Es ist nicht abzustreiten, dass das Kudrunepos sich in vielerlei Hinsicht am Nibelungenlied orientiert, doch differenziert es sich in einigen entscheidenden Hinsichten gänzlich – der Heiratspolitik und somit dem Ende der Dichtung.
Doch wie genau wird der Weg bis hin zu diesem Ende bestritten und gerechtfertigt? Bei der Beantwortung dieser Frage gerät immer wieder ein Begriff ins Zentrum – die Sichtbarkeit. Die Ausdrucksmöglichkeiten und besonders die Funktionen der Sichtbarkeit sollen in dieser Hausarbeit eingehend untersucht werden, um diese letztlich auf die Bedeutung für die höfische Gesellschaft und die Legitimation von Kudruns Politik hin analysieren zu können. Durch meine Bearbeitung möchte ich systematisch erörtern, inwiefern die öffentliche Meinung vom Sehen-und-Gesehen-Werden abhängig ist und darauf aufbauend den Einfluss dieser Meinung auf das Sagengedächtnis darlegen.
Zu Beginn sollen dazu als theoretische Grundlage die Visualisierungsstrategie der Teichoskopie und der Manipulation von Erzähllogika anhand der Forschungsliteratur von Heike Sahm und Tobias Bulang erläutert werden. Im Anschluss daran wird der Zusammenhang von Sichtbarkeit, einerseits zur höfischen Repräsentation, andererseits zum Sagengedächtnis unter besonderer Beachtung von Horst Wenzels Literatur analysiert. Abschließend wird der Antagonist Hartmut eingehend analysiert und versucht an seinem Beispiel die Frage zu beantworten, ob die Rehabilitation einer Figur von einer „gîsel“ zurück zum „helden“ durch Sichtbarkeit möglich ist.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Visualisierungsstrategien in der Kudrun
2.1 Teichoskopien
2.2 Manipulation von Erzähllogika
3 Sehen und Sichtbarkeit in der Kudrun
3.1 Kopplung von Sichtbarkeit und höfischer Repräsentation
3.2 KopplungvonSichtbarkeitundSagengedächtnis
4 Rehabilitation Hartmuts
4.1 PositiveSympathiesteuerungbeiHartmut
4.2 NegativeSympathiesteuerungbeiHartmut
5 Fazit
6 Literaturverzeichnis
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur
1 Einleitung
„Visualisierung [ist] Indiz für eine Welt der Sichtbarkeit und Politik der Blicke“,1 erklärt Tobias Bulang und beschreibt damit eines der Leitmotive der Kudrun2, einem der enigmatischsten Werke seiner unbekannten Entstehungszeit. Selbst nach zwei Jahrhunderten der Forschung ist es nicht gelungen, dessen Entstehungszeit klar festzulegen. Die einzige Abschrift des vermutlich im dreizehnten Jahrhundert verfassten Epos befindet sich im Ambraser Heldenbuch und wurde um 1504 von Kaiser Maximilian I. in Auftrag gegeben. Die Kudrun befindet sich dort hinter ihrem großen Vorreiter, dem Nibelungenlied, mit welchem sie bis heute im steten Vergleich steht. Es ist nicht abzustreiten, dass das Kudrunepos sich in vielerlei Hinsicht am Nibelungenlied orientiert, doch differenziert es sich in einigen entscheidenden Hinsichten gänzlich - der Heiratspolitik und somit dem Ende der Dichtung.
Doch wie genau wird der Weg bis hin zu diesem Ende bestritten und gerechtfertigt? Bei der Beantwortung dieser Frage gerät immer wieder ein Begriff ins Zentrum - die Sichtbarkeit. Die Ausdrucksmöglichkeiten und besonders die Funktionen der Sichtbarkeit sollen in dieser Hausarbeit eingehend untersucht werden, um diese letztlich auf die Bedeutung für die höfische Gesellschaft und die Legitimation von Kudruns Politik hin analysieren zu können. Durch meine Bearbeitung möchte ich systematisch erörtern, inwiefern die öffentliche Meinung vom Sehen-und-Gesehen-Werden abhängig ist und darauf aufbauend den Einfluss dieser Meinung auf das Sagengedächtnis darlegen. Zu Beginn sollen dazu als theoretische Grundlage die Visualisierungsstrategie der Teichoskopie und der Manipulation von Erzähllogika anhand der Forschungsliteratur von Heike Sahm und Tobias Bulang erläutert werden. Im Anschluss daran wird der Zusammenhang von Sichtbarkeit, einerseits zur höfischen Repräsentation, andererseits zum Sagengedächtnis unter besonderer Beachtung von Horst Wenzels Literatur analysiert. Abschließend wird der Antagonist Hartmut eingehend analysiert und versucht, an seinem Beispiel die Frage zu beantworten, ob die Rehabilitation einer Figur von einer „gisel“ (KU, S. 536, Str. 1600) zurück zum „helden“ (KU., S. 538, Str. 1608, 1) durch Sichtbarkeit möglich ist.
