Die Annahme, dass den uns heute noch bekannten Weltgerichtsspielen1 eine gemeinsame Vorlage zugrunde liegt, wird in der neueren wie älteren Forschung nicht bestritten. Erscheint sie doch, bei Vergleich der überlieferten Spiele, als evident. Nichtsdestotrotz hat sich das Forschungsinteresse deutlich verschoben: vom Ideal einer klassischen Einheitsästhetik der Lachmann-Germanistik, welche die Besonderheiten der einzelnen Handschriften ausgemerzt sehen wollte und eine ins mittelhochdeutsche ‚übertragene’ Urfassung rekonstruierte2, hin zu einem ausgeprägten, gleichsam ‚archäologischen’ Interesse gerade für diese Besonderheiten; die Frage nach dem Gefallen wird hier nur noch selten gestellt.
Neben dem Münchner weist das Berliner Weltgerichtsspiel3 die größte Zahl an hinzugefügten Versen und Veränderungen auf, nach Meinung Reuschels jedoch „allerhand nicht Hineingehöriges“4.
Dieser Vorwurf meint vor allem die zwei größten (textlichen5) Einschübe: die Anklage der Welt durch Christus mit anschließender Fürbitte Marias6 und den Disput zwischen Leib und Seele7, die Gegenstand der hier gemachten Ausführungen sind. Beide Passagen beeinträchtigen die Folgerichtigkeit des Spiels erheblich, da durch ihren Einschub z.B. die Fürbitte (bzw. Deesis) wie auch die Berufung der Apostel teilweise mehrmals wiederholt werden.
Es muss also nicht nur nach der Motivation des Redaktors für die Aufnahme besagter Teile in den Gesamttext gefragt werden, sondern auch danach, warum deren Bearbeitung nicht so erfolgt, dass Unstimmigkeiten erst gar nicht entstehen. Erschienen ihm in den Vorlagen vorkommende Motive so wichtig, dass er gewillt war, trotz möglicherweise erst durch deren Aufnahme entstehende Komplikationen innerhalb des Weltgerichtspiels in Kauf zu nehmen? Oder sind diese gar nicht durch die Vorlagen vorgegeben?
Um diese Fragen zu beantworten musste der Weg über die vermuteten Quellen für die Einschübe genommen werden. Da jene aber nicht, bis auf eine Ausnahme, als direkte Vorlage angesehen werden können – die Übereinstimmungen sind oft zu gering oder nicht genau genug – bleiben die hier gezogenen Schlüsse in letzter Konsequenz nur hypothetisch.
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG
- 2. HANDSCHRIFT UND REDAKTION
- 3. DIE VERURTEILUNG DER WELT
- 4. DER DISPUT VON LEIB UND SEELE
- 5. SCHLUSS
- 6. LITERATUR
- 6.1 PRIMÄRLITERATUR
- 6.2 SEKUNDÄRLITERATUR
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Das vorliegende Werk untersucht die Einschübe im Berliner Weltgerichtsspiel, mit besonderem Fokus auf die Anklage der Welt durch Christus und den anschließenden Dialog zwischen Leib und Seele. Die Arbeit analysiert die Motivation des Redaktors, diese Passagen in den Gesamttext aufzunehmen, und untersucht, warum deren Bearbeitung nicht zu einer einheitlicheren Struktur des Spiels führte. Die Forschungsarbeit befasst sich außerdem mit der Frage, ob die Einschübe durch direkte Vorlagen beeinflusst wurden.
- Die Besonderheiten der Handschrift und Redaktion des Berliner Weltgerichtsspiels
- Die Analyse der zwei größten textlichen Einschübe: die Anklage der Welt und der Disput zwischen Leib und Seele
- Die Motivation und Methode des Redaktors bei der Einarbeitung der Einschübe
- Die Frage nach der Einflussnahme von Vorlagen auf die Gestaltung der Einschübe
- Die Auswirkungen der Einschübe auf die Struktur und den Inhalt des Spiels
Zusammenfassung der Kapitel
- Die Einleitung stellt die Relevanz der Untersuchung der Einschübe im Berliner Weltgerichtsspiel dar. Die Forschung setzt sich mit dem Ursprung der Weltgerichtsspiele auseinander und zeigt die Veränderung des Forschungsinteresses von einer klassischen Einheitsästhetik hin zu einer "archäologischen" Betrachtungsweise.
- Kapitel 2 beleuchtet die Handschrift und Redaktion des Berliner Weltgerichtsspiels. Es werden Erkenntnisse zur Identifizierung des Schreibers Konrad Bollstatter und seine enge Zusammenarbeit mit dem Illustrator dargelegt.
- Kapitel 3 befasst sich mit der Verurteilung der Welt durch Christus, einem der größten Einschübe im Berliner Weltgerichtsspiel. Die Analyse konzentriert sich auf die Motivation und Bearbeitung des Redaktors.
Schlüsselwörter
Berliner Weltgerichtsspiel, Einschübe, Redaktion, Handschrift, Konrad Bollstatter, Anklage der Welt, Disput von Leib und Seele, Motiv, Vorlage, Forschung, Einheitsästhetik, archäologische Betrachtung.
- Quote paper
- Falk Quenstedt (Author), 2003, Die Einschübe im Berliner Weltgerichtsspiel., Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/12147