Am 3. Dezember 1984 kam es in Bhopal zu dem größten Chemieunfall in der Geschichte der Zivilisation. Diese Arbeit untersucht die Geschehnisse anhand des HOTRIP-Schemas und analysiert die daraus gewonnen Erkenntnisse mittels der Normal-Accident-Theory und der High-Reliability-Organization-Theory.
Inhaltsverzeichnis
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
2. GRUNDLAGEN
2.1. DEFINITION DES BEGRIFFS DER „KRISE“
2.2. FALLBEISPIEL BHOPAL
3. BEDINGENDE FAKTOREN DER KRISE
3.1. MENSCHLICHE FAKTOREN
3.2. ORGANISATORISCHE FAKTOREN
3.3. TECHNISCHE FAKTOREN
3.4. FAKTOREN DER REGULIERUNG
4. VERSCHÄRFENDE FAKTOREN DER KRISE
4.1. INFRASTRUKTURELLE FAKTOREN
4.2. VORBEREITUNG
5. BHOPAL IM LICHTE DER THEORIEN
5.1. NORMAL ACCIDENTS-THEORY
5.2. HIGH RELIABILITY ORGANIZATION
6. FAZIT
LITERATURVERZEICHNIS
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Seit der Industrialisierung hat der Mensch gelernt, mit Technologien umzugehen, die ein hohes Risiko in sich bergen. Die Nutzer dieser Technologien versuchen mögliche Risiken zu minimieren. Dennoch können sie nie ganz ausgeschlossen werden. Aufgrund steigender Kosten ist eine vollkommene Risikovermeidung nicht rational. Als Folge davon optimiert ein risikoneutrales Individuum so lange, bis der Nutzen, der durch den Risikoschutz entsteht, den damit verbunden Kosten entspricht. Somit liegt ein „Streben nach Zuverlässigkeit“[1] im Eigeninteresse jedes Individuums bzw. der aus Individuen bestehenden Organisationen.[2]
Folglich ist es nie ausgeschlossen, dass es durch einen Unfall, einer Naturkatastrophe, einem Terroranschlag oder ähnlichem zu einer Krise kommt, die verheerende Auswirkung auf die Umwelt haben kann. Diese Aussage wird durch real vorkommende Ereignisse gestützt. So kam es in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu schweren Unglücken mit vielen Toten, Verletzen und hohen materiellen Schäden. Einige der schwersten Krisen geschahen bei Industrieunternehmen, wie z. B. der Atom- oder chemischen Industrie.
Als ein Beispiel der schwersten und der folgenreichsten Krisen der chemischen Industrie Europas, kann das Unglück in der norditalienischen Stadt Seveso genannt werden, welches sich am 10. Juli 1976 ereignete. An diesem Tag gelangte aus der Firma Icmesa eine Dioxinwolke aus feinstem Staub durch die Schornsteine der Fabrik in die Umwelt. Das Zurückhalten von wichtigen Informationen und die verspätete Reaktion auf die Ereignisse erst 13 Tage nach dem Unglück, am 23. Juli, machten den Vorfall zu einem Synonym für die Gefahr, die von Chemieunternehmen ausgeht. Folge dieses falschen Handelns der Verantwortlichen war nicht nur eine steigende Anzahl der Toten und Langzeitgeschädigten, sondern auch mehr als 200000m3 dioxinverseuchte Erde.[3] Seither gilt Seveso als Ausdruck für die Gefahr, die durch Unfälle in der chemischen Industrie auftreten können.
In der vorliegenden Arbeit wird die Krise von Bhopal beschrieben, eine Tragödie, deren Auswirkungen die von Seveso bei weitem übertreffen. Die Geschehnisse und die daraus resultierenden Konsequenzen gingen als der größte Chemieunfall in die Geschichte ein.
Im Folgenden soll der Begriff der Krise genauer beleuchtet und definiert, sowie ein Überblick über die Geschehnisse gegeben werden. Daran anschließend werden die möglichen Faktoren untersucht, welche diese Krise bedingten und sich verschärfend auf sie auswirkten. Am Schluss der vorliegenden Arbeit wird die Krise von Bhopal anhand zweier Theorien des Krisenmanagements beleuchtet, um schließlich ein Fazit zu ziehen.
2. Grundlagen
2.1. Definition des Begriffs der „Krise“
Aufgrund der inflationären Verwendung des Begriffs „Krise“ ist es notwendig, die Bedeutung des Wortes, wie es in dieser Arbeit verwendet wird, einzugrenzen. Ursprünglich wurde der Begriff nur im Bereich der Medizin verwendet. „Krise“ beschrieb die ausschlaggebende Phase einer Krankheit, d.h. eine Verschlimmerung, Verbesserung oder der Übergang in eine andere Krankheit.[4]
In der Betriebswirtschaftslehre wird der Begriff der „Krise“ benutzt, wenn Unternehmungen aufgrund von „ungewollte[n], zeitlich begrenzte[n] Prozesse[n], (...) dauerhaft und nachhaltig bedroht werden, so dass die Existenz der gesamten Unternehmung ernsthaft gefährdet ist.“[5] Diese Begrifflichkeit geht zumeist von einer Situation aus, in welcher für das Unternehmen die Gefahr der Insolvenz besteht, die aufgrund verschiedenster Ursachen eintreten kann.