2 Visualisierungsstrategien in der Kudrun
2.1 Teichoskopien
Aus Sicht der Gegenwart [ist man] auch immer wieder überrascht über den reichen Wortschatz des Sehens und Schauens, der zugleich als Indikator für Visualisierungsstrategien der volkssprachlichen Dichtung einzuschätzen ist.3
An diesem von Horst Wenzel beschriebenen, ergiebigen Wortschatz bediente sich auch der Verfasser des Kudrunepos und visualisiert die höfische Kultur auf verschiedene Art und Weise. Zum einen bemühte er sich, Handlungen der Figuren durch visuelle Effekte und Beschreibungen zu legitimieren, und die Visualisierungsstrategien so zur Lösung von literarischen Problemen zu verwenden. Zum anderen fördern sie durch dramaturgische Mittel wie die Teichoskopie eine literarische Welt der Sichtbarkeit. Auf diese Visualisierungsstrategie der Teichoskopie soll nun näher eingegangen werden.4
Die Teichoskopie, auch Mauerschau genannt, ist ein Mittel , welches ursprünglich aus der Dramaturgie kommt. Szenen, die auf der Bühne schwer zu veranschaulichen sind, wie zum Beispiel Schlachtszenen, können verwirklicht werden, indem von einem erhöhten Standpunkt eine beobachtende Figur die Geschehnisse schildert, die sich parallel abspielen. Kennzeichnend für dieses Mittel ist die meist monologische Form, die durch Fragen oder Zwischenrufe unterbrochen werden kann. Teichoskopien können jedoch nicht nur auf der Bühne selbst, sondern auch in literarischen Texten Anwendung finden. Charakteristisch ist auch hier meist der Monolog oder Dialog. Dienen sollen sie im Text grundsätzlich einer erhöhten Affekt-Intensität, aber vorrangig der Visualisierung niedergeschriebener optischer Eindrücke für den Rezipienten.
Als Beispielszenen werden im Folgenden die 27. und 28. Aventiure eingehender betrachtet. Zahlreiche weitere Details bezüglich des Sehens-und-Gesehen-Werdens in diesen Abschnitten werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch betrachtet, während in diesem Kapitel der Fokus allein auf den Teichoskopien liegt.
Die Szene spielt sich im Land von Hartmut von Ormanie ab, welcher Kudrun dreizehn Jahre zuvor entführte und sie nach Ormanie verschleppte. Bereits am Ende der 26. Aventiure wird das große Heer der Hegelinger durch eine junge Magd Kudruns beschrieben, die dieses aus einem Fenster heraus sieht. Sie sah „vz7 der liehten schilde [und] von gew&fen luhte al daz gevilde“ (KU, S. 454 V. 1356, 3f), woraufhin sie Kudrun weckt, welche sich ein eigenes Bild der Kämpfer macht. Sie sieht nun vorher, dass an dem heutigen Tag viele Männer ihr Leben lassen werden (Vgl. KU, S. 454, Str. 1359, 4). Dem Rezipienten wird durch das, was die beiden Frauen sehen, ein Bild davon vor Augen geführt, mit welcher Streitkraft Herwig und Hildes Armee vor Hartmuts Burg gezogen sind. Diese Streitkraft wird daraufhin auch von den Wächtern Ludwigs und Hartmuts bemerkt, was wiederum Gerlint hört. Ludwig wird nun von Gerlint geweckt, dieser will die Gefahr zuerst nicht wahrhaben und äußert die Möglichkeit, wenn nicht sogar die Hoffnung, äußert, dass es sich lediglich um Seefahrer handle. Nun wird auch Hartmut hinzugezogen und es kommt zu einer sehr bedeutenden Szene, der Aufzählung derFürstenzeichen durch Hartmut (Vgl. KU, S. 456, Str. 1364, 3f),5 welche mit dem Erzählverfahren der Teichoskopie visualisiert wird.
Als Erstes erblickt er Wate und seine Kämpfer auf dem Schlachtfeld, sowie Siegfried, den König aus Morland, und sein 20.000 Mann starkes Heer. Die nächsten Zeichen erkennt er als jene von Horant, Fruote und Morung, welche das Schlachtfeld ebenfalls mit einer Vielzahl an Kämpfern füllen. Auch Ortwin sowie das Gefolge von Hilde sieht er aus dem Fenster heraus. Abschließend kann er außerdem die Zeichen Herwigs und Irolts ausmachen. Hartmut beendet die Mauerschau, indem er die Seinen zum Kampf befiehlt und die Schlacht beginnt (Vgl. KU, S. 459f, Str. 1367ff).
