Eins der bekanntesten Märchen unserer Zeit ist "Sneewittchen", welches die Brüder Grimm veröffentlichten. Es scheint allzu einfach, die Eigenschaften "gut" und "böse" auf die zentralen Figuren zu verteilen. So sehen wir Schneewittchen als eine Sympathieträgerin, die sich den Bedrohungen ihrer bösen Stiefmutter stellen muss.
Betrachtet man die beiden Figuren jedoch genauer, können wir feststellen, dass beide aus den gleichen Motiven heraus handeln: Sie wollen begehrt werden. Dies impliziert die Frage, inwiefern innerhalb der Konkurrenzsituation im Märchen "Sneewittchen" durch den Text Sympathie und Legitimität auf die beiden Figuren Stiefmutter und Stieftochter verteilt werden.
In der Arbeit wird herausgearbeitet, mit welchen Mitteln es der Text schafft, dass wir auf der einen Seite so klar in unserem Urteil sind und uns jedoch auf der anderen Seite gar nicht fragen, warum es offensichtlich ein "illegitimes" und "legitimes" Begehren gibt. Dazu werden zunächst die Figur der Stiefmutter und ihre Motive genauer betrachtet, um im Anschluss einen Blick auf die Konkurrenzsituation von Protagonistin und Antagonistin zu werfen. Hierbei wird zum einen kurz auf den Ödipuskomplex geschaut und zum anderen genauer auf die Mittel des Textes eingegangen. Zuletzt wird ein Resümee formuliert, welches zusätzlich eine Bewertung des Frauenbildes umschließt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Figur der Stiefmutter und ihre Motive
3. Die Konkurrenzsituation
3.1 Strukturen des Ödipuskomplexes
3.2 Mit welchen Mitteln arbeitet der Text?
4. Resümee
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Eins der bekanntesten Märchen unserer Zeit ist „Sneewittchen“, welches die Brüder Grimm in deren berühmter Märchensammlung „Kinder- und Hausmärchen“ veröffentlichten. Obwohl die Herausgabe der Märchensammlung schon über 150 Jahre zurückliegt, verbinden wir das Märchen heute noch mit den Brüdern Grimm. Die beiden Autoren stellen historisch betrachtet einen „Angelpunkt in der Geschichte des Märchens“ (Karlinger 1988: 47) dar, was ihre immer noch gegebene Präsenz begründet.
Die Märchen der Brüder Grimm gelten als Volksmärchen, die gerade durch die Behandlung menschlicher Probleme, wie die sexuelle Reifung oder dem Geschlechter- bzw. Rollenverhalten, weltweit Anklang finden und ein breites Publikum ansprechen (vgl. Neuhaus 2005: 7).
Volksmärchen leben bis heute mit dem Mythos der mündlichen Tradierung (vgl. Neuhaus 2005: 3). Darüber hinaus gibt es weitere Merkmale, die im Vergleich zum Kunstmärchen, charakteristisch für Volksmärchen stehen. Nennenswert sind hierbei die einsträngige Handlung, Orts- und Zeitungebundenheit, stereotype Schauplätze oder ein Happy-End (vgl. Neuhaus 2005: 9). Auch gibt es eindimensionale Charaktere, bei denen keine Psychologisierung stattfindet, um im Zuge dessen eine klare Aufteilung der Merkmale „gut“ und „böse“ hervorzubringen.
In Hinblick auf das Märchen „Sneewittchen“ scheint es allzu einfach, die Eigenschaften „gut“ und „böse“ auf die zentralen Figuren zu verteilen. So sehen wir Schneewittchen als eine Sympathieträgerin, die sich den Bedrohungen ihrer bösen Stiefmutter stellen muss.
Betrachtet man die beiden Figuren jedoch genauer, können wir feststellen, dass beide aus den gleichen Motiven heraus handeln: Sie wollen begehrt werden. Dies impliziert die Frage, inwiefern innerhalb der Konkurrenzsituation im Märchen „Sneewittchen“ durch den Text Sympathie und Legitimität auf die beiden Figuren Stiefmutter und Stieftochter verteilt werden. Im Folgenden wird herausgearbeitet, mit welchen Mitteln es der Text schafft, dass wir auf der einen Seite so klar in unserem Urteil sind und uns jedoch auf der anderen Seite gar nicht fragen, warum es offensichtlich ein „illegitimes“ und „legitimes“ Begehren gibt.
Dazu wird zunächst die Figur der Stiefmutter und ihre Motive genauer betrachtet, um im Anschluss einen Blick auf die Konkurrenzsituation von Protagonistin und Antagonistin zu werfen. Hierbei wird zum einen kurz auf den Ödipuskomplex geschaut und zum anderen genauer auf die Mittel des Textes eingegangen. Zuletzt wird ein Resümee formuliert, welches zusätzlich eine Bewertung des Frauenbildes umschließt.
2. Die Figur der Stiefmutter und ihre Motive
Betrachtet man die Figuren, welche als Eltern in den Märchen fungieren, sind durchaus geschlechterspezifische Unterschiede zu erkennen. Dabei wird nicht nur zwischen Mutter und Vater unterschieden, sondern darüber hinaus auch eine Abgrenzung zur Figur der Stiefmutter vorgenommen.
