Die Menschen waren und sind stets von dem fasziniert, was ihnen fremd erscheint. Dabei können die Emotionen von Abscheu bis Verlangen reichen, das wesentliche daran ist die Nicht-Alltäglichkeit einer Sache. Mit fantastischen Zügen versehene Geschichten und Erzählungen sind gerade wegen dieser Elemente interessant, die nicht im Erfahrungshorizont des Rezipienten (und oftmals auch des Autors) existieren oder nicht in die herkömmliche Definition von Realität passen. Die beinahe zeitlose Beliebtheit von Märchen oder der kommerzielle Erfolg der zeitgenössischen Fantasy-Literatur mit „Harry Potter“ und der Tolkien-Mythologie sind dafür die nur offensichtlichsten Indizien. Anders als im Mittelalter glauben die Menschen in unserer „aufgeklärten“ Zeit allerdings nicht mehr an die Existenz fabelhafter Wesen wie Drachen, Greife, Riesen und Zwerge, zumindest nicht öffentlich. Allerdings gibt es Ausnahmen wie bspw. die Überzeugung der Isländer, dass unter ihnen Elfen und Naturgeister unsichtbar wandeln. Im Mittelalter hingegen wurden die Wesen der Anderwelt als tatsächlich existent betrachtet. So erscheinen Fabelwesen ohne weiteres in Heldenepen und Romanen dieser Zeit, häufig als Widersacher der Protagonisten. Und bösartige wie auch gutartige Kreaturen mit unnatürlichen Erscheinungsformen und Fähigkeiten tauchen ebenfalls in Märchen auf, die sich über Jahrhunderte aus Sagen und Erzählungen herausgebildet haben und ursprünglich durchaus nicht für Kinderohren bestimmt waren .
Möglicherweise ist gerade diese Unwahrscheinlichkeit und die scheinbar kindliche Naivität des Riesen- und Zwergenglaubens einer der Gründe für die schwache Auseinandersetzung mit diesem Thema in der literarischen Forschung. Exemplarisch für diese Lücke mag der erste Satz von Claude Lecouteux in seinem Aufsatz „Zwerge und Verwandte“ stehen:
„Seit August Lütjens’ Dissertation Der Zwerg in der deutschen Heldendichtung [1911] ist das Thema ‚Zwerg’ nicht eingehender behandelt worden.“
Ähnliches gilt für die gigantischen Widersacher der Zwerge: die Riesen. Ohne über die weiteren möglichen Ursachen für das Desinteresse an diesem Gebiet zu mutmaßen, ist es dennoch bedauerlich, dass Riesen und Zwerge der Märchenforschung überlassen werden. Und selbst die Brüder Grimm als hohe Garde der Märchensammler (und Sprachwissenschaftler) mussten den Vorwurf der Unbedeutsamkeit ihrer Forschung hinnehmen. Dabei ist dieses Thema weitläufiger, als es den Anschein hat. Die Mythologie der Giganten und Riesen ist ebenso groß wie ihre Erscheinungsformen. Sowohl die griechische als auch die altnordische Götterwelt ist auf das Engste mit ihnen verknüpft und auch der Glaube an Zwerge reicht bis in die Antike.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Herkunft, Mythologie und Wesen von Zwergen und Riesen
2.1. Ursprünge der mittelalterlichen Vorstellung zu „twerc unde rise“
2.2. Erscheinungsformen und Eigenschaften der Zwerge
2.3. Merkmale und Wesen der Riesen
3. Drei literarische Quellen zu den kleinen und großen „recken“
3.1. Grendel und seine Mutter im „Beowulf“-Epos
3.2. Siegfrieds Torwächter aus der Anderwelt
3.3. Die drei Riesen und der Zwerg Alban im „Orendel“ als Widerpart des grauen Rockes
4. Schlussbetrachtung
5. Literaturnachweis
1. Einleitung
Die Menschen waren und sind stets von dem fasziniert, was ihnen fremd erscheint. Dabei können die Emotionen von Abscheu bis Verlangen reichen, das wesentliche daran ist die Nicht-Alltäglichkeit einer Sache. Mit fantastischen Zügen versehene Geschichten und Erzählungen sind gerade wegen dieser Elemente interessant, die nicht im Erfahrungshorizont des Rezipienten (und oftmals auch des Autors) existieren oder nicht in die herkömmliche Definition von Realität passen. Die beinahe zeitlose Beliebtheit von Märchen oder der kommerzielle Erfolg der zeitgenössischen Fantasy-Literatur mit „Harry Potter“ und der Tolkien-Mythologie sind dafür die nur offensichtlichsten Indizien. Anders als im Mittelalter glauben die Menschen in unserer „aufgeklärten“ Zeit allerdings nicht mehr an die Existenz fabelhafter Wesen wie Drachen, Greife, Riesen und Zwerge, zumindest nicht öffentlich. Allerdings gibt es Ausnahmen wie bspw. die Überzeugung der Isländer, dass unter ihnen Elfen und Naturgeister unsichtbar wandeln. Im Mittelalter hingegen wurden die Wesen der Anderwelt als tatsächlich existent betrachtet. So erscheinen Fabelwesen ohne weiteres in Heldenepen und Romanen dieser Zeit, häufig als Widersacher der Protagonisten. Und bösartige wie auch gutartige Kreaturen mit unnatürlichen Erscheinungsformen und Fähigkeiten tauchen ebenfalls in Märchen auf, die sich über Jahrhunderte aus Sagen und Erzählungen herausgebildet haben und ursprünglich durchaus nicht für Kinderohren bestimmt waren[1].
