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Hausarbeit, 2019
22 Seiten, Note: 1,0
1. Thema
2. Literaturbericht
3. Überblick über den INF-Vertrag
4. Theorien
4.1 Neorealismus
4.2 Konstruktivismus
5. Der Austritt aus dem INF-Vertrag aus neorealistischer und konstruktivistischer Sicht
5.1 Notwendige Abschreckung gegenüber Russland und China?
5.1.1 Erwiderung russischer Aufrüstung befreit von vertraglicher Einschränkung
5.1.2 Austritt als längst überfälliger Schritt zur Anwort auf wachsenden Einfluss Chinas
5.2 Schlechte Erfahrungen mit Russland?
5.2.1 Austritt als Reaktion auf Russlands anhaltenden Vertragsbruch
5.2.2 Austritt als ultima ratio der vertragstreuen USA
6. Fazit und Gründe für den Austritt der USA aus dem INF-Vertrag
Literaturverzeichnis
Laut der jüngsten Umfrage des Meinungsinstituts YouGov sehen 41% aller Deutschen unter den Regierungs- und Staatschefs Donald Trump, Wladimir Putin, Xi Jinping, Kim Jong-un und Ali Chamene‘i den amerikanischen Präsidenten als die größte Gefahr für den Weltfrieden an, Wladimir Putin dagegen nur 8% (vgl. Zeit 2019). Ein Grund dafür könnte in Trumps anhaltend aggressiver Rhetorik gegenüber anderen Staaten liegen. So drohte er dem nordkoreanischen Machthaber Kim, dass diesem und dessen Staat mit „fire, fury and frankly power, the likes of which this world has never seen before“ (Pramuk 2017) begegnet wird, oder sie komplett zu vernichten (vgl. Trump 2017). Nach dem Austritt der USA aus dem Intermediate-range Nuclear Forces (INF) Vertrag könnten Trumps Drohgebärden künftig leichter durchzusetzen sein, da mit dem New Strategic Arms Reduction Treaty (New-START) nur noch eine einzige völkerrechtliche Limitation des amerikanischen nuklearen Waffenarsenals existiert, welche aber 2021 auslaufen wird, und nach dem Streit um die Verantwortung für das Ende des INF-Vertrags eine Verlängerung des New-START unwahrscheinlich erscheint (vgl. Schaper 2019: 15). Fraglich ist also, ob die USA den INF-Vertrag tatsächlich mit der Intention aufgekündigt haben, in Zukunft mehr oder weniger uneingeschränkt ihre militärischen Kapazitäten aufrüsten und davon Gebrauch machen zu können, oder ob der Austritt lediglich eine Warnung an Russland darstellen und als Aufruf zur Schließung eines effektiveren Vertrags dienen soll (vgl. Pompeo 2019).
Als Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit ergibt sich damit die Frage, warum die USA aus dem INF-Vertrag ausgestiegen sind. Dieses Thema wird anhand zweier Theorien der internationalen Beziehungen zu beantworten versucht. Der Schwerpunkt der Arbeit wird dabei auf den Erklärungsansatz aus neorealistischer Perspektive gelegt, da diese mit Blick auf einen Vertrag, der eine quantitative Verringerung der militärischen Kapazitäten bzw. das Verbot des Tests und Stationierung bestimmter Waffen der zwei größten Nuklearmächte regelt, am geeignetsten erscheint. Zuvor sollen jedoch kurz der Inhalt des INF-Vertrags dargelegt und der Hintergrund seiner Entstehung erläutert werden, um so ein besseres Verständnis für aktuelle Entscheidungen der USA und die denen vorausgehenden Russlands in diesem Kontext zu vermitteln. Als Grundlage der Untersuchung werden die neorealistische Theorie John Mearsheimers und die konstruktivistische Theorie Alexander Wendts herangezogen, aus denen zur Beantwortung der Forschungsfrage jeweils eine Hypothese abgeleitet wird, die es dann im Hauptteil durch Analyse des Sachverhalts zu überprüfen gilt. Dazu werden Meldungen der offiziellen staatlichen Behörden der USA, Russlands und Chinas, Medien- und Presseberichte sowie wissenschaftliche Literatur aus den Bereichen der Politikwissenschaft und der Physik verwendet, in der zum Teil auch bereits vor Austrittserklärung der USA ein mögliches Ende des INF-Ver- trags prophezeit worden ist und damit schon Erklärungsansätze formuliert worden sind.
