In dieser Arbeit soll die Frage untersucht werden, inwiefern Viktor Orbán die antisemitische Verschwörungstheorie des
„Brüsseler Plans“ als Werkzeug für die Illiberalisierung Ungarns nutzt. Als theoretischer Vorbau für die Analyse der Theorie wurde sich in dieser Arbeit für den Diskurshistorischen Ansatz nach Ruth Wodak entschieden, da es dieser ermöglicht, Aussagen in einem breiteren Kontext zu verstehen und zu deuten. In der Folge werden zunächst der Diskurshistorische Ansatz selbst zusammengefasst, um im nächsten Schritt die Verschwörungstheorie des Brüsseler Plans darzustellen, dessen Nutzen im dritten und letzten Aspekt im Sinne der Illiberalisierung Ungarns gedeutet und erklärt wird.
Gliederung
1. Einleitung
2. Hauptteil
2.1 Betrachtung des theoretischen Fundaments: Der Diskurshistorische Ansatz (DHA)
2.2 Inhaltsanalyse: Die Verschwörungstheorie des Brüsseler Plans
2.2.1 Orbans Ungarn als Bewahrer der christlichen Identität Europas
2.2.2 Der Brüsseler Plan zur Vernichtung des Primats des Christentums
2.2.3 George Soros als Drahtzieher des Brüsseler Plans
2.3 Zwischenüberlegung: Antisemitismus oder Machtpolitik?
2.4 Der Brüsseler Plan alsWerkzeug Orbansfür die Illiberalisierung Ungarns
2.4.1 Die antisemitische Konstruktioneines Feindbilds
2.4.2 Selbstlegitimation und Delegitimierung zur Schaffung eines „Wir“ und „Die“
2.4.3 Orbans (Miss-)Interpretation der liberalen Idee
3. Zusammenfassung und Schluss
1. Einleitung
Als offensichtlich wurde, dass der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban den politischen Nebelschleier der Corona-Krise für sich und seine politischen Zwecke nutzen würde, war die Aufregung in Europa groß. Am 30. März dieses Jahres verabschiedete das ungarische Parlament ein Notstandsgesetz, das Orban dazu ermächtigte, mittels Dekreten in Krisenzeiten ohne parlamentarische Kontrollfunktion zu regieren.1 Die Kritik der Opposition lautetevor allem, dass das Gesetz keine zeitliche Befristung vorsieht, Orban also mit seinen gewonnenen Sondervollmachten das Parlament und damit letztlich auch die ungarische Gewaltenkontrollebis auf Weitereseinschränkenlässt.2 EVP-Fraktionsvorsitzender Donald Tusk forderte indes jüngst in einem offenen Brief an die Mitgliedsparteien der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament den Ausschluss der Orban angehörigen Fideszaus der konservativen Fraktion.Dabei gehören illiberale Maßnahmen seit der erneuten Machtübernahme Orbans im Jahr 2010 fast zur Tagesordnung, so beschreibt Osteuropa-Politologe Kai-Olaf Lang die Politik Ungarnsvor allem seit 2015 als eine „der konsequenten Machtkonzentration“, in der „Anliegen des minoritären Gegners weitgehend unberücksichtigt“3 blieben.Auch die Ausschlussambitionen gegenüber der Fidesz-Partei innerhalb von Teilen der EVP bestehen nicht erst seit diesem Jahr. Als im Vorfeld der Europawahlen 2019 Orban mit einer groß angelegten Plakatkampagne gegen den US-amerikanischen Philanthropen ungarischer Herkunft George Soros wetterte, wurden neben der europafeindlichen Haltung Vorwürfe des Antisemitismus laut, was eine unmittelbare Suspendierung der Fidesz-Partei aus der konservativen Fraktion des Europäischen Parlaments nach sich zog.4 Soros wird hierbei mit dem ehemaligen Präsidenten der europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, spitzbübisch grinsend und mit einer überproportional großen Nase dargestellt,5 die Bildunterschrift lautet: „Auch Sie haben ein Recht darauf zu wissen, was Brüssel plant!“6 Dabei wirft der ungarische Ministerpräsident Soros bereits seit Längerem vor, für die Migration von Flüchtlingen nach Europa verantwortlich zu sein - und nutzt dabei „Topoi des klassischen Antisemitismus“.7 8 9 Dass solch antisemitische Ausfälle in Orbans Denken, Rhetorik und Verhalten keine bloßen Zwischenfälle sind, belegen zahlreiche Beispiele. So strich er unter anderem Werke des ungarischen jüdischen Schriftstellers Imre Kertész aus Lehrplänen zugunsten von antisemitischer Literatur,[89] auch bemühte sich Orban in der Vergangenheit um die Rehabilitierung des mit den Nationalsozialisten kollaborierenden , Reichsverweser' und Kriegsverbrecher