Die Arbeit nimmt die Wechselwirkungen zwischen der russländisch-imperialen Nationalitätenpolitik und der aufkommenden ukrainischen Nationalbewegung vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Revolution von 1905 in den Blick. Dabei wird sich die Untersuchung vor allem in dem sich gegenseitig beeinflussenden Dreiecksverhältnis zwischen russländisch-imperialer Autokratie, polnischen Autonomiebestrebungen und der ukrainischen Nationalbewegung bewegen. Besonderes Augenmerk wird auf den Zeitraum zwischen den beiden polnischen Aufständen 1830/31 und 1863/64 gelegt, da in diesen rund drei Jahrzehnten die „kleinrussische“ Nationalbewegung entscheidende Fortschritte machen sollte.
Die Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel, wovon die ersten beiden Kapitel in das Thema einführen: Kapitel 1 enthält die Einleitung, Kapitel 2 die historischen Voraussetzungen für die weitere Bearbeitung der Forschungsfrage. Kapitel 3 behandelt den Zeitraum von 1800 bis zum Tod von Zar Nikolaus I. und umfasst somit die Zeitspanne vom Wiener Kongress bis zum Novemberaufstand. Ein eigenes Unterkapitel widmet sich dem zivilisatorischen Diskurs zwischen Groß- und Kleinrussen als Teil der Wahrnehmung zwischen Zentrum und Peripherie. Die zweite Hälfte des dritten Kapitels behandelt die Zeit des „Kiewer Experiments“ der 1830er bis in die 1850er Jahre, als unter imperialer Obhut die „kleinrussische Bewegung“ als Vehikel gegen die Polen gefördert wurde. Das Kapitel schließt mit dem Beginn der 1850er Jahre ab. In Kapitel 4 wird die Zeit nach dem Krimkrieg, den Großen Reformen und vor allem nach der Erschütterung des Januaraufstandes bearbeitet, in dessen Nachklang auch die ukrainische Bewegung zum Ziel der autokratischen Repressionspolitik werden sollte. In Kapitel 5 wird ein Fazit gezogen und ein Ausblick auf die Revolution von 1905 gegeben.
Inhaltsverzeichnis
1. Der imperiale Nationalismus im russländischen Reich
1.1 Die Handlungslogiken eines multiethnischen Imperiums im Langen 19. Jahrhundert: Das Entstehen der Nationalbewegungen als Herausforderung
1.2 Forschungsstand und Präliminarien 3
2. Voraussetzungen: Zur Genese des Imperiums im 18. und 19. Jahrhundert
2.1 Das russländische Imperium von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert
2.1.1 Die Ausweitung des russländischen Imperiums im Westen: Von der linksufrigen Ukraine zum Königreich Polen
2.1.2 Die Infragestellung der imperialen Hegemonie im Westen des Reiches:
Die polnischen Aufstände 1830/31 und 1863/1864
2.2 „Wenn wir wollen, dass alles bleibt wie es ist, dann ist nötig, dass sich alles verändert“: Die großen Reformen und der Weg in die moderne Gesellschaft 15
3. Vom Beginn des Langen 19. Jahrhunderts bis zum Tod von Nikolaus I.
3.1 Die ersten Gehversuche der kleinrussischen Nationalbewegung im russländ-
ischen Imperium
3.1.1 Vom Kosakenhetmanat zum Teil des Imperiums: Die Ukraine von 1770
bis 1830
3.1.2 Barbarische Kleinrussen und zivilisierte Großrussen? Zum imperialen
Diskurs zwischen Zentrum und Peripherie im Reich
3.2 Die Zeit zwischen November- (1830/31) und Januaraufstand (1863/64)
3.2.1 Die Wurzeln des Kiewer Experiments in den südwestlichen Gouverne-
ments des russländischen Imperiums
3.2.2 Die proukrainische Bewegung nach dem Novemberaufstand: Die Gesell-
schaft des heiligen Kyrill und Method
4. Zwischen Liberalismus, Insurrektionalismus und Repression: Vom Beginn
der Regierungszeit Zar Alexanders II. bis zum fin die siècle
4.1 Der Amtszeitbeginn Alexander II.: Der „Zar-Befreier“ und die Kleinrussen
4.1.1 Die ukrainische Bewegung in den ersten Jahren unter Alexander II. und
das imperiale Regime nach dem Januaraufstand 1863/64
4.1.2 Autokratische Revisionspolitik in der Postaufstandsperiode: Vom Valuev-Zirkular über den Emser Erlass zum Ende des Jahrhunderts