Möglicherweise ist gerade diese Unwahrscheinlichkeit und die scheinbar kindliche Naivität des Riesen- und Zwergenglaubens einer der Gründe für die schwache Auseinandersetzung mit diesem Thema in der literarischen Forschung. Exemplarisch für diese Lücke mag der erste Satz von Claude Lecouteux in seinem Aufsatz „Zwerge und Verwandte“[2] stehen:
„Seit August Lütjens’ Dissertation Der Zwerg in der deutschen Heldendichtung[3] [1911] ist das Thema ‚Zwerg’ nicht eingehender behandelt worden.“[4]
Ähnliches gilt für die gigantischen Widersacher der Zwerge: die Riesen.[5] Ohne über die weiteren möglichen Ursachen für das Desinteresse an diesem Gebiet zu mutmaßen, ist es dennoch bedauerlich, dass Riesen und Zwerge der Märchenforschung überlassen werden. Und selbst die Brüder Grimm als hohe Garde der Märchensammler (und Sprachwissenschaftler) mussten den Vorwurf der Unbedeutsamkeit ihrer Forschung hinnehmen.[6] Dabei ist dieses Thema weitläufiger, als es den Anschein hat. Die Mythologie der Giganten und Riesen ist ebenso groß wie ihre Erscheinungsformen. Sowohl die griechische als auch die altnordische Götterwelt ist auf das Engste mit ihnen verknüpft und auch der Glaube an Zwerge reicht bis in die Antike.
2. Herkunft, Mythologie und Wesen von Zwergen und Riesen
2.1. Ursprünge der mittelalterlichen Vorstellung zu „twerc unde rise“
Wie bereits erwähnt, war der Glaube an Riesen und Zwerge im Mittelalter lebendig. Die tatsächliche Existenz von klein- und großwüchsigen Menschen war dafür der offensichtlichste Beleg.[7] Diese waren demnach Nachkommen jener Wesen, von denen bereits in antiken Berichten die Rede war. Wie so oft im Mittelalter waren auch in diesem Zusammenhang die Schriften antiker Autoren wichtige Quellen. Homer berichtet in der „Ilias“ von Zwergenvölkern, die er als Pygmäen bezeichnet. Plinius der Ältere war wohl der größte zumindest aber einflussreichste Naturforscher des Altertums. Auch er berichtet in seiner „Naturalis Historia“ von Zwergen, die nach seiner Aussage schneller laufen konnten als Pferde. Ebenso ist in den griechischen Herakles-Sagen von Zwergen die Rede.[8] Wer eines deutlicheren Beweises bedurfte, konnte ihn sich möglicherweise in einer der mittelalterlichen „Wunderkammern“ holen. Marco Polo (1254 – 1324) schreibt hierzu, dass Affen auf Sumatra mumifiziert und als kleine Menschen verkauft wurden.[9] Diese fanden dann ihren Weg nach Europa, wo sie als Beweise für die Existenz von Zwergen dienten. Ein Ansatz zur Erklärung des Zwergenglaubens in der germanischen Mythologie ist die Wanderung von Menschen aus dem Mittelmeerraum in den europäischen Norden während der Bronzezeit. Dort bauten diese körperlich kleiner als die Nordeuropäer gebauten Menschen das zur Bronzeherstellung notwendige Zinn ab, um es wieder mit sich in den Süden zu nehmen.[10] Damit wäre zumindest die Vorstellung vom Zwerg als Bergmännlein angedeutet.