Das Verhalten der leiblichen Mütter bewertet Müller als „ausschließlich positiv oder zumindest ambivalent“ (Müller 1986: 67). Hierbei dominieren Motive wie die Fürsorge oder zu entschuldigende Motive wie Unachtsamkeit oder Ungeduld, die zumeist durch Gefühle beeinflusst werden. Erwähnenswert ist darüber hinaus, dass auch die als negativ anzusehenden Motive den Müttern nachgesehen werden (vgl. Müller 1986: 68). Müller stellt folgend die These auf, dass „die Brüder Grimm die leibliche Mutterschaft als einzig wahre und gute Mutterschaft“ sehen (Müller 1986: 74).
Auch bei den Handlungsgründen der Väter steht vor allem die Fürsorge im Mittelpunkt, als auch Pflichterfüllung und Verantwortung, wobei im Kontext dieser Ausarbeitung die Vaterfigur nicht weiter betrachtet wird.
Im Gegensatz zur Rolle der leiblichen Mutter sind die Motive der Stiefmutter in der Grimmschen Märchensammlung laut Müller ausschließlich negativ zu bewerten. Nach Untersuchung von 17 Motiven von Stiefmüttern, die Handlungen im Märchen auslösen, sind „die Mehrheit böse, sie begehen Verachtenswertes und werden bestraft“ (Müller 1986: 64). Bei „Sneewittchen“ finden wir in herausstechender Form die Motive Stolz, Neid und Hass, welche die Handlungen des Märchens initiieren.
Gerade der Neid ist bei der Antagonistin in besonderem Maße ausgeprägt. Die Psychologin Joyce Brothers bezeichnet Neid als „eine Schwäche, die wir alle miteinander teilen und am wenigsten zuzugeben wagen“ und fügt hinzu, dass dieser als ein Hauptgrund für Unzufriedenheit gilt (vgl. Cohen 1988: 28). Zusätzlich empfinden wir Scham gegenüber diesem Gefühl, was dazu führt, dass es keinerlei gesellschaftliche Anerkennung erlangt und als tugendlos gilt.
Die Frage „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“ tritt im Laufe des Märchens wiederholt auf, sorgt bei der Königin für einen sich steigernden Neid und infolgedessen ein Gefühl des Hasses gegenüber ihrer Stieftochter. Das Märchen zeigt uns so einen extrem negativen Umgang mit dem handlungstreibenden Motiv „Neid“, welcher dafür sorgt, dass die Antagonistin die Protagonistin töten will.
3. Die Konkurrenzsituation
„Konkurrenz entsteht, wenn Güter oder soziale Positionen knapp sind und die Interaktionsteilnehmer versuchen, ihren Bedarf auf Kosten anderer zu befriedigen. Hierdurch kommt es zu Wettbewerbsverhalten mit dem Bestreben, andere zu übertreffen.“ (Vogt 2015: 193).
Orientieren wir uns an dieser Definition von Markus Vogt, welche die soziale Dynamik des Konkurrenzverhaltens beschreibt, kann man annehmen, dass sich die Konkurrenzsituation in „Sneewittchen“ aus der Begierde nach einer sozialen Position speist. Dabei handelt es sich um die Position an der Seite von Schneewittchens Vater, dem Mann ihrer Stiefmutter. Die Figur des Vaters oder Ehemanns ist jedoch in diesem Märchen kaum präsent, was vermuten lässt, dass die Konkurrenzsituation nicht ausschließlich mit seiner Person in Verbindung steht.
Viel mehr entsteht die uns vorliegende Konkurrenzsituation dadurch, dass die Stiefmutter Neid empfindet, nachdem ihr ihr Spiegel sagt: „Frau Königin, ihr seid die schönste hier, aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als ihr“ (Brüder Grimm 1980: 258). In diesem Fall ist die Schönheit für sie das höchste, begehrenswerteste Gut.
Um die zuletzt genannten Verständnisse zu verknüpfen, kann die Interpretation angeführt werden, in welcher der Spiegel als ein Symbol für die Liebe des Vaters steht (Duff 1969: 91). Die Stiefmutter möchte die Liebe des Vaters durch ihre Schönheit an sich binden und lebt fortan mit der Furcht, dass die Schönheit von Schneewittchen, die ihre übertrifft, dafür sorgen wird, dass die Liebe des Vaters abnimmt und sie zuletzt ihre soziale Position als Frau des Königs verliert. Die Schönheit, die sie begehrenswert macht, ist ihr höchstes Gut, was ab diesem Zeitpunkt in Gefahr ist. Somit gibt das Märchen den „uralten Konflikt zwischen Tochter und Mutter um den Vater wieder [...]“ (Duff 1969: 91).
Die Rivalität von Protagonistin und Antagonistin, die sich innerhalb des Märchens entwickelt, unterstellt sich vor allem Vergleichen. „Rivalen“ sind in diesem Fall „das Kindliche und das Erwachsensein, das Vielheitliche und die Vereinheitlichung, das Gleiche und die Steigerung (besser, schöner).“
[...]