Der in der vorliegenden Arbeit verwendete Begriff der „Krise“ entspricht der von Wiener und Kahn beschriebenen Definition, in welcher Ziele und Werte bedroht werden, und deren Folgen schwere Konsequenzen für die Zukunft der Beteiligten nach sich ziehen.[6]
Nach Turner kann eine Krise in sechs Stufen eingeteilt werden: In Stufe eins gibt es keine Anzeichen für eine Krise. Stufe zwei, die Inkubationsperiode, bezeichnet den Zeitraum, in dem es zu Vorfällen kommt, die auf eine bevorstehende Krise aufmerksam machen könnten, jedoch keine Beachtung finden. Die nun folgende Stufe drei ist durch das auslösende Ereignis definiert, welches in Stufe vier in die eigentliche Krise übergeht.[7] Die daran anschließende Stufe fünf, die Krisenbekämpfung[8], ist durch den Umgang der eingetretenen Situation, die unerwartet und abnormal ist, und das System des Alltagsmanagements ratlos erscheinen lässt, geprägt. Kurzfristig und unter hohem Zeitdruck gilt es, Lösungen für die vorhandenen Schwierigkeiten, die mit einem großen Informationsdefizit durch einen beschränkten Personenkreis verbunden sind, zu finden.[9] Eine genauere Analyse der Gegebenheiten ist erst nach dem Vorfall, in Stufe sechs möglich.[10]
2.2. Fallbeispiel Bhopal
Bhopal ist die Hauptstadt des indischen Bundesstaates Madhya Pradesh und liegt in Zentralindien. Die starke Industrialisierung in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts führte zu einem starken Zuzug aus dem bäuerlichen Hinterland in die Städte, was wiederum zur einem Anstieg der Arbeitslosigkeit, einem großen Bevölkerungswachstum, und zur Entstehung von Armutsvierteln führte.[11]
Am 3. Dezember 1984 kam es in Bhopal zu dem größten Chemieunfall in der Geschichte der Zivilisation.[12] Aufgrund immer wieder vorkommender und verheerend ausfallenden Missernten in Indien, die auf Schädlingsplagen zurück zu führen waren[13], entschloss die Indische Regierung im Jahr 1966, sich an einen ausländischen Hersteller von Pestiziden zu wenden. Da der Chemieriese Union Carbide Cooperation (UCC) über seine Tochterfirma Union Carbide India Limited (UCIL) schon im Land vertreten war, lag es nahe, sich an dieses Unternehmen zu wenden.[14]
UCC war 1976 das siebtgrößte Chemieunternehmen in den USA mit einem Umsatz von 6,5 Milliarden US-Dollar, ca. 120000 Angestellten weltweit, und galt als ein Aushängeschild der amerikanischen Wirtschaft.[15] Im Jahr 1957 brachte UCC Sevin auf den Markt, ein Pestizid, das laut Eigenwerbung völlig unschädlich für Nutzpflanzen, Menschen und Tiere sei, und gegen fast alle bekannten Arten von Schädlingen wirke.[16]
UCIL war zu 50,9% in Besitz der UCC, ca. 24% gehörten dem Indischen Staat, der Rest befand sich Streubesitz indischer Kleinanleger.[17] Die Organisationsstruktur von UCIL war divisional. Jede Fabrik war ein Profit-Center und im Einzelnen funktional organisiert.[18]
UCC wurde beauftragt, innerhalb von fünf Jahren eine Fabrik zur Herstellung von Pestiziden in Indien zu bauen. Dazu wurde im Jahr 1966 bei UCIL eine Division für landwirtschaftliche Produkte gegründet. 1969 ging in Bhopal eine Fabrik zur Vermischung von Sevin mit einem Trägerstoff, wie beispielsweise Sand oder Gips in Betrieb.[19]
Die Fabrik lag im Norden von Bhopal, ca. 2km entfernt vom Bahnhof und Busbahnhof. Direkt gegenüber der Fabrik entstanden die Barackensiedlungen Jaya Prakash Nagar und Kenchi Chola, in denen viele zugezogene Bauern lebten. Diese waren zunächst illegal errichtet worden. 1984 erhielten die Bewohner jedoch Besitzurkunden, wodurch die Siedlungen legalisiert wurden, so dass für die Bewohner nun kein Anreiz mehr bestand, von dort weg zu ziehen. Viele weitere Siedlungen in der Nähe der Fabrik bestanden schon seit über 100 Jahren. Daher sah der Bebauungsplan der Stadt Bhopal ein anderes Gebiet für Fabriken vor, die mit gefährlichen Stoffen arbeiteten. Allerdings erhielt das Unternehmen UCIL eine Sondergenehmigung für den Bau der Fabrik.[20] Im Bericht der Untersuchungskommission der International Confederation of Free Trade Unions (ICFTU) zusammen mit der International Federation of Chemical, Energy and General Workers’ Unions (ICEF) unter der Leitung von Pekka O. Aro, wurde das Problem treffend auf den Punkt gebracht: „The problem was not that people decided to live near plant, but that the company built the plant near pre-existing residential areas.“[21]