4.2 Fragen der Abgrenzung: Wie lösen sich die Ukrainer von den Großrussen?
4.3 Wo stand die ukrainische Nationalbewegung am fin de siècle? 46
5. Schlussbetrachtung: Die ukrainische Bewegung im Zarenreich
5.1 Die ukrainische Bewegung im Reich: Zwischen Selbstfindung und Repression
5.2 Die Revolution von 1905: Ein Ausblick auf eine verpasste Chance?
I. Literaturübersicht
II. Quellenübersicht
1. Der imperiale Nationalismus im russländischen Reich
Im Jahr 1853 sah sich die Petersburger Autokratie dazu veranlasst, ein Schreiben an Vertreter der Kiewer Bürokratie zu adressieren, in dem imperiale Vertreter ihre Besorgnis über die Aktivitäten der an der Kiewer Universität ansässigen Kommissionen zum Ausdruck brachten. Die in den 1840er Jahren von Dmitri Bibikow, seinerseits Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien, geförderten Kommissionen und Gesellschaften zur Erforschung der kleinrussischen Kultur und Geschichte, deren selbsterklärte Aufgabe es war, das „wahre“ Kiewer Erbe aus dem verderblichen Einfluss der polnischen Kultur zu befreien, hatten sich bis dato in der Hand der Autokratie als ein wichtiges Werkzeug im Kampf gegen den polnischen Katholizismus und polonisierten Adel in der rechtsufrigen Ukraine erwiesen. Doch in den frühen 1850er Jahren drohten die geschichtsbegeisterten Protagonisten des „Kiewer Experiments“ den Bogen zu überspannen: Die Mitglieder der Kommission, die in ihrer Begeisterung für kleinrussisches Brauchtum, bäuerliche Trachten und orthodoxe Kirchengeschichte zunächst eine beruhigende Harmlosigkeit ausgestrahlt hatten, konzentrierten sich zusehends auf eine populistische, gar radikale Interpretation der kleinrussischen Geschichte. Die innerhalb der Kommissionen zunehmende Verehrung des früheren Hetman Bohdan Chmel'nyc'kyj und die Betonung der kulturellen Eigenheiten der Kleinrussen, darüber hinaus die latente Bewunderung der jacquerie, der Bauernrevolte gegen die ungerechte Herrschaft des Adels, nötigte die St. Petersburger Autokratie 1853 schließlich zu einer ermahnenden Erinnerung an die kleinrussischen Kiewer Aktivisten, vor lauter Leidenschaft für die „Nationalität oder Sprache von Kleinrussland“ nicht die Liebe für das eigentliche Vaterland zu vergessen, welches nach wie vor das russländische Imperium sei.1
Diese kurze Episode, die im Verlauf der Arbeit intensiver behandelt werden wird, vermag dem Leser vor Augen zu führen, wie fragil und riskant das Vorgehen der Autokratie in den Südwestgouvernements war: Die eine Nationalbewegung in Stellung zu bringen gegen die andere, die man als die größere Gefahr wahrnahm, beschreibt weitestgehend der Begriff des „imperialen Nationalismus“. Definiert wird dieser Begriff als Versuch der Nationsbildung im Rahmen von Imperien, die vom Konkurrenzverhältnis der jeweiligen imperialen, staatstragenden und emanzipativen Nationalbewegungen geprägt wurden.2 Wie zu zeigen ist, vollzog sich die ukrainische Nationalbewegung in einem Ambivalenzverhältnis zwischen der staatstragenden Nationalbewegung, der russischen, die sich in den 1860er Jahren herausbilden sollte, und der aggressiv emanzipativen polnischen Nationalbewegung, die die westliche Peripherie des Imperiums zwischen den 1830er und 1860er Jahren in Aufruhr versetzen sollte.
1.1 Die Handlungslogiken eines multiethnischen Imperiums im Langen 19. Jahrhundert: Das Entstehen der Nationalbewegungen als Herausforderun g
Die Idee der Nation und folglich auch die des Nationalstaats entstand im 19. Jahrhundert als ein dem Imperium entgegengesetztes Modell zur Organisation von Staatlichkeit und fordert somit jedes heterogene Großreich auf seine eigene Weise heraus. Das flächenmäßig größte Vielvölkerreich des europäischen Kontinents bildete das russländische Zarenreich, das durch seine Multiethnizität einerseits und die schiere Größe des imperialen Raumes andererseits besonders herausgefordert wurde. Die großen europäischen Vielvölkerimperien scheuten sich bis zur Mitte des 19. Jahrhundert, sich den Handlungslogiken des aufkommenden Nationalismus hinzugeben, und dies mit guten Gründen, da die nationale Idee der Funktionsweise der imperialen Legitimationsmuster diametral gegenübersteht.3 Wie jedes Imperium musste auch das Zarenreich den Nationalismus, als Gegenentwurf zum dynastisch-ständisch legitimierten, supranationalen Imperium doch zumindest mit Skepsis betrachten.4 In den Imperien Europas sollte der Konflikt zwischen imperialem Zentrum und den Nationalbewegungen an den Peripherien zu einem konstanten Konfliktpunkt erwachsen und die Imperien bis zum Ende des Jahrhunderts vor nur schwer zu lösende Probleme stellen.5
Die vorliegende Arbeit nimmt die Wechselwirkungen zwischen der russländisch-imperialen Nationalitätenpolitik und der aufkommenden ukrainischen Nationalbewegung vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Revolution von 1905 in den Blick. Dabei wird sich die Untersuchung vor allem in dem sich gegenseitig beeinflussenden Dreiecksverhältnis zwischen russländisch-imperialer Autokratie, polnischen Autonomiebestrebungen und der ukrainischen Nationalbewegung bewegen. Besonderes Augenmerk wird auf den Zeitraum zwischen den beiden polnischen Aufständen 1830/31 und 1863/64 gelegt, da in diesen rund drei Jahrzehnten die „kleinrussische“ Nationalbewegung entscheidende Fortschritte machen sollte. Die Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel, wovon die ersten beiden Kapitel in das Thema einführen: Kapitel 1 enthält die Einleitung, Kapitel 2 die historischen Voraussetzungen für die weitere Bearbeitung der Forschungsfrage. Kapitel 3 behandelt den Zeitraum von 1800 bis zum Tod von Zar Nikolaus I. und umfasst somit die Zeitspanne vom Wiener Kongress bis zum Novemberaufstand. Ein eigenes Unterkapitel widmet sich dem zivilisatorischen Diskurs zwischen Groß- und Kleinrussen als Teil der Wahrnehmung zwischen Zentrum und Peripherie. Die zweite Hälfte des dritten Kapitels behandelt die Zeit des „Kiewer Experiments“ der 1830er bis in die 1850er Jahre, als unter imperialer Obhut die „kleinrussische Bewegung“ als Vehikel gegen die Polen gefördert wurde. Das Kapitel schließt mit dem Beginn der 1850er Jahre ab. In Kapitel 4 wird die Zeit nach dem Krimkrieg, den Großen Reformen und vor allem nach der Erschütterung des Januaraufstandes bearbeitet, in dessen Nachklang auch die ukrainische Bewegung zum Ziel der autokratischen Repressionspolitik werden sollte. In Kapitel 5 wird ein Fazit gezogen und ein Ausblick auf die Revolution von 1905 gegeben.
