Die Seminararbeit setzt sich mit der Forschungsfrage auseinander, ob die multivektorielle Außenpolitik Kasachstans auch nach der Ära Nasarbajew und angesichts zunehmender außenpolitischer Schwierigkeiten effizient sein kann. Dabei wird zweiteilig vorgegangen: Im ersten Teil soll der Neoklassische Realismus als Theorie herangezogen werden, indem für die Arbeit relevante Komponenten der Theorie erörtert werden. Im zweiten Teil sollen die relevanten Konzepte des Neoklassischen Realismus konkret angewendet werden.
Für den Theorieteil der Arbeit liefern realistische Theorien durch das Konzept des balancing einen passenden theoretischen Ansatz, um die kasachische Außenpolitik zu erschließen. Den Neoklassischen Realismus zeichnet darüber hinaus aus, dass hier der Staat nicht lediglich als "black box" aufgefasst wird, stattdessen wird der Einfluss von Bedrohungswahrnehmungen auf außenpolitische Entscheidungen betont. Im Fall Kasachstans sind Teile der Wirtschaft eng mit der nationalen Politik verzahnt, weshalb eine genauere Analyse von Interessenskoalitionen, die Außenpolitik in ihrem Sinne beeinflussen könnten, lohnend erscheint. Darüber hinaus wird auch der russische Einfluss auf Kasachstan beleuchtet und wie Nur-Sultan damit umgeht.
Inhalt
1. Einleitung
2. Der Neoklassische Realismus
2.1 Die Unabhängige Variablen: Anarchie, Macht und Sicherheit im internationalen System
2.2 Intervenierende Variablen: Entscheidungsträger und Bedrohungswahrnehmungen
2.2.1 Die außenpolitischen Entscheidungsträger
2.2.2 Bedrohungswahrnehmung und die Effizienz außenpolitischen Handelns
2.2.2.1 Die sozioökonomischen Eliten
2.2.2.2 Nationale Stärke und die Leistungsfähigkeit des Staates
3. Empirie: Die Multivektorielle Außenpolitik Kasachstans
3.1 Das russisch-kasachische Verhältnis
3.2 Bedeutende Einflussfaktoren auf Kasachstans Außenpolitik im Sinne des Neoklassischen Realismus
3.2.1 Strategische Kultur Kasachstans
3.2.2 Die politische und wirtschaftliche Elite
3.2.3 Die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft
4. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
5. Literatur
5.1 Primärliteratur
5.2 Sekundärliteratur
1. Einleitung
In Kasachstan kam es Anfang 2022, ausgelöst durch gestiegene Preise, zu Protesten gegen die Regierung von Präsident Qassym-Schomart Toqajew, der sich gezwungen sah militärische Unterstützung der OVKS unter Führung Russlands anzufordern. Gerade vor dem Hintergrund der russischen Invasion in die Ukraine erhält so die außenpolitische Positionierung Kasachstans neue Brisanz. Die Bindungen Kasachstans zu Russland in politischer, wirtschaftlicher, ethnischer und historischer Hinsicht sind traditionell stark, dennoch gilt die kasachische Außenpolitik seit der Unabhängigkeit des Landes von der Sowjetunion als darauf bedacht die eigene Abhängigkeit von Russland zu reduzieren.
Um die außenpolitischen Entscheidungen Kasachstans besser erschließen zu können, soll auf der theoretischen Ebene der Neoklassische Realismus herangezogen werden. Innerhalb des internationalen Systems ist Kasachstan in einer schwierigen Situation zu deren Verständnis realistische Ansätze beitragen können. Bei den verschiedenen Theoriezweigen der realistischen Schule werden innerstaatliche Entscheidungsprozesse zugunsten der Politikergebnisse ausgeblendet, wohingegen der Neoklassische Realismus diese als entscheidend betrachtet, sodass sie eine eigene Analyseebne darstellen.
Den Neoklassischen Realisten wird oft unterstellt eine umfassende Theorie der internationalen zu entwerfen, sodass es der Theorie an wissenschaftlicher Eleganz und Sparsamkeit mangelt. Die konkrete Anwendung der Theorie auf den Fall Kasachstans, kann hier Klarheit schaffen.
Zum Entstehungszeitpunkt dieser Arbeit im März 2022 ist die sicherheitspolitische Entwicklung in Europa äußerst dynamisch, was unter Umständen auch weitreichende Folgen für Kasachstan nach sich ziehen kann. Auch die inneren Unruhen vom Anfang des Jahres sind wohl noch zu jung, um im Rahmen einer Seminararbeit behandelt zu werden. Daher wird sich diese Arbeit auf die Entwicklungen und Herausforderungen der sog. Multivektoriellen Außenpolitik der Regierung in Nur-Sultan von 2014 bis 2021 konzentrieren. In diesen Zeitraum fallen nicht nur der russische Einmarsch in die Ost-Ukraine und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, sondern auch die durch den Rückzug von Staatspräsident Nursultan Nasarbajew ausgelöste Machttransition.