Im Jahr 1974 vergab das indische Landwirtschaftsministerium an UCIL eine Lizenz zur Herstellung von 5000 Tonnen Pestiziden pro Jahr.[22] Der damalige Spitzenverkäufer von UCC, Eduardo Muñoz, war nicht der Meinung, dass diese Menge an Pestizid abgesetzt werden kann. Das Management von UCC widersprach, und entschied eine Fabrik mit der genehmigten Kapazität zu bauen. 1979 wurde die bestehende Fabrik um die Einheiten, die zur Produktion von Methylisocyanat (MIC ), einem Grundstoff von Sevin, benötigt wurden erweitern.[23] In Bhopal wurde eine Produktionstechnik gewählt, die einer Lagerung großer Mengen von MIC bedurfte. Die Bedenken von Eduardo Muñoz gegen diese Produktionstechnik wurden vom Projektleiter mit den Worten, die Industrieanlage sei „so harmlos wie eine Schokoladenfabrik“[24] verworfen.[25]
Am 3. Dezember 1984 kam es zum Austritt einer großen Menge an MIC, das eine toxische Gaswolke bildete, die über die Armutsviertel und durch große Teile der Stadt zog. Dabei wurden nach offiziellen Angaben der indischen Regierung 3800 Menschen getötet und 11000 verletzt.[26] Nach Shrivastava wurden sogar 300000 Menschen[27] verletzt, andere Autoren gehen von noch viel höheren Zahlen aus. Lapierre und Moro nennen eine Zahl von 530000 Betroffenen[28], was ca. 75% der Gesamtbevölkerung von Bhopal[29] zum damaligen Zeitpunkt entspricht. Der Austritt des MIC wurde durch das Eindringen von 450 bis 900 Liter Wasser[30] in den Lagertank (Tank E610) verursacht, wobei dieser Wassereintritt bis heute nicht gänzlich geklärt werden konnte. Als mögliche Ursachen werden zumeist zwei Möglichkeiten genannt. Keine von diesen wurde jedoch jemals zweifelsfrei bewiesen. UCC behauptete, dass es sich um Sabotage gehandelt habe.[31] Der ICFTU/ICEF-Bericht geht davon aus, dass durch einen vergessenen slip blind Wasser während eines Reinigungsvorgangs in den Tank gekommen ist.[32] Durch das Wasser kam es zu es zu einer exothermen Reaktion, welche das MIC im Tank auf über 100°C erhitzte und somit den Druck stark erhöhte, was schließlich zum MIC- Austritt führte.[33] Die Wolke aus giftigen Gasen wurde vom Wind in die Stadt getrieben. Der Kontakt mit dem Gasgemisch führte zu einer großen Anzahl von Verletzten und Toten.
Im Folgenden sollen die Faktoren, die diese Krise begünstigten, beschrieben und näher beleuchtet werden.
[...]
[1] Schauenberg (2004), S. 235, Herv. v. Vf.
[2] Vgl. Schauenberg (2004), S. 235.
[3] Vgl. Pocchiari/Silano/Zapponi (1987), S. 60 ff.
[4] Vgl. Krummenbacher (1981), S. 4, (Zitiert nach Starn (1971), S. 54).
[5] Müller (1984), S. 229.
[6] Vgl. Krummenbacher (1981), S. 5, (Zitiert nach Wiener/Kahn (1962)).
[7] Vgl. Turner (1976), S. 381.
[8] Ebd., S. 381.
[9] Vgl. Lagadec (1987), S. 22.
[10] Vgl. Turner (1976), S. 381.
[11] Vgl. Shrivastava (1989), S. 98.
[12] Vgl. Shrivastava (1992), S. 1.
[13] Vgl. Lapierre/Moro (2004), S. 40 f.
[14] Ebd., S. 79.
[15] Ebd., S. 43.
[16] Ebd., S. 47.
[17] Vgl. Browning (1993), S. 2.
[18] Vgl. Shrivastava (1989), S. 97.
[19] Vgl. Shrivastava (1992), S. 33.
[20] Vgl. Aro (1985), S. 12.
[21] Aro (1985), S. 12.
[22] Vgl. Shrivastava (1992), S. 33.
[23] Vgl. Lapierre/Moro, S. 102 ff.
[24] Lapierre/Moro (2004), S. 105.
[25] Vgl. Lapierre/Moro (2004), S. 105.
[26] Vgl. Browning (1993), S. 1.
[27] Vgl. Shrivastava (1992), S. 2.
[28] Vgl. Lapierre/Moro (2004), S. 9.
[29] eigene Berechnung nach Zahlen von Shrivastava (1989), S. 98.
[30] Vgl. Aro (1985), S. 7.
[31] Vgl. Kalelkar (1988), S. 14.
[32] Vgl. Aro (1985), S. 7.
[33] Vgl. Kalelkar (1988), S. 5.
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- Raphael Beguin (Autor:in), 2007, Bhopal als Beispiel einer komplexen Krise, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/119843