Der Schwerpunkt der Literatur liegt auf der Bedeutung des INF-Vertrags und den Auswirkungen seiner Aufkündigung für den europäischen Raum. Kujat (2018) geht vornehmlich auf die Frage ein, inwiefern der Vertrag auf Dauer Sicherheit in Europa garantieren kann, Misselwitz (2019) sieht diese durch das Ende des Vertrags in großer Gefahr und Rosefielde (2017) bemerkt, dass sich schon spätestens seit Russlands imperialistischen Einmischungen in Europa ein Ende des INF-Vertrags abgezeichnet habe. Richter (2019) zweifelt an der Eindeutigkeit der Motive der USA für deren Austritt und attestiert mit dem Ende des INF-Vertrags und den diesem vorausgehenden Entwicklungen im Bereich der globalen nuklearen Aufrüstung und Modernisierung auch das Ende der Hegemonie der USA, während Akbulut (2019) dies relativiert, indem er eine Schwächephase der USA hauptsächlich mit der Amtszeit Donald Trumps in Verbindung bringt. Des Weiteren ordnen Jewgeni (2019), Edmonds (2019) und Kühn (2019) das gegenseitige Aufkündigen des Vertrags in den sicherheitspolitischen Kontext beider Großmächte sowie Deutschlands ein und leisten so einen objektiven Beitrag zur Debatte. Gill (2019) und Ni (2019) beleuchten die Entwicklung der chinesischen Nuklearstrategie und fügen diese in den Zusammenhang der U.S. - China Beziehungen ein, wobei sie in jenen keine eindeutige Entwicklung hin zu einer Zu- oder Abnahme des Rüstungswettlaufs zwischen beiden Großmächten festmachen.
Bis zur beidseitigen Aufkündigung stellte der INF-Vertrag einen der wichtigsten Rüstungskontrollverträge der Nachkriegszeit dar. Im Rahmen des nuklearen Wettrüstens des Kalten Kriegs ersetzte die Sowjetunion ihr nukleares Waffenarsenal aus SS-4 und SS-5 Raketen durch die modernen SS-20 Mittelstreckenraketen, welche im Vergleich zu den älteren Vorgängern eine größere Reichweite von ihren europäischen Stationen aus vorwiesen und mehrere Sprengköpfe beherbergen konnten (vgl. Reif und Kimball 2019). Als Reaktion wurden in vielen europäischen NATO-Staaten amerikanische bodengestützte Marschflugkörper und Pershing II Raketen stationiert, welche ebenfalls mit nuklearen Sprengsätzen versehen waren (vgl. ebd.). Die immer mehr auszuufern drohende Eskalationsspirale führte vor allem innerhalb Europas zu massenweisen gesellschaftlichen Protesten gegen die sogenannte „atomare Diplomatie“ beider Großmächte und endete auch dank Gorbatschows Entgegenkommen an die USA in der Unterzeichnung des Intermediate-range Nuclear Forces (INF)-Vertrags durch die USA und die Sowjetunion am achten Dezember 1987 (vgl. Greiner 2019: 8). Dieser sah die Zerstörung und das fortdauernde Verbot sämtlicher in Europa stationierter Nuklearwaffen in Form von landgestützten Marschflugkörpern und Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern vor sowie die Entfernung und Abschaltung sämtlicher dafür notwendiger Anlagen und Ausrüstung (vgl. Greiner 2019: 4). Mit Inkrafttreten des Vertrags wurden insgesamt 2692 Kurz- und Mittelstreckenraketen beider Seiten zerstört (vgl. Reif/Kimball 2019).