Die Seminararbeit soll konkret der Forschungsfrage nachgehen, inwiefern und warum die Multivektorielle Außenpolitik im genannten Zeitraum als effizient gelten kann.
2. Der Neoklassische Realismus
Als Teil der realistischen Theorieschulen geht der Neoklassische Realismus davon aus, dass Anarchie, definiert als die Abwesenheit einer umfassenden, zentralen und weltweiten Ordnungsinstanz, internationale Konflikt verursacht. Staaten streben dabei primär entweder nach Macht oder Sicherheit.1 Die Staaten gestalten ihre Außenpolitik abhängig von der relativen Machtverteilung im internationalen System, die im Einzelnen von den capabilities bzw. den Machtressourcen, über die ein Staat verfügt, bestimmt wird. Zu diesen zählen klassischerweise die militärischen Fähigkeiten, der Neoklassischen Realismus zieht aber auch das wirtschaftliche Potenzial oder die diplomatischen Fähigkeiten heran.2 Weiterhin unterscheiden Neoklassische Realisten zwischen drei Analyseebenen: Die Ebene des internationalen Systems ist über der Ebene der regionalen Subsysteme angesiedelt, darunter werden im Rahmen der Theorie die verschiedenen staatlichen und nicht-staatlichen Akteure verortet.3
2.1 Die Unabhängige Variablen: Anarchie, Macht und Sicherheit im internationalen System
Die relative Machtverteilung innerhalb des internationalen Systems stellt die unabhängige Variable der Theorie dar. Macht kann allerdings nicht als einheitliches Konzept verstanden werden, vielmehr gilt es zwischen aggregierter Macht und ihren Komponenten zu differenzieren. Eine Verschiebung in der relativen Machtverteilung kann entweder auf den Zuwachs oder Verlust von aggregierter Macht eines Staates oder auf eine Veränderung bei bestimmten Machtkomponenten (etwa Militär oder Wirtschaftsleistung) zurückgeführt werden. Solche Entwicklungen rufen bei den Staaten, die durch diese Entwicklung relativ verlieren und den Aufsteiger als potenzielle Gefahr ansehen kompensatorisches Verhalten, sog. balancing, hervor. Staaten, die sich vom Machtzuwachs anderer bedroht sehen, könnten etwa in ihr eigenes Militär investieren oder Bündnisse gegen die wahrgenommene Bedrohung schmieden. Neoklassische Realisten unterscheidet dabei von anderen realistischen Schulen, dass sie den Staat nicht als black box auffassen. Stattdessen wird versucht das Verhalten von Staaten gegenüber ihrer Umwelt durch unabhängige und intervenierende Variablen zu erklären.4 Ausprägung und Wechselwirkungen dieser Variablen bestimmen die Effizienz außenpolitischen Handelns. Unter intervenierenden Variablen werden konkret die strukturelle Leistungsfähigkeit des Staates, (Fehl-)Wahrnehmungen und Intentionen der außenpolitischen Entscheidungsträger sowie das Verhalten von sozioökonomischen Akteuren zusammengefasst.5
2.2 Intervenierende Variablen: Entscheidungsträger und Bedrohungswahrnehmungen
2.2.1 Die außenpolitischen Entscheidungsträger
Der Neoklassische Realismus begreift die außenpolitischen Entscheidungsträger eines Staates (engl. nach Lobell: „foreign policy executives“ oder „FPEs“) als einheitlichen Akteur mit dem Ziel die nationale Sicherheit oder Macht des eigenen Landes zu maximieren.6 Konkret sind es die FPEs, die die nationale Strategie eines Landes entwerfen und verfolgen, dabei nehmen sie eine Schanierfunktion zwischen dem einzelnen Staat, dem regionalen Subsystem und dem internationalen System ein. Neben den FPEs nehmen übergeordnete politische Entscheidungsträger (etwa Staats- und Regierungschefs) eine wichtige Rolle ein, da diese die Außenpolitik und die langfristigen Strategien zu ihrer Durchsetzung in letzter Instanz verantworten. In ihrem Handeln sind FPEs allein deshalb keineswegs frei, auch sind sie selbst fehleranfällig und einer Vielzahl von inneren und äußeren Anreizen und Zwängen ausgesetzt.7
2.2.2 Bedrohungswahrnehmung und die Effizienz außenpolitischen Handelns
Entscheidend für die Effizienz von außenpolitischem Handeln ist für neoklassische Realisten die Wahrnehmung bestimmter Signale des internationalen Systems durch die FPEs. Wenn diese Signale keine eindeutigen Schlussfolgerungen über eine adäquate Reaktion erlauben, erhöht das den Einfluss der strategischen Kultur, von innenpolitischen Interessenskoalitionen und von persönlichen Fremd-, Selbst- und Weltbildern auf den Spielraum der Entscheidungsträger.8 Im Verständnis des Neoklassischen Realismus befinden sich FPEs dadurch stets in einem Spannungsfeld zwischen systemischen und innenpolitischen Notwendigkeiten, das bestimmte Handlungsoptionen nahelegt oder versperrt.9 Doch selbst wenn die systemischen Signale scheinbar eindeutige Interpretationen zulassen, kann eine Reihe von intervenierenden Variablen eine effiziente Reaktion des Staates auf systemische Reize behindern.