Ein reiche Quelle zur Entwicklung der mittelalterlichen Vorstellung von Riesen bildete die griechische Mythologie mit ihren Titanen, Giganten und Zyklopen. Die Titanen waren die „Vorväter“ der Götter des griechischen Pantheons und ihre Widersacher. Auch die Zyklopen waren ein altes Göttergeschlecht. In ähnlicher Weise verhält es sich auch in der altnordischen Götterwelt. Zu weiteren Berichten kommt es wiederum bei Plinius dem Älteren und Herodot.[11] Aus Tacitus’ „Germania“ erfährt man von den weit im Norden lebenden Hellusiern und Oxionen, dass sie Mischvölker aus Menschen und Riesen gewesen seien.[12] Möglicherweise lässt sich diese Vermutung durch die im Vergleich zu den Römern größere Körperhöhe der Germanen erklären, die für die lateinischen Eroberer ungewohnt war. Auch in der einflussreichsten Autorität unter den Schriftquellen im Mittelalter, der Bibel, werden Riesen erwähnt. Im Alten Testament treten Samson und Goliath auf, welche man sich als solche vorstellte, auch wenn hier die Vermutung nahe liegt, dass sie ursprünglich nur großgewachsene und starke Männer darstellen sollten. Der heilige Christophorus wiederum war vor seiner Taufe der hundsköpfige, menschenfressende Riese Reprobus.[13] In der Ikonographie und der mittelalterlichen Vorstellung wurde er auch nach seiner Taufe als Riese dargestellt. Walther von Speyer beschreibt ihn im 10. Jahrhundert in einer Passio:
„Wegen seiner Riesengröße gestaltete sich sein Martyrium schwierig: 200 Soldaten wagen nicht ihn anzugreifen, man bedarf weiterer 200 [...] Zwölf Stunden lang wird Christophorus mit Pfeilen beschossen [...] Endlich fällt der christliche Goliath und wird enthauptet, nachdem man ihm noch einen glühenden Helm aufgestülpt hatte.“[14]
Auch für das zumindest frühere Vorhandensein von Riesen gab es „handfeste“ Beweise. Man konnte sich die Funde von bspw. Mammutknochen nur als Überreste verendeter Riesen (oder Drachen) erklären. Ebenso waren schwer erklärbare landschaftliche Eigenarten ein Indiz für den Einfluss von „Hünen“, wie eben jene Hünensteine und -gräber.[15] Das Geschlecht der Riesen und Trolle muss natürlich trotz einiger Ähnlichkeiten (Kraft und Größe) von dem der Recken und Helden getrennt werden, welche durchweg christlichen Glaubens sind und daher auch für gewöhnlich ein gepflegteres Aussehen und bessere Umgangsformen besitzen. Welche Vorstellung man von den Helden der „Vorzeit“ hatte veranschaulicht ein in der Mitte durchbrochener Balken im Wormser Dom, der angeblich die Lanze von Siegfried war, sowie ein großer Felsblock vor dem Weinkeller des Domherren, den Siegfried einst über den Wormser Petersdom geworfen haben soll (vermutlich war er ursprünglich lediglich ein Kelterstein). Offensichtlich schufen sich die Menschen ihre Mythen oder bauten sie mit Bestandteilen ihrer eigenen Lebenswelt aus. Das tun sie auch heute noch, man denke nur an die Vogelspinne in der Bananenkiste. Im Mittelalter wurde über Zwerge und Riesen v.a. in der Exempelliteratur und in Epik und Heldendichtung berichtet, wo sie ein bedeutsames Handlungselement sind. Von hier hielten sie schließlich Einzug in Sagen und Märchen.[16]
[...]
[1] Fritz Meyers: Riesen und Zwerge am Niederrhein. Ihre Spuren in Sage, Märchen, Geschichte und Kunst.
Duisburg: 1980, S. 9.
[2] Claude Lecouteux: Zwerge und Verwandte. In: Euphorion 75. 1981, S. 366 – 378.
[3] August Lütjens: Der Zwerg in der deutschen Heldendichtung. In: Germanistische Abhandlung. Bd. 38. Breslau:
1911, S. 68-81.
[4] Claude Lecouteux: Zwerge und Verwandte. S. 366.
[5] Seit E.H. Ahrendt: Der Riese in der mittelhochdeutschen Epik (Rostock: 1932) ist kein umfassendes Werk zu
diesem Thema mehr erschienen.
[6] Siehe: Walter Killy in: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. In der ersten Gestalt. Frankfurt am Main:
1962, S. 426.
[7] Lexikon des Mittelalters. Bd. IX. München: 2003, Sp. 727.
[8] http://de.wikipedia.org/wiki/Zwerg_%28Mythologie%29. 30.05.2005.
[9] Lexikon des Mittelalters. Bd. IX. Sp. 727.
[10] http://de.wikipedia.org/wiki/Zwerg_%28Mythologie%29.
[11] Lexikon des Mittelalters. Bd. IX. Sp. 728.
[12] http://de.wikipedia.org/wiki/Zwerg_%28Mythologie%.
[13] Enzyklopädie des Märchens. Sp. 671.
[14] Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. II. Freiburg im Breisach: ab 1930, Sp. 934 f..
[15] siehe: Enzyklopädie des Märchens. Sp. 674.
[16] Lexikon des Mittelalters. Bd. IX. Sp. 727.
- Arbeit zitieren
- Toralf Schrader (Autor:in), 2005, Riesen und Zwerge in der mittelalterlichen Literatur, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/119799