Zur Beantwortung der Forschungsfrage werden die Theorieschulen des Neorealismus und des Konstruktivismus herangezogen. Erstere dient zur Analyse internationaler Politik vor allem unter dem Aspekt militärischer Macht, weshalb sich die Theorie des Neorealismus mit Blick auf die USA und Russland als zwei der militärisch mächtigsten Staaten besonders eignet. Die Theorie des Konstruktivismus wird verwendet, da die Beziehung zwischen den USA und Russland nicht nur durch die Erfahrungen aus gegenseitiger Interaktion mindestens seit dem 20. Jahrhundert geprägt worden, sondern gerade auch der INF-Vertrag Ausdruck der aus dieser Interaktion gewonnenen gemeinsamen Interessen ist.
John Mearsheimer geht in seinem Beitrag „Back to the Future: Instability in Europe after the Cold War“ von Anarchie im internationalen System aus, in der jeder Staat dem anderen gegenübersteht und aufgrund der Abwesenheit einer übergeordneten Instanz kein Schutz voreinander existiert (vgl. 1990: 12). Somit müsse sich jeder Staat jederzeit bewusst sein, dass ihn ein anderer aus denselben Überlegungen heraus militärisch angreifen oder sogar einnehmen kann (vgl. ebd.). Aus diesen beiden Annahmen folgt, dass „distribution and character of military power“ (a.a.O.: 6) die größte Determinante für die An- und Abwesenheit von Krieg darstellen und Staaten nun die zentralen Akteure in internationalen Beziehungen sind. Durch das Fehlen einer internationalen Ordnung bringen sich laut Mearsheimer Staaten aus Angst davor, ausgenutzt oder hintergangen zu werden, gegenseitig wenig Vertrauen entgegen und müssen zudem für ihre eigene Sicherheit, ihr Überleben, Sorge tragen (vgl. a.a.O.: 12). Somit gehe aus der Beschaffenheit des internationalen Systems als Anarchie das Interesse eines Staates an dessen Erhalt der Souveränität und Bewahrung seiner Sicherheit hervor (vgl. ebd.). Als Vertreter eines offensiven Neorealismus grenzt sich John Mearsheimer zu anderen Theoretikern des Realismus besonders durch die These ab, dass die Ausweitung bzw. Erweiterung militärischer Macht eines Staates zur Selbstverteidigung nicht absolut, sondern immer in Relation zu anderen Staaten erfolge, also nicht zwingend größtmögliche Stärke erreicht werden müsse, sondern an den militärischen Kapazitäten des Gegenübers gemessen werde (vgl. ebd.). So würde Aufrüstung ungeachtet der militärischen Macht des Gegners nicht notwendigerweise zu Sicherheit führen, da dieser durch die Aufrüstung seine eigene Macht als relativ geringer ansehen könnte und so entweder versuchen würde, den anderen wiederum zu schwächen oder selbst erneut aufzurüsten, um so seine eigene Position ihm gegenüber zu stärken. Einen der effektivsten Wege, internationalen Frieden zu schaffen, sieht Mearsheimer in Atomwaffen, da diese aufgrund ihrer Zerstörungskraft in der Lage seien, unterschiedliche und unproportionale Machtpositionen auszugleichen (vgl. a.a.O.: 32). Dies beruht auf der Ansicht, dass nicht nur die Verteilung der militärischen Macht ausschlaggebend ist, sondern auch ihre Art (vgl. a.a.O.: 13). Wenn Staaten einen Angriff planen, müssten sie die Verteilung der Macht zwischen sich und dem Angriffssubjekt einkalkulieren, auf die sich wiederum die Ausprägung der Macht maßgeblich auswirke (vgl. ebd.). Laut Mearsheimer halten Staaten dann von Aggression Abstand, wenn sie zu hohe Kosten oder Nachteile des Krieges aufgrund der großen zerstörerischen Wirkung der zur Abwehr oder Vergeltung des Angriffs gegen sie eingesetzten Waffen befürchten müssen (vgl. ebd.). Unter diesen Bedingungen biete ein bipolares System die größte Sicherheit, da nur zwischen zwei Großmächten ein militärisches Gleichgewicht geschaffen werden müsse - alle am Attribut militärischer Macht gemessenen unbedeutenderen Staaten schließen sich idealerweise bzw. gezwungenermaßen jeweils einer Großmacht an - und seltener die Gefahr bestehe, dass bei Maximierung der Macht des einen Staates die des anderen falsch eingeschätzt werde (vgl. a.a.O.: 14). Dagegen existieren in einem multipolaren System mehrere militärische Großmächte, wodurch die Wahrscheinlichkeit, dass Krieg zwischen diesen ausbricht, erhöht werde (vgl. ebd.). Zugleich könne auch Streit zwischen kleineren Staaten entstehen, da durch die Vielzahl an Großmächten keine klare Ordnung existiere (vgl. ebd.). Um sich gerade als militärisch schwacher Staat gegen den Angriff eines stärkeren zu schützen, müssen laut Mearsheimer zur Abschreckung Bündnisse mit einer Großmacht eingegangen werden (vgl. a.a.O.: 15). Hindernisse dafür, die Mearsheimer zwar am Beispiel der europäischen Staaten verdeutlicht, welche aber auch analog auf jede andere Allianzkonstellation anwendbar sind, stellen der Verlust von Autonomie und die Ungewissheit über den relativen Gewinn eines Staates dar, den dieser aus einem Bündnis zieht (vgl. a.a.O.: 47).