Miklós Horthy.10 Vor allem aber wird Orbans Antisemitismus in seinen zahlreichen Reden transparent, wo er sich in einer Verschwörungstheorie manifestiert, die George Soros als Organisator der europäischen Flüchtlingsmigration inszeniert. Dabei soll in dieser Arbeit die Frage untersucht werden, inwiefern Viktor Orban die antisemitische Verschwörungstheorie des „Brüsseler Plans“ als Werkzeug für die Illiberalisierung Ungarns nutzt. Als theoretischer Vorbau für die Analyse der Theorie wurde sich in dieser Arbeit für den Diskurshistorischen Ansatz nach Ruth Wodak entschieden, da es dieser ermöglicht, Aussagen in einem breiteren Kontext zu verstehen und zu deuten.11 In der Folge werden zunächst der Diskurshistorische Ansatz selbst zusammengefasst, um im nächsten Schritt die Verschwörungstheorie des Brüsseler Plans darzustellen, dessen Nutzen im dritten und letzten Aspekt im Sinne der Illiberalisierung Ungarns gedeutet und erklärt wird.
2. Hauptteil
2.1 Betrachtung des theoretischen Fundaments: der Diskurshistorische Ansatz (DHA)
Der Diskurshistorische Ansatz (DHA) von Ruth Wodak als „Wiener Spielart der Kritischen Diskursanalyse"12 (KDA) wurde zunächst in den achtziger Jahren im Rahmen der Affäre um den ehemaligen österreichischen Bundespräsidenten und UN-Generalsekretär Kurt Waldheim entwickelt und leistete im Zuge dessen einen wesentlichen Beitrag zur Analyse des Nachkriegsantisemitismus in Österreich.13
Ziel des DHA ist es, Aussagen in einem bestimmten Kontext zu betrachten und zu analysieren.14 Wodaks Ansatz geht davon aus, dass sich jede Aussage in einem konkreten Kontext befindet und Verknüpfungen zu anderen Äußerungen im selben Text existieren.15 Diese Äußerungen wiederum sind mit anderen Äußerungen „intertextuell vernetzt“, der Text steht somit in einem „breiteren sozio-politischen Kontext, der eine historische Dimension besitzt“.16 17 18 Aussagen, egal welcher Form, sind also in bestimmte historische, politische oder soziokulturelle Rahmenbedingungen gebettet, ohne deren Einbeziehung getätigte Aussagen nicht vollumfangreich zu erfassen sind.[1718]
Als wesentliches Konzept des Diskurshistorischen Ansatzes hinsichtlich seiner Ursprungs in der Kritischen Theorie gilt die Rolle der Kritik, die jedoch weniger als „ausschließlich negative Bewertung des jeweiligen sozialen Phänomens“, sondern mehr als „das kontinuierliche In-Frage-Stellen von selbstverständlich Angenommenen [sic!], um regelmäßiges Hinterfragen von bislang Unhinterfragten [sic!]“19 verstanden wird. Dabei versucht der DHA, die kritische Betrachtung auf vier Kriterien zu begrenzen: Diskurs, Text, Genre und Aktionsbereich.20 Diskurse stellen hiernach die „Gesamtheit aller bedeutungsstiftenden [diskursiven] Ereignisse mit inhaltlichem Bezug zu einem bestimmten Thema“21 dar. Diskurse erzeugen Texte, die wiederum verschiedenen Genres zugeordnet werden.22 Das Aktionsfeld schließlich ist der breitere strukturelle Kontext, in dem sich Diskurs, Text und Genre befinden.23
Methodisch wird zwischen drei Analysedimensionen unterschieden: der inhaltlichen, argumentativen und sprachlichen Dimension. Während in der inhaltlichen Dimension der intertextuelle Kontext im Vordergrund steht und damit eine Analyse von mehreren Texten im selben Diskurs erforderlich wird,24 sollen in der argumentativen und sprachlichen Dimension Strategien und Topoi auf der einen bzw. sprachliche Realisierungsmittel und -formen auf der anderen Seite mehr intratextuell erfasst werden.25
Innerhalb der Analysedimensionen arbeitet der DHA verschiedene vom Autor (oder im vorliegenden Fall vom Sprecher) angewandte Strategien heraus. Strategien werden hier verstanden als „bewusste oder unbewusste Textplanung“26, mittels welcher Ziele beispielsweise politischer Natur erreicht werden sollen.27 In diesem Fall bieten sich die von Wodak vorgeschlagenen Strategien zur „positive selfpresentation and the negative presentation of others“28 an:29
Referentielle Strategien schaffen und benennen soziale Akteure. Bezweckt wird hiermit beispielsweise eine Konstruktion von In- und Outgroups über rhetorische Werkzeuge wie Metaphern und Metonymien.