Zu diesen zählen neben den bereits genannten Interessenskoalitionen auch die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft sowie die Beschaffenheit der politischen Institutionen. Die letztgenannten Aspekte beeinflussen die Fähigkeit des Staates policies durchzusetzen.10
Diese Arbeit soll sich in diesem Zusammenhang zunächst theoretisch und im Anschluss empirisch mit der Rolle von Interessenskoalitionen und dem Einfluss des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft auf Kasachstans Außenpolitik beschäftigen.
2.2.2.1 Die sozioökonomischen Eliten
Unter sozioökonomischen Eliten werden bestimmte Personengruppen verstanden, die zugunsten ihrer eigenen sozioökonomischen Sektoren politisch Einfluss nehmen und somit auch die Außenpolitik des Landes prägen. Angehörige dieser Eliten sind Experten in ihrem Bereich und interpretieren die nationale Außenpolitik aus der Perspektive des Sektors, den sie repräsentieren. Innerhalb eines Staates bilden sich zwischen diesen sektoralen Akteuren Koalitionen, die versuchen ihre policy-Präferenzen gegenüber anderen Interessen durchzusetzen.
Steven Lobell unterscheidet hier zwischen internationalistischen und nationalistischen Koalitionen. Internationalistische Koalitionen setzen sich demnach typischerweise aus exportorientierten Unternehmen, international wettbewerbsfähigen Branchen, großen Banken und hochqualifizierten Arbeitern zusammen. Häufig haben die Angehörigen internationalistischer Koalitionen Vermögenswerte im Ausland, sind von der Kooperation mit fremden Regierungen abhängig und international stark verflochten. Sie favorisieren folglich eine für die Außenwelt offene und auf Teilhabe am internationalen System ausgerichtete nationale außenpolitische Strategie. Dem stehen nationalistische Koalitionen gegenüber: Sie bestehen aus international weniger konkurrenzfähigen Branchen, arbeitsintensiven, importsubstituierenden oder ineffizienten Industriezweigen, sowie der Landwirtschaft. Angehörige nationalistischer Koalitionen bevorzugen in der Regel eine Reduzierung von Militärausgaben und Entwicklungshilfe. In bestimmten Fällen können Mitglieder nationalistischer Koalitionen aber auch als Unterstützer einer imperialen Ausdehnung des eigenen Landes auftreten.
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1 Lobell, Steven (2009): Threat Assessment, the State, and Foreign Policy. A Neoclassical Realist Modell, in: Lobell, Steven/Ripsman, Norrin/Taliaferro, Jeffrey: Neoclassical Realism, the State, and Foreign Policy, Cambridge: Cambridge University Press, doi: 10.1017/CBO9780511811869, S. 47f.
2 Ebd., S. 54f.
3 Auth, Günther (2015): Theorien der Internationalen Beziehungen kompakt, Berlin/München/Boston: Walter de Gruyter, S. 75.
4 Rose, Gideon (1998): Neoclassical Realism and Theories of Foreign Policy, in World Politics, Bd. 51, Nr. 1, Cambridge University Press, auf: www.jstor.org/stable/25054068, Abruf: 21.01.2022, S. 147.
5 Lobell, Steven/Ripsman, Norrin/Taliaferro, Jeffrey (2009): Introduction. Neoclassical Realism, the state, and foreign policy, in: Lobell, Steven/Ripsman, Norrin/Taliaferro, Jeffrey: Neoclassical Realism, the State, and Foreign Policy, Cambridge: Cambridge University Press, doi: 10.1017/CBO9780511811869, S. 28.
6 Lobell, S. (2009): Threat Assessment, S. 56f.
7 Ebd.
8 Ripsman, Norrin/Taliaferro, Jeffery/Lobell, Steven (2016): Neoclassical Realist Theory and the Limits of Structural Realism, in: Ripsman, Norrin/Taliaferro, Jeffery/Lobell, Steven: Neoclassical Realist Theory of Politics, New York: Oxford University Press, doi: 10.1093/acprof:oso/9780199899234.003.0006, S. 10.
9 Ripsman, Norrin (2011): Neoclassical Realism, o. O., doi: 10.1093/acrefore/9780190846626.013.36, S. 9.
10 Ripsman, Norrin/Taliaferro, Jeffery/Lobell, Steven (2016): The Neoclassical Realist Research Paradigm and Its Indipendent Variable, in: Ripsman, Norrin/Taliaferro, Jeffery/Lobell, Steven: Neoclassical Realist Theory of Politics, New York: Oxford University Press, doi: 10.1093/acprof:oso/9780199899234.003.0006, S. 2.