Aus dem Neorealismus John Mearsheimers ergibt sich demnach für das Thema der Arbeit die Hypothese, dass die USA den INF-Vertrag aufgekündigt haben, um auf den Vertragsbruch Russlands reagieren und so ebenfalls die eigenen amerikanischen Kapazitäten relativ gegenüber Russland aufrüsten sowie auch in Bezug auf Chinas wachsenden Einfluss sich von den Einschränkung des Vertrags befreien zu können.
Der Konstruktivismus wird als Mittelweg zwischen Realismus und Liberalismus verstanden, der untersucht, „how knowledgeable practices constitute subjects“ (Wendt 1992: 394). Dieser Prozess ist dadurch geprägt, dass Interessen und Identitäten, welche die Interaktion von Akteuren beeinflussen, aus dieser Interaktion heraus entstehen, also endogen sind (vgl. ebd.). Alexander Wendt vertritt in seinem Aufsatz „Anarchy Is What States Make of It: The Social Construction of Power Politics” die Auffassung, dass im Gegensatz zum Neorealismus Machtpolitik und Selbsthilfe nicht schon allein durch die Struktur des Systems, in dem sich Akteure befinden, der Anarchie, exogen bedingt werden, sondern aus den fortdauernden, auf Identitäten und Interessen basierenden Interaktionen innerhalb der Anarchie entstehen (vgl. a.a.O.: 394 f.), also „Anarchy is what states make of it“ (a.a.O.: 395). Er legt zugrunde, dass Handlungen zwischen Menschen durch deren Erwartungen an den und die Wahrnehmung des jeweils anderen bestimmt sind, und schließt, dass deshalb die Konzeption des Neorealismus von Anarchie alleine oder Machtverteilung innerhalb der Beziehung zwischen Akteuren keinen Aufschluss darüber geben kann, ob das Gegenüber freundlich oder feindlich eingestellt ist, und keine Vorgabe liefert, wie sich ein Akteur dem anderen gegenüber verhalten sollte (vgl. a.a.O.: 396 f.). Stattdessen sind nach dem Konstruktivismus die Überlegungen der Staaten durch die sogenannte „distribution of knowledge“ (a.a.O.: 397) bedingt, wobei die Strukturen, die dem Handeln zugrunde liegen, durch die intersubjektive Bedeutung der jeweiligen Ziele und Akteure gebildet werden (vgl. ebd.). Wendt definiert Identität als rollenspezifisches Selbstverständnis, gebündelt mit Selbsterwartungen (vgl. ebd.). Diese wiederum dienten als Grundlage für die Interessensbildung, welche abhängig vom jeweiligen Umfeld und den Umständen sei (vgl. a.a.O.: 398). Als Institution sieht Wendt ein Konglomerat aller Strukturen an, die sich aus Interessen und Identitäten zusammensetzen, an denen Akteure ihr Handeln ausrichten, wobei sich Institutionen und Identitäten gegenseitig bedingen (vgl. a.a.O.: 399). Eine Institution in Anarchie stelle jene Selbsthilfe dar, welche im Zuge der Identitätsausbildung vor allem auf eigene Sicherheit bzw. Beschützung des Akteurs abziele (vgl. ebd.) und somit in Anarchie noch nicht vorhanden sei, sondern erst durch diese hervorgehe. Daraus folgt, dass Handlungen aufgrund von Entscheidungen erfolgen, die Wahrscheinlichkeiten, also die potentiellen Ergebnisse von Interaktionen, einbeziehen (vgl. a.a.O.: 404). Hierbei sei die Ausbildung eigener Interessen und Identitäten am Verhalten des Gegenübers zu messen (vgl. a.a.O.: 408), wodurch Staaten als Akteure sich nur dann in einem „self-help system“ (a.a.O.: 407) befänden, wenn sie sich durch ihre Handlungen in dieses begäben. Existiere also ein feindliches Gegenüber, „alter must either define its security in self-help terms or pay the price.