Sowohl Kudrun, als auch Gerlint und Ortrun verfolgen die Kämpfe von den hohen Zinnen aus. Im Verlauf der Szene kommt es immer wieder zu einem Wechsel der Beschreibung dessen, was auf dem Schlachtfeld bei Herwig und Hartmut und in der Burg bei Kudrun geschieht. Es werden außerdem erneut die Positionen aller Kämpfer genannt, doch lässt sich diese wiederholte Lagebeschreibung nicht als definitionsgetreue Teichoskopie charakterisieren, da die monologische Form fehlt und es sich eher um eine Beschreibung des Erzählers handelt.6
Nachdem Herwig im Verlauf der Schlacht Ludwig erschlägt, kehren Hartmut und seine Ritter zurück in Richtung der Burg. Vor den verschlossenen Burgtoren stehend kommt es zu Harmuts zweiter Rundumschau und er beschreibt abermals das, was er sieht. Erneut erblickt er Wate am ersten Burgtor und weitere Feinde vor den drei anderen. So kämpft vor dem zweiten Tor Siegfried, vor dem dritten Ortwin und vor dem vierten Herwig. Erneut endet Hartmuts Umschau mit einem Appell an die eigenen Männer, tapfer zu kämpfen, bevor er sich in den Kampf gegen Wate stürzt (Vgl. KU, S. 488, Str. 1457-1465).
Einerseits wird die Szene durch die Beschreibung dessen, was Hartmut sieht, für den Rezipienten geordnet um verhindern, dass dieser den Überblick verliert. Es wird so erneut ins Gedächtnis gerufen, wer sich an welcher Position auf dem Schlachtfeld befindet. Andererseits soll dem Leser durch die Umschau ein weiteres Mal die Größe des Heeres vor Augen geführt werden. Dennoch muss natürlich die Frage beantwortet werden, inwiefern der Unterschied relevant ist, ob etwas aus Sicht der Figuren oder des Erzählers geschildert wird. Bei der Beantwortung dieser Frage orientiere ich mich an der Analyse Heike Sahms. Demnach gestattet die Visualisierungsstrategie hier dem Erzähler, sich weitgehend aus der Handlung herauszuhalten. Die Figuren übernehmen die Rolle des Erzählers und erst der „rasche Wechsel zwischen den Perspektiven von Freund und Feind, von Burg und Schlacht“7 erzeugt die große Spannung in der Szene.8
Das Ziel dieses Erzählverfahrens beziehungsweise dieser Visualisierungsstrategie ist eine direkte, unmittelbare Beschreibung der Szene. Ohne große erzählerische Umschweife wird über das Geschehen berichtet und es wird Spannung erzeugt, sodass der Rezipient das Gefühl vermittelt bekommt, das zu sehen, was die Figur sieht. Der Leser kann somit in die Handlung eintauchen und sie besser miterleben, wenn Hartmut die Dinge aus seiner eigenen Perspektive schildert, als wenn er diese durch die Augen des Erzählers erfährt.9 Zusammenfassend wird die Visualisierungsstrategie der Teichoskopie in der hier gezeigten Textpassage also verwendet, um die Unmittelbarkeit der Szene für den Rezipienten zu gewährleisten, um die Affekt-Intensität zu steigern und um Spannung zu erzeugen.
2.2 Manipulation von Erzähllogika
Doch nutzte der Verfasser auch weitere Visualisierungsstrategien, von denen nun der Versuch der visuellen Manipulation von Figuren und Rezipienten gegen die Erzähllogika zur Legitimation von Handlungen behandelt werden soll. Die 15. Aventiure erzählt von Kudruns Entführung durch Hartmut und seine Gefolgsleute. Aufgrund der Ablehnung seines Heiratsantrages entführt er sie, um seine Schmach zu rächen und hält sie vierzehn Jahre in Gefangenschaft.
[...]
1 Tobias Bulang: Visualisierung als Strategie literarischer Problembehandlung. Beobachtungen zu Nibelungenlied’, ,Kudrun’ und ,Prosa-Lancelot’. In: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Texten und Bildern, hrsg. von Horst Wenzel und Stephan Jaeger, Berlin 2006, S. 212.
2 Im Folgenden beziehen sich Versangaben und zitierte mhd. Textstellen - sofern nicht anderweitig angegeben - auf folgende Ausgabe: Kudrun. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hrsg., übers, und kommentiertvonUta Störmer-Caysa Stuttgart 2010. Das Epos wird im Folgenden zitiert unter Verwendung der Sigle ,KU‘ und Seiten-/Versangabe.
3 Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild: Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, S. 52.
4 Vgl. Tobias Bulang: Visualisierung als Strategie literarischer Problembehandlung. Beobachtungen zu ,Nibelungenlied’, ,Kudrun’ und ,Prosa-Lancelot’. In: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Texten und Bildern, hrsg. von Horst Wenzel und Stephan Jaeger, Berlin 2006, S. 212.
5 Vgl. Heike Sahm: Wer sieht wen? Zum Erzählverfahren in der ,Kudrun’. In: Texte zum Sprechen bringen: Philologie und Interpretation; Festschrift für Paul Sapler, hrsg. von Christiane Ackermann und Ulrich Barton, Tübingen2009, S. 135.
6 Vgl. Ebd., S. 135-136.
7 Ebd., S. 137.
8 Vgl. Ebd.
9 Vgl. Ebd.