1.2 Forschungsstand und Präliminarien
Seit der Auflösung der Sowjetunion erfreut sich die Russlandforschung, die das Imperium in seiner polyethnischen Dimension zu erfassen versucht, eines wachsenden Interesses. Seit 1990 ist die Forschung über Russland als Vielvölkerreich eines der am schnellsten wachsenden Forschungsfelder. Lange blieb dieser Forschungszweig am Rande des historischen Spektrums, teilweise weil Schlüsseldokumente in der Sowjetzeit unter Verschluss gehalten wurden.6 Seit den 1990er Jahren wurden die Sozial- und Geisteswissenschaften insgesamt von einer Renaissance der Imperiumsforschung ergriffen, was gemeinhin mit dem Schlagwort „imperial turn“ beschrieben wird. Diesen Begriff allzu leichtfertig zu übernehmen hieße jedoch, eine lange Forschungsgeschichte der Beschäftigung mit Großreichen von der Antike bis zur Moderne zu unterschätzen, die von Imperialismustheorien über postkoloniale Studien bis zu den jüngsten globalhistorischen Ansätzen reicht. Das Interesse der frühen 2000er Jahre an imperialen Ordnungen ist keine Neuentdeckung eines Gegenstandes, sondern ein Perspektivenwandel, hervorgerufen durch neue Herausforderungen der globalen Politik – nicht zuletzt konzentriert auf die postimperialen Konkursmassen der eurasischen Imperien vom Balkan bis zur Ukraine.7 Die Nationalismusforschung hat zwar die Auseinandersetzung zwischen Nation und Imperium intensiv behandelt, aber den imperialen Rahmen der Nationsbildung, der im europäischen Kontext des „langen 19. Jahrhunderts“ gewissermaßen die Regel ist, dabei jedoch weitestgehend ausgeblendet.8
In dieser Arbeit wird für die frühen Protagonisten der ukrainischen Bewegung das Adjektiv „kleinrussisch“ verwendet. Dabei soll das Wort nicht pejorativ verstanden werden, gewissermaßen als Ausdruck der Überlegenheit der „Großrussen“. Vielmehr findet dieser Begriff als Selbstzuschreibung der Zeitzeugen Verwendung. In Abgrenzung zum Begriff des „Ukrainischen“, der erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts von Vertretern der Autokratie geprägt werden sollte, wird in dieser Arbeit bis zu diesem Zeitpunkt der Begriff „kleinrussisch“ anstatt „ukrainisch“ verwendet.9 Der Begriff „großrussisch“ wird synonym zum Wort „russisch“ gebraucht, um die Unterscheidung zwischen beiden im jeweiligen Kontext sprachlich zu präzisieren. Ebenso tragen die Begriffe „Nationalismus“ oder „Nationalist“ in dieser Arbeit weder eine positive noch negative Konnotation, sondern werden als Bezeichnung für die Teilnehmer an den nationalen Diskursen verstanden. Zur Beschreibung des Imperiums wird der Begriff „russländisch“ gegenüber „russisch“ präferiert, um auf den multiethnischen Charakter und imperialen Habitus des Zarenreiches hinzuweisen. Die in dieser Arbeit genannten Kalenderdaten werden nach dem Gregorianischen Kalender angegeben. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Bachelorarbeit die Sprachform des generischen Maskulinums angewandt, also zum Beispiel „Ukrainer" statt „Ukrainer*innen“.
2. Voraussetzungen: Zur Genese des Imperiums im 18. und 19. Jahrhundert
In diesem Kapitel sollen die Ereignisse von der ersten Teilung Polen-Litauens 1772 bis zum Ende des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts thematisiert werden. In drei Unterkapiteln werden das Herrschaftsverständnis der zarischen Autokratie, die Westexpansion des russländischen Imperiums im 18. und 19. Jahrhundert und die großen Reformen Zar Alexanders II. behandelt.