“ (a.a.O.: 408) Identitäten und Interessen bilden sich somit laut Wendt in Relation zum Verhalten der anderen Akteure, seltener aus eigenem Antrieb (vgl. ebd.). Er realisiert die rapide Weiterentwicklung unter anderem im Bereich der Nuklearwaffen als negativen Einflussfaktor auf die Interaktion zwischen Staaten, da diese nicht mehr die Vorteile einer Kooperation, sondern vermehrt die Furcht wahrnehmen, durch die wachsende Dichte in den Wechselbeziehungen gegenseitig immer weiter voneinander abhängig zu werden, was bei einseitiger Umsetzung zum eigenen Nachteil gereichen könnte (vgl. a.a.O.: 416). Kooperation definiert Wendt demnach als Ausdruck der Entscheidung von Akteur A, mit Akteur B zu kooperieren, wobei A unter Erwägung der negativen Folgen einer einseitigen Kooperation davon absieht, sollte B nicht kooperieren wollen (vgl. ebd.).
Aus dem Konstruktivismus Alexander Wendts ergibt sich damit mit Blick auf das Thema der Arbeit die Hypothese, dass die USA den INF-Vertrag aufgekündigt haben, da dieser Schritt auf den Erfahrungen mit Russland und der Interpretation der russischen Intentionen beruht.
Im folgenden Hauptteil der Arbeit wird zuerst die neorealistische und anschließend die konstruktivistische Hypothese auf ihre Plausibilität hin überprüft.
Legt man Mearsheimers Theorie zugrunde, stellt sich die Frage, ob der Austritt der USA aus dem INF-Vertrag tatsächlich vorgenommen wurde, um auf russische Aufrüstung zu reagieren und neue Möglichkeiten zur Abwehr einer größer werdenden chinesischen Dominanz zu nutzen.
Nachdem Donald Trump bereits im Oktober 2018 öffentlich einen Austritt aus dem INF-Ver- trag zur Sprache gebracht hatte (vgl. Simmons et al. 2018), erklärten die USA am zweiten Februar 2019 ihren Rücktritt, der mit einer sechsmonatigen Frist am zweiten August in Kraft trat (vgl. Pompeo 2019). Als Begründung verwiesen sowohl der Direktor des amerikanischen Nachrichtendienstes Daniel Coats bereits 2018 als auch Außenminister Michael Pompeo bei Stellungnahme zum Austritt auf Vertragsverletzungen Russlands (vgl. Coats 2018; Pompeo 2019). Inhaltlich beruhen die Vertragsverstöße russischer Seite auf der Produktion, der Durchführung von Testläufen und der Stationierung von Marschflugkörpern des Raketensystems vom Typus SSC-8 (vgl. Coats 2018) mit einer Reichweite von 2600 Kilometern (vgl. Richter 2019: 21). Damit fallen diese unter die Bestimmungen des INF-Vertrags, welcher jegliche Verwendung oder Tests ballistischer Geschosse mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern untersagt (vgl. Goldsmith 2019: 55). Ferner führte Coats (vgl. 2018) aus, dass der Vertragsbruch Russlands das Ziel verfolgt, ungehindert Raketen zu entwickeln, die essentielle militärische und wirtschaftliche Objekte europäischer Verbündeter in Gefahr bringen können, während gleichzeitig die USA durch die Regeln des INF-Vertrags daran gehindert sind, selbiges zu tun, womit die NATO und damit die USA unter Druck gesetzt werden und auch deren Sicherheitsinteresse unterminiert wird (vgl. Pompeo 2018; 2019). Hierbei sieht Colby (vgl. 2016: 5) besonders für den baltischen Raum eine reelle Bedrohung amerikanischer Interessen