Bei prädikativen Strategien werden soziale Akteure mithilfe wertender Attribute ins positive bzw. negative Licht gerückt.
Argumentative Strategien/Topoi dienen zur Rechtfertigung der negativen Charakterisierung von Akteuren. Topoi sind dabei „inhaltsbezogene Schlussfolgerungsregeln, die ein oder mehrere Argumente mit der Schlussfolgerung verknüpfen [obligatorisch explizite oder erschließbare Prämissen im Rahmen der Argumentation]“30. In diesem Diskurs gängige Topoi sind beispielsweise der Topos von Recht und Ordnung („Wenn ich/wir die Macht haben, dann garantiere/n ich/wir für Recht und Ordnung“) oder der Bedrohungstopos („wenn eine Gefahr besteht oder naht, dann muss man sich wehren und ihre Ursachen bekämpfen“31 ).
Strategien der Diskursrepräsentation und der Perspektivierung geben Auskunft über die Involvierung des Sprechers in den Diskurs. Dies geschieht über die Vertretung des eigenen Standpunkts mithilfe von Beschreibung, Zitation usw. relevanter getätigter Äußerungen.
Zuletzt verfolgen intensivierende bzw. marginalisierende Strategien den Zweck, getätigte Äußerungen abzuschwächen bzw. weiter zu verstärken.
In der vorliegenden Arbeit wird der politische antisemitische Diskurs anhand von verschiedenen Redetexten Orbans (Text) im gleichnamigen Genre untersucht. Als Aktionsfeld gelten alle soziokulturellen, politischen und historischen Rahmenbedingungen, in die die Reden eingebettet sind. Der Fokusder inhaltlichen Dimension liegt auf dem in der Folge dargestellteninhaltlichen Analyse von Orbans Verschwörungstheorie des „Brüsseler Plans“. Im dritten und letzten Obergliederungspunkt hingegen wird das bis dahin erarbeitete inhaltliche Fundament methodisch untersucht und interpretiert.
2.2 Inhaltsanalyse: die Verschwörungstheorie des Brüsseler Plans
Um die Verschwörungstheorie des Brüsseler Plans umfänglich begreifen zu können, muss zunächst die Rolle Ungarns sowie der Europäischen Union dargestellt werden.Der offene Antisemitismus steht vor allem in Bezug auf George Soros, dessen Funktion im dritten Teil der Inhaltsanalyse erklärt wird.
[...]