2.1 Das russländische Imperium von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert
Die zentrale Klammer des Zarenreiches war die Autokratie, samoderschawie, die Selbstherrschaft, die die unbeschränkte Gewalt des Herrschers, des Großfürsten sowie des Zaren, definieren sollte. Als Kontinuum sollte die Herrschaftsform der Autokratie die Staatsverfassung des Imperiums vom 15. Jahrhundert bis zum Ende des Zarenreichs im 20. Jahrhundert prägen. Im 18. Jahrhundert unter Peter dem Großen trat neben die zarische Autokratie der Staat in der Form des Imperiums: 1721 hatte Zar Peter I. den Titel „Imperator“ für sich in Anspruch genommen und so den Anspruch formuliert, in der Rangordnung der europäischen Herrscher auf einer Stufe mit den Kaisern des Heiligen Römischen Reiches zu stehen. Der Begriff Imperium meint das russländische Reich, das Rossiskaja imperija, das Vielvölkerreich, das als composite monarchy eine Vielzahl von Herrschaftsgebilden absorbiert und unter der Herrschaft der Zaren zusammengefasst hatte.10 Seit dem 17. Jahrhundert ist der Begriff des Vaterlandes ( otečestvo) nachweisbar, dennoch: Der russländische Reichspatriotismus, der unter Katharina II. weiter intensiviert wurde, war in seinen Grundzügen supraethnisch und schloss die nichtrussischen Untertanen des russländischen Reiches mit ein.11 Die unter Peter I. gesuchte Nähe zum Europa der Neuzeit zeigte jedoch schonungslos die Rückständigkeit des Zarenreiches auf: Während sich in Westeuropa die Anfänge einer bürgerlichen Gesellschaft entwickelten, blieb das Zarenreich diesbezüglich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts weit dahinter zurück. Schon immer hatten die Eliten des Zarenreiches von der Europäisierung und Zivilisierung ihres Landes geträumt, wenngleich sie zu verschiedenen Zeiten Unterschiedliches darunter verstanden. Stets bemaßen sie den Fortschritt nicht an den Möglichkeiten ihres heterogenen Landes, sondern daran, wie sehr es ihrem Bild von Europa ähnelte. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verstand sich die Autokratie zusehends als eine europäische Macht, die ihren Daseinsgrund in der Überwindung von Rückständigkeit sah.12 Peter der Große hatte Russland zu einer Großmacht gemacht, zu einem Teil des europäischen Staatensystems und zu einem einflussreichen Akteur in der großen Politik der kontinentaleuropäischen Imperien. Charakteristisch für das zarische Russland war das Schwanken zwischen dem Versuch, eine eigene imperiale Legitimität aufzubauen einerseits und einer Ausrichtung am Vorbild Westeuropas andererseits. Im 19. Jahrhundert spitzte sich das Schwanken in der Gegensätzlichkeit von Slawophilie und Westlertum zu, woraus sich die Schwierigkeit ergab, eine kohärente imperiale Ideologie zu formulieren, aus der Russland nach innen und außen eine imperiale Legitimität hätte ableiten können. Entschied sich die Autokratie für das Slawentum als Legitimationsanker, für die orthodoxe Kirche und die Rettung der russischen Seele vor dem westlichen Materialismus, ließ sich daraus zwar eine starke imperiale Mission entwickeln, dafür musste jedoch in Kauf genommen werden, dass sich Russland in gewisser Weise abzuschotten hatte gegenüber der dynamischen bürgerlichen Entwicklung Westeuropas. Verglich man sich mit Europa, so geriet das Reich notorisch in die Rolle des nachtrabenden Kolosses, des „tapsigen Bären“ – zwar stark und groß, aber dennoch nicht allzu lernfähig oder intelligent –, als der das Zarenreich in zeitgenössischen Darstellungen oftmals karikiert wurde.13 Mitte des 18. Jahrhunderts war ein Militär- und Steuerstaat entstanden, dem alle sozialen Schichten zum Dienst verpflichtet waren. Eine urbane, bürgerliche Gesellschaftsschicht, wie sie im Westen Europas entstanden war und die sich ab dem späten 18. Jahrhundert als Träger früher nationalpatriotischer Narrative hervorgetan hatte, konnte das Zarenreich jedoch nicht vorweisen. Auch in der Zeitspanne bis zum Ende des Jahrhunderts, als Begriffe wie „Staatsbürger“ oder „bürgerliche Gesellschaft“ im Westen Europas weit verbreitet waren, gab es im russländischen Imperium keine entsprechenden Konzepte. Das Bauernvolk des Zarenreiches war weiterhin dazu bestimmt, die „Staatsanstalt“ durch die Kopfsteuer zu unterhalten, taugliche Rekruten für den Militärdienst bereitzustellen und die agrarisch geprägte Ökonomie des Landadels durch Fronarbeit zu sichern.14