bzw. der Sicherheit der NATO. Die eingangs abgeleitete Hypothese für den Grund des Austritts spiegelt die Äußerungen der amerikanischen Verantwortlichen wider: Die USA wollen sich von den Verpflichtungen eines Vertrags entbinden, der sie daran hindert, auf Vertragsbrüche Russlands, die Entwicklung und Prüfung von Mittelstreckenraketen, auf die gleiche Weise zu reagieren (vgl. Kristensen 2018: 9; Pompeo 2019). Denn würden sie im INF-Vertrag verbleiben und sich damit an dessen Regelungen halten, wären sie „the only country in the world [...] that unilaterally refuses to build missiles that have a range of 500 to 5,500 kilometers“ (Cotton 2017: 49). Nun können sie - ohne den INF-Vertrag zu brechen - ihre militärischen Kapazitäten im Vergleich zu Russland erhöhen und die durch die russischen Verstöße gefährdete eigene Sicherheit und die ihrer Partner wieder etablieren.
Für diese Hypothese spricht erstens, dass die USA bereits wenige Wochen nach ihrer Austrittserklärung Pläne vorgelegt haben, denen zufolge im Zeitraum nach dem Austritt am zweiten August neue Raketen erprobt werden sollen (vgl. Taheran 2019: 21). Einen dieser Tests vollzogen die USA bereits zwei Wochen nach Inkrafttreten ihrer Kündigung, bei dem ein bodengestützter Marschflugkörper mit einer Reichweite von über 500 Kilometern vor der kalifornischen Küste abgeschossen wurde (vgl. Bugos 2019: 2). Zudem erklärte Verteidigungsminister Mark Esper (2019) noch am Tag des Austritts:
“Now that we have withdrawn, the Department of Defense will fully pursue the development of these ground-launched conventional missiles as a prudent response to Russia's actions and as part of the Joint Force's broader portfolio of conventional strike options.”
Die neuen Marschflugkörper setzen sich zum einen aus bodengestützten Abwandlungen der Tomahawk-Raketen zusammen, die eine Flugweite von bis zu 1000 Kilometern erreichen, und zum anderen aus ebenfalls bodengestützten Raketengeschossen mit einer Reichweite von 3000 bis 4000 Kilometern (vgl. Taheran 2019: 21). Damit würden die Tests und darauffolgende Verwendung ebenfalls unter die Verbotsnormen des INF-Vertrags fallen. Beide Raketentypen sind mobil einsetzbar, und während letztere voraussichtlich erst 2024 einsatzbereit sein werden, können erstere bereits innerhalb der nächsten eineinhalb Jahre verwendet werden (vgl. ebd.) und stellen somit gemessen an der längeren Einhaltung des INF-Vertrags durch die USA eine relativ schnelle Antwort auf die russische Aufrüstung dar. Zudem sollen ungebunden an Bestimmungen des INF-Vertrags im Rahmen des Programms „Long-Range Precision Fires“ (Kristensen 2018: 3) Raketen mit einer Reichweite von bis zu 1600 Kilometern produziert und bis 2023 einsatzbereit gemacht werden (vgl. Suits 2019; Defense Daily: Beinart 2019). Weitere Entwicklungen im Bereich der Marine unter dem Namen „Next Generation Land Attack Weapon“ (Kristensen 2018: 3) sind zwar nicht unmittelbar auf die Deregulierung durch das Ende des INF-Vertrags zurückzuführen, da dieser nur landgestützte Systeme erfasst (vgl. Bange 2016: 70), unterstreichen aber trotzdem den amerikanischen Gedanken der Aufrüstung und des Strebens nach mehr Sicherheitsgarantien in Form von militärischen Kapazitäten.
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