1 Löwenstein, S., Gutschker, T.: Ungarn verabschiedet umstrittenes Notstandsgesetz, in: faz.net v. 30.03.2020, publiziert unter: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/corona-ungarn- verabschiedet-umstrittenes-notstandsgesetz-16703780.html [zuletzt geprüft am: 08.06.2020]
2 Peter Balazs im Gespräch mit Silvia Engels (2020): Neues Notstandsgesetz in Ungarn. Orban nutzt die Situation zur „Ausdehnung der Macht“ aus, in: deutschlandfunk.de v. 31.03.2020, publiziert unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/autor-ueber-viktor-orbans-lehrplanreform- ich-glaube-er-wird.1013.de.html?dram:article id=471972 [zuletzt geprüft am: 02.06.2020]
3 Lang, K.-O.: Ungarn: demokratischer Staatsumbau oder Autokratie?; innere Merkmale und außenpolitische Folgen des Systems Orban. (SWP-Aktuell, 6/2015). Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik -SWP-Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit (2015), s.3
4 EVP suspendiert Fidesz-Partei von Viktor Orban, in spiegel.de v. 20.03.2019, publiziert unter: https://www.spiegel.de/politik/ausland/evp-suspendiert-fidesz-partei-von-victor-orban-a- 1258870.html [zuletzt geprüft am: 02.06.2020]
5 Matthias Krupa (2019): Dann ohne ihn, in: zeit.de v. 28.02.2019, publiziert in: https://www.zeit.de/2019/10/viktor-orban-antisemitismus-evp-europaeische-volkspartei-fidesz- ausschluss-ungarn [zuletzt geprüft am 02.06.2020]
6 Bild: siehe Anhang
7 Matthias Krupa (2019): Dann ohne ihn
8 Droste, W (2020): Ungarns Schüler müssen jetzt faschistische Literatur lesen, in: derBund.de v. 02.03.2020, publiziert unter: https://www.derbund.ch/kultur/buecher/ungarns-schueler-muessen- jetzt-faschistische-literatur-lesen/story/18538906 [zuletzt geprüft am: 02.06.2020]
9 Peter Balazs im Gespräch mit Silvia Engels (2020): Neues Notstandsgesetz in Ungarn. Orban nutzt die Situation zur „Ausdehnung der Macht“ aus, in: deutschlandfunk.de v. 31.03.2020, publiziert unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/autor-ueber-viktor-orbans-lehrplanreform- ich-glaube-er-wird.1013.de.html?dram:article id=471972 [zuletzt geprüft am: 02.06.2020]
10 Verseck, Keno (2017): Orban wagt den Tabubruch, in spiegel.de v. 26.06.2017, publiziert unter: https://www.spiegel.de/politik/ausland/orban-wagt-den-tabubruch-und-wuerdigt-hitler- verbuendeten-miklos-horthy-a-1154518.html [zuletzt geprüft am 07.06.2020]
11 Wodak, R.: Diskursanalyse. In: C.Wagemann et al. (Hrsg.): Handbuch Methoden der Politikwissenschaft, Springer Reference Sozialwissenschaften (2019), vgl. s.9
12 Nonhoff M.: Diskursanalyse und/als Kritik. In: Diskursanalyse und Kritik v. Langer A., Nonhoff M., Reisigl, M. (Hrsgb.). Springer VS. Paderborn (2019) (s.17)
13 Wodak, R.: Diskursanalyse (2019), vgl. s.9
14 ebd.
15 Ebd. S. 9-10
16 Ebd.,
17 Wodak, R., & Köhler, K.: Wer oder was ist "fremd"? Diskurshistorische Analyse fremdenfeindlicher Rhetorik in Österreich. SWS-Rundschau (2010), 50(1), s.33-55, hier: vgl. s.35
18 Ebd, vgl. S.36
19 Wodak, R.: Diskursanalyse (2019), s.9
20 Barna, I., Kovacs, A.: Religiosity, Religious Practice, and Antisemitism in Present-Day Hungary, in: Religions 10 (9/2019), vgl. s.19
21 Wodak, R.: Diskursanalyse (2019), s.5,9
22 Wodak, R., & Köhler, K.: wer oder was ist „fremd“? Diskurshistorische Anaylse fremdenfeindlicher Rhetorik in Österreich (2010), vgl. s. 36
23 Glynos, J., Howarth D., Norval A., Speed E.: Discourse Analysis: Varieties and Methods. ESRC National Centre for Research Methods Review paper (2009), vgl. s.19
Wodak, R., & Köhler, K.: wer oder was ist „fremd“? Diskurshistorische Anaylse fremdenfeindlicher Rhetorik in Österreich (2010), s.36
25 Wodak, R. Diskursanalyse (2019), vgl. s.10
26 ebd., s.11
27 Wodak, R. (2009). The semiotics of racism: A critical discourse-historical analysis. Discourse Of Course, Chapter Ruth Wodak, vgl. s.8
28 Ebd. (s.8)
29 Zu Strategien der positive self-presentation and negative presentation of others: ebd. (vgl. s. 8
9), Wodak, R.: Diskursanalyse (2019), vgl. s.11
30 ebd.^s.11
31 Siehe hierzu: wichtige Topoi im rechtspopulistischen Diskurs. In: Wodak, R.: Diskursanalyse (2019), s.15