Die Westexpansion des russländischen Imperiums in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts brachte die Autokratie in einen intensiveren Kontakt mit dem westlichen Europa. Grundlegend vor die Aufgabe gestellt, die annektierten Regionen mit ihrer eigenständigen ständisch-korporativen Organisation und politischen Tradition in das Imperium einzufügen, wich auch in den neu geschaffenen Westgouvernements die Autokratie von ihrem bewährten Kooptationsmodell nicht ab und versuchte, die lokalen Eliten in die Verwaltung des Reiches einzubinden. Blickt man auf die Herrschaftspraxis des russländischen Imperiums, so wird man für lange Phasen des 19. Jahrhunderts eine große Flexibilität im Verhältnis der ethnischen Gruppen zueinander erkennen.15 Das Zarenreich hatte im 18. Jahrhundert bereits Erfahrungen mit der Integration eroberter Gebiete in die Reichsstruktur gesammelt. In der Regel folgte auf die Sicherung des eroberten Raumes durch die Truppen des Zaren eine vorsichtige Verständigung mit den lokalen Eliten, denen seitens der Autokratie die Perpetuierung des Status quo offeriert wurde: Landbesitzverhältnisse und lokale Wertsysteme wurden respektiert. Die Herrschaftsspitze wurde zwar durch einen direkten Vertreter des Zaren ersetzt, der zudem auf die Zusammenarbeit mit den lokalen Eliten angewiesen war, die darunterliegende Machtverteilung jedoch blieb weitgehend unverändert.16 Diese Form der Integration war jedoch kein Austausch auf Augenhöhe, sondern ein Prozess, den die zarische Herrschaft initiierte und dominierte, die kulturelle Eigenheit wurde nur aus pragmatischen Erwägungen heraus geduldet, da es der Autokratie schlicht und ergreifend an anderen Mittel zur Beherrschung des Raumes mangelte.17 In Folge der Zerschlagung Polen-Litauens, die im folgenden Kapitel ausführlicher behandelt wird, offenbarte sich dem russländischen Imperium jedoch ein Dilemma, das das Verhältnis zwischen polnischer Peripherie und imperialen Zentrum als „polnische Frage“ – auch unabhängig von der Nationalitätenfrage – im 19. Jahrhundert herausfordern sollte: Die Kooptationspolitik stieß dort an ihre Grenzen, wo das Imperium sein Programm des effektiven Staatsausbaus gegen die Interessen der lokalen Eliten verfolgen sollte.18
Die Nachwirkungen der Französischen Revolution, das für die absolutistischen Staaten Europas infektiöse Gedankengut von 1789 und die militärische Bedrohung durch Napoleons Grande Armée, hatten der Autokratie vor Augen geführt, dass sie als Teil Europas nun auch mit den Entwicklungen Europas befasst war und diese nicht mehr ignorieren konnte. Die imperiale Ordnung des Zarenreiches, die sich seither durch religiös-dynastische Legitimationsformen zu begründen suchte, war durch die Entwicklungen der Napoleonischen Kriege und die Idee der nationalen Selbstbestimmung grundlegend herausgefordert.19 Auch die Restauration auf dem Wiener Kongress von 1815 überdeckte die grundlegenden Veränderungen in Europa nur oberflächlich. Der Dekabristenaufstand von 1825 und die Revolutionen von 1830, die vom Westen Europas bis nach Kongresspolen – somit in die junge Peripherie des Zarenreiches – reichten, führten der Autokratie vor Augen, dass „der Bazillus der Revolution“ auch das Reich der Zaren zumindest in Teilen infiziert hatte.20 In gewisser Weise kann die Herrschaft Nikolaus‘ I. als langer Epilog zum Dekabristenaufstand verstanden werden: Unter dem Eindruck der Offiziersrevolte verließ sich der Zar auf eine starke Polizeipräsenz und Zensur, um die Stabilität in seinem Reich zu gewährleisten.21 In den 1830er Jahren ging die Regierung daran, eine Abwehrideologie zu formulieren, die die unumstößlichen Grundsätze zarischer Politik und die überzeitliche Bestimmung Russlands festschreiben sollte. Dies geschah nun nicht mehr in einer den Westen imitierenden Weise, sondern konzentrierte sich darauf, die Zukunft des Reiches auf unverwechselbar russischen Prinzipien neu zu erfinden. Einer der Protagonisten dieser Entwicklung war Sergej Uwarow (1786-1855), der seit 1833 Minister für Volksaufklärung war. Dieser „offizielle Nationalismus“ stellte nun nicht mehr heraus, was Russland mit dem westlichen Europa verband, sondern hob hervor, was es von