiches (2019, 4 Frage, ab 2:38), mit dem Ziel eines Abbaus des Ubergangssektors durch Ermoglichung vollqualifi- zierender, ggf. offentlich geforderter Ausbildungen fur ausbildungsreife Jugend- liche (Euler, 5. Frage ab 0:14; Solga 2005, S.313; Beicht 2009, S.15; Euler 2009, S.3; Bertelsmann Stiftung 2009, S.124).
2 Methoden der Erhebung und Auswertung
2.1 Vorstellung und Begrundung der Erhebungsmetho- den Gruppeninterview und Kurzfragebogen
Die Methoden der qualitativen Forschung sind sehr heterogen - haben aber als Gemeinsamkeit die Sicht auf den Menschen als erkennendes Individuum, die impliziten Erwartungen und Wissensstande der Forschungsperson, welche die Interpretation der Ergebnisse und der Forschungssituation beeinflussen und als Forschungsziel ein Verstandnis der Konstruktion der sozialen Realitat haben (Lamnek 2010, S. 30). Die theoretisch zugrunde liegenden Annahmen der ver- schiedenen Forschungsansatze unterscheiden sich bzgl. ihres Gegenstands- verstandnisses und ihres methodischen Fokus‘. (Flick 2017, S. 81f.) In diesem Forschungsprojekt wird der Symbolische Interaktionismus (SI) nach Blumer (1938), welcher sich nach der Chicagoer Schule richtet, zum empirischen An- satzpunkt. Der SI fokussiert die subjektive Sinngebung, Sichtweise und Interak- tionen von Individuen als zu analysierende Elemente (ebd., S. 82f.; Patton 2002, S.76f.). Die Erhebungsform Interview kann sehr heterogene Auspragun- gen haben: uber unstrukturierte bis standardisierte Formen, telefonische Interviews, Internet-Umfragen etc.10, auch konnen sie mit einzelne Personen oder Gruppen durchgefuhrt werden - das strukturierte und das unstrukturierte Interview sowie das Gruppeninterview seien die hauptsachlich verwendeten Inter- viewformen (Fontana, Frey 1994, S.361). Mit diesen theoretischen Vorannah- men und folgenden Definitionen und Erlauterungen lasst sich fur das For- schungsprojekt die Erhebungsmethode des Gruppeninterviews11 begrunden:
[...]
1 neben dem Dualen Berufsausbildungssystem und dem Schulberufssystem
2 im Vergleich: es gab 2017 ca. 490.00 Neuzugange im dualen System und ca. 214.000 im Schulberufssys- tem. Bei Eintritt in den Ubergangssektor hatten ca. 64.000 (22%) der Jugendlichen einen mittleren Schulab- schluss/Realschulabschluss (ABB 2018, S.8)
3 Eine Darstellung aller dem Ubergangsbereich zuzuordnenden Bildungsgange wurde hier den Rahmen sprengen. Bei weiterfuhrendem Interesse wird der Berufsbildungsbericht 2019 (S.34) empfohlen, abzurufen unter https://www.bmbf.de/de/berufsbildungsbericht-2740.html (BMBF 2019)
4 Bisher sind die Ubergangsangebote nicht standardisiert, sondern landerspezifisch verwaltet, strukturiert und organisiert (Neises 2018; uberaus 2019). Euler (2019, 2. Frage) nennt z.B. Hamburg als positives Bei- spiel eines umgesetzten Strukturierungskonzeptes (Ziel „Ubergange mit System“) dieses Bereiches, be- mangelt aber Intransparenz und fehlende Konzepte in vielen anderen Regionen.
5 aktueller Stand abzurufen unter: https://www.bildungsketten.de/strukturen-schaffen
6 Der Begriff „Ausbildungsreife“ ist komplex und nicht unumstritten. Dies ist der Verfasserin bewusst, aber da in dieser Arbeit der Fokus auf der Perspektive der Jugendliche liegt, wird hier auf diese bildungsinstitutio- nelle und arbeitsmarktgepragte Sichtweise auf Jugendliche nicht weiter eingegangen.
7 Siehe auch „ Stereotype Threat “ (Inzlicht, Schmader 2012) als sozialpsychologisches Konzept, welches hier nicht naher erlautert wird, aber als Vorwissen der Autorin zu berucksichtigen ist
8 Erfolgskriterium war die direkte Anschlussplatzierung in einer Ausbildung nach dem Hauptschulabschluss. Ergebnis waren mehrere den Erfolg beeinflussende Faktoren, u.a. regionale, familiale, schulische und be- rufsbezogene, welche hier nicht weiter besprochen werden.
9 Eberhard & Ulrich (2011) untersuchten auch die regionalen Unterschiede (Ost <-> West) bzgl. der Ein- mundungen in den Ubergangssektor - diesbzgl. Ergebnisse werden hier nicht berucksichtigt.
10 Auch inhaltlich und zeitlich sind Interviews multioptional anwendbar. Diese Aspekte werden hier nicht erwahnt.
11 Es wurde den Rahmen sprengen, hier noch ausfuhrlich auf die Entwicklungen der „focus groups“ und „group discussions“ aus dem angelsachsischen Raum einzugehen - vor allem in Hinblick auf das