diesem trennte. In einem Brief an den Zaren formulierte Uwarow drei Grundwerte, die den „letzten Anker“ zur Rettung des russischen Vaterlandes bilden sollten: Orthodoxie ( prawoslawie ), Autokratie ( samoderschawie ) und Volkstum ( narodnost ). Die ersten zwei der drei Begriffe waren nichts Neues, vielmehr knüpfte Uwarow mit der Verbindung von Rechtgläubigkeit und Selbstherrschaft an die jahrhundertelange Geschichte des Moskauer Staates an. Der dritte Begriff, narodnost, war gewissermaßen die Quintessenz aus den anderen beiden Begriffen seiner Formel: Russe zu sein, zum russischen Volkstum zu gehören, hieß nach Uwarow erstens dem orthodoxen Glauben verbunden zu sein und zweitens sich voll und ganz der Macht der Autokratie auszuliefern. Mit jenen Begrifflichkeiten legitimierte sich die amtliche Nationalideologie, die als offizielle Definition der russischen Identität als Waffe gegen den europäischen Liberalismus, in dessen Gefolge Umsturz und Anarchie nach Russland kämen, verwendet wurde. Auch in der russischen Intelligenz wurde ab den 1830er Jahren die Frage nach der russischen Identität, der historischen Rolle und Bestimmung Russlands ein immer stärker verbreiteter Topos.22
2.1.1 Die Ausweitung des russländischen Imperiums im Westen: Von der linksufrigen Ukraine zum Königreich Polen
Die Geschichte des russländischen Vielvölkerreichs beginnt mit den Moskauer Großfürsten, die bereits seit ihrem Erstarken im 15. Jahrhundert über ein polyethnisches Reich, ein Vielvölkerreich, herrschten. Mit dem ersten Zaren Iwan IV., der sich 1547 krönen ließ, trat das Moskauer Reich über in eine neue Epoche. Waren die bisherigen Eroberungen der Moskauer Herrscher noch das „Sammeln der Länder der Rus‘“, wurde mit der Eroberung von Kazan‘ ein neuer Abschnitt, der Herrschaft eingeläutet, der das Reich weiter in Richtung Imperium führen sollte.23 Das „Sammeln der Länder der Goldenen Horde“, die Ausdehnung des Herrschaftsraumes in den Südosten und die Zerschlagung der Khanate von Kasan‘ und Astrachan‘ erweiterte das ethnische Mosaik des Moskauer Reiches. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde die linksufrige Ukraine und das Khanat der Krimtataren annektiert, sodass sich der Herrschaftsraum der Zaren bis an das Schwarze Meer vorschob. Im Zuge der vier Teilungen Polen-Litauens schob sich der zarische Machtbereich bis an die Grenzen zu Schlesien und Ostpreußen vor. In diesem Kapitel wird die Westerweiterung des Zarenreiches im 17. und 18. Jahrhundert thematisiert, da im Prozess der Festigung der Zarenherrschaft im Südosten der Ukraine bzw. der Zerschlagung Polen-Litauens nahezu alle „Kleinrussen“ in den imperialen Machtbereich gerieten. Wie ein roter Faden wird sich das Dreiecksverhältnis zwischen polnischen, großrussischen und den sich dazwischen entwickelnden kleinrussischen Einflüssen durch diese Arbeit ziehen. Darum lohnt es sich, die politischen Entwicklungen in dem Raum der rechts- bzw. linksufrigen Ukraine genauer zu betrachten.
Das Gebiet der heutigen Ukraine kam erst im 18. Jahrhundert vollständig unter die Herrschaft der Zaren. Im Folgenden werden die beiden Phasen erläutert, in denen die Ukraine dem russländischen Machtbereich angeschlossen wurde: Die Niederschlagung des Kosakenhetmanats, die endgültig in den 1760er Jahren erfolgte und die vier Teilungen Polen-Litauens, die von 1772 bis 1815 andauerten und in der Tilgung der polnischen Adelsnation mündeten. Die in zwei Schritten erfolgte Erweiterung des imperialen Machtbereichs hatte zur Folge, dass gewissermaßen auf dem Gebiet der heutigen Ukraine zwei Regionen entstanden, die sich durch eine grundlegend unterschiedliche konfessionell-ethnische Zusammensetzung unterschieden. Die westliche (rechtsufrige) Ukraine war bis zu den sogenannten polnischen Teilungen Teil der polnisch-litauischen Adelsnation und wies auch im 19. Jahrhundert einen hohen Anteil polnisch-katholischer Adliger auf, was vor allem nach den polnischen Aufständen von 1830/31 und 1863/64 Friktionen zwischen imperialem Zentrum und der Peripherie bedingen sollte. Die östliche (linksufrige) Ukraine war bereits seit dem Ende des 17. Jahrhunderts Ziel der zarischen Machtpolitik geworden und somit bereits ein Jahrhundert eher – wenn auch nur schrittweise – in das russländische Imperium integriert worden.
Die ersten Konflikte zwischen den beiden Hegemonialmächten Polen-Litauen und dem Moskauer Staat um Einfluss in der Ukraine reichen bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurück. 1648 gelang es den in der Ukraine ansässigen Kosaken, sich des Einflusses Polen-Litauens zu entledigen und ein eigenständiges Staatswesen, das Kosakenhetmanat, zu etablieren. Polen-Litauen konnte den Abfall der aufständischen Kosaken in der Ukraine nicht widerstandslos hinnehmen und versuchte unverzüglich, die abtrünnigen Kosaken mit militärischen Mitteln an sich zu binden. Die bedrängten Zaporoher Kosaken unter ihrem Anführer Chmel´nyc´kyj baten die Moskauer Zaren daraufhin um Beistand, was der Zar zunächst ablehnte, da er den offenen Konflikt mit den mächtigen polnisch-litauischen Königen scheute. Erst 1653 willigte Moskau ein und im folgenden Jahr leistete das Kosakenhetmanat im Vertrag von Perejaslaw einen Treueschwur. Seitdem bezeichneten sich die Zaren in ihrem Titel als „Autokraten der ganzen Großen und Kleinen Rus‘“, was später in „von ganz Groß-, Klein- und Weißrussland“ umgewandelt werden sollte. Während Moskau die Vereinigung von Perejaslaw als dauerhaften Schritt einer ersten Inbesitznahme der Ukraine betrachtete, war der Hetman geneigt, in der Allianz mit dem mächtigen Nachbarn eine prinzipiell kündbare Zweckvereinigung zu sehen. Die Zaren hatten 1648 die Lage richtig eingeschätzt, denn die Verbindung mit den Kosaken rief tatsächlich eine Reaktion Polen-Litauens hervor. Von 1654 bis zum Waffenstillstand von Andrussowo 1667 (erst 1686 wurde ein Frieden geschlossen) führten die Zaren Krieg mit Polen-Litauen. Dieser erste Zeitabschnitt sollte die Ukraine in ihrer weiteren Entwicklung zweigeteilt zurücklassen. Für rund einhundert Jahre war die Ukraine nun geteilt in einen russländischen Teil, der die Gebiete links des Flusses Dnjepr und den Rest der östlichen Ukraine umfasste, inklusive des rechtsufrigen Kiews, das als Brückenkopf unter der Herrschaft der Zaren stand. Bis auf die Stadt Kiew verblieb die rechtsufrige Ukraine bei Polen-Litauen. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts kehrten die polnischen Adligen in die rechtsufrige Ukraine zurück. Während des Aufstandes waren sie von den ukrainischen Rebellen vertrieben und oftmals massakriert worden, nach dem Ende der Kämpfe konnte der polnische Adel seine alteingesessene Machtposition jedoch wiederherstellen und so den Status quo erhalten. Parallel dazu blieb trotz einer stärkeren Durchdringung des Hetmanats durch russländische Garnisonen der de jure autonome Status des Hetmanats vorerst bestehen.24
Die Reformen Peters des Großen, das Bemühen mithilfe von Systematisierung und Harmonisierung des Herrschaftsbereichs aus dem rückständigen Großreich ein potentes Imperium zu formen, waren immer weniger mit den Sonderrechten des Hetmanats vereinbar. In der Ukraine stieß die Politik des Zaren auf zunehmenden Widerstand des Hetmans Ivan Mazepa, der auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung gar im Nordischen Krieg auf die Seite der Schweden wechselte, ehe er zusammen mit Karl XII. 1709 bei Poltawa geschlagen wurde. Der Abfall Mazepas diente Peter I. als Anlass, das Hetmanat intensiver in das Imperium zu integrieren. Das Amt des Hetmans wurde sukzessive ausgehöhlt, bis es 1764 unter Katharina II. schließlich gänzlich abgeschafft wurde. Die linksufrige Ukraine wurde über einen Zeitraum von etwa einhundert Jahren immer enger an das russländische Imperium gebunden, wobei der Annäherungsprozess teils freiwillig, teils vom imperialen Zentrum erzwungen erfolgte.25 An dieser Stelle ist es vor allem deswegen lohnenswert, ein wenig Raum einzunehmen für die detaillierte Betrachtung der Ereignisse auch schon vor dem 18. Jahrhundert, da nicht nur im Kontext der zwei Jahrhunderte andauernden Konfrontationen die grundlegenden Konfliktlinien geschaffen und verfestigt wurden, sondern auch weil historische Gestalten auftauchen, die im späteren Verlauf dieser Arbeit von den Protagonisten der frühen ukrainischen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert intensiv rezipiert werden sollten. Die Erinnerung an die Autonomie des Hetmanats sowie etwa der Kosakenmythos sollten später intensiv vom ukrainischen Dichter Taras Ševčenko rezipiert werden.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelang es dem Zarenreich unter Katharina II. die am Schwarzen Meer liegenden Gebiete der südlichen Ukraine zu erobern, die fortan als „Neurussland“ dem Imperium beigefügt und vor allem von klein- und großrussischen Bauern besiedelt wurden.26 Die größte Verschiebung des russländischen Machtbereichs wurde 1772 mit dem Beginn der Teilungen Polen-Litauens gelegt, die in einer sich selbstverstärkenden Teilungsspirale mündete und zur endgültigen Tilgung der polnisch-litauischen Adelsnation von der Landkarte Europas führen sollte. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts konnten die Zaren Polen-Litauen unter ihre hegemoniale Kontrolle bringen und griffen immer wieder in die inneren Auseinandersetzungen der Adelsrepublik zum Vorteil des Zarenreichs ein. Nach dem ersten Teilungsakt von 1772 war Polen-Litauen zwar geschwächt, aber dennoch eine bedeutende Macht in Osteuropa. Als die Adelsrepublik als Reaktion auf die erste Teilung das eigene Staatswesen radikal umgebaut und darüber hinaus auch 1791 die erste geschriebene Repräsentativverfassung Europas erlassen hatte, sahen sich die absolutistischen Nachbarmächte Russland und Preußen gezwungen, die Reformbestrebungen in Polen-Litauen einzudämmen, um die „französische Pest“ zu bekämpfen. Die zweite und rasch darauffolgende dritte Teilung Polens 1793 und 1795 durch die „Koalition der Schwarzen Adler“ führte zum Verschwinden des polnisch-litauischen Staates. Die östlichen Gebiete fielen dabei dem Zarenreich und dem Habsburgerreich zu: Podolien und Wolhynien gingen an Russland, Galizien wurde in das Habsburgerreich integriert und Preußen bemächtigte sich Teilen der westlichen Gebiete der Adelsrepublik. Die Neuordnung Europas nach den napoleonischen Kriegen auf dem Wiener Kongress 1815 bestätigte diesen Zustand dann endgültig. Somit befand sich am Anfang des 19. Jahrhundert das Gros der Ukrainer unter russländischer Herrschaft, mit Ausnahme eines kleinen Teils der Westukrainer in Galizien, die unter österreichische Herrschaft gestellt wurden. Die Erschütterung der Napoleonischen Kriege vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Wiener Kongress erschwerten jedoch eine forcierte Integration der neu erworbenen Gebiete in das Imperium. Unter Napoleon I. war gar aus jenen Teilen Polen-Litauens, die Preußen und Österreich annektiert hatten, ein neues polnisches Staatswesen gebildet worden, das Herzogtum Warschau.27 Der Wiener Kongress schuf schließlich wieder ein „Königreich Polen“, dabei handelte es sich jedoch nicht um ein wiedererrichtetes Polen-Litauen, sondern um ein Staatswesen, das nur rund ein Siebtel des ehemaligen Gebietes umfasste und zu drei Vierteln von Polen bewohnt wurde.28 Aus russländischer Perspektive war die Neuordnung Osteuropas damit vorläufig abgeschlossen: Das neu geschaffene Kongresspolen repräsentierte den Nachfolger polnischer Staatlichkeit, die ehemals polnisch-litauischen Gebiete waren als ur-russisches Gebiet deklariert und als Westgouvernements dem Kerngebiet des zarischen Imperiums beigefügt worden. Das Königreich Polen wurde eng an das Imperium gebunden: Der Zar wurde zum erblichen König Polens erklärt, herrschte dort jedoch im Gegensatz zum russländischen Imperium nicht autokratisch, sondern war an die polnische Verfassung gebunden.
Die Erweiterung des russländischen Reiches um die ehemals polnisch-litauischen Gebiete stellte die Autokratie vor gewaltige Herausforderungen: Wie sollte das neu gewonnene Territorium angesichts der bereits vorhandenen Rechtsordnung, politischen Tradition und ständisch-administrativen Organisation in das russländische Reich eingegliedert werden? Nach dem Anschluss der neuen Gebiete strebte die Autokratie vor allem danach, einen Modus vivendi mit der lokalen, meist polnischen Elite zu finden. Bei der Eingliederung der neuen Provinzen praktizierte das russländische Imperium ähnlich wie bei der Inkorporation der Ostseeprovinzen eine Politik, die auf die Kooptation des loyalitätsbereiten und kooperationswilligen Adels ausgelegt war.29 Dies gestaltete sich umso schwieriger, da die Elite in den ehemaligen Gebieten der Adelsrepublik keine homogene Gruppe bildete. Der polnische Adel, die Szlachta, umfasste rund sieben Prozent der Gesamtbevölkerung und 20 Prozent der Polen. Die polnische Adelsschicht war jedoch sozial stark differenziert – lediglich 40 Prozent der Adligen besaßen eigenes Land, weitere 40 Prozent besaßen nur wenig Land: De facto war das Land im Besitz einer dünnen Schicht von Magnaten, die kleine Staaten im Staat bildeten.30 Die Heterogenität der Szlachta bedingte auch die vollkommen unterschiedlichen Erwartungen, die der polnische Adel mit der zarischen Herrschaft verband: Während die Magnaten der „weißen“ Szlachta tendenziell eine proimperiale Haltung einnahmen und auf die Verständigung mit dem Imperium hofften (vor allem um die eigene privilegierte Stellung im Imperium zu konservieren), rezipierte die „rote“ Szlachta, d.h. der mittlere und niedere Adel, vermehrt Vorstellungen einer polnischen Unabhängigkeit.31 Umso mehr, da dem verarmten, landlosen Adel die Nobilitierung sowohl durch die russische Bürokratie als auch die polnischen Magnaten verweigert wurde. Vor allem die Magnaten erkannten die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die es mit sich brachte, Teil einer imperialen Ordnung zu sein: In der rechtsufrigen Ukraine etwa bot die Kombination aus ertragreichen Böden und dem Zugang zu den Schwarzmeerhäfen starke Anreize, sich einer Kooptation bzw. Assimilation in die imperialen Strukturen zu unterwerfen.32 Der Umgang mit den ehemaligen polnisch-litauischen Besitzungen zeigt die Unterschiede, mit denen die Herrscher in St. Petersburg die neuen Gebiete versuchten in das Reich zu integrieren. Gemäß der vorherrschenden Kooptationsdoktrin verblieben in Kongresspolen zunächst polnische Verwaltungsbeamte auf ihren Positionen und polnisch blieb weiterhin offizielle Amtssprache. Im östlichen Weißrussland und in Teilen der Ukraine hingegen, die als russisches Gebiet angesehen wurden, wurde die russische Gerichtssprache eingeführt und auch die Verwaltung – mit Ausnahme der lokalen Verwaltungen – mit ethnischen Russen besetzt.33
2.1.2 Die Infragestellung der imperialen Hegemonie im Westen des Reiches: Die polnischen Aufstände 1830/31 und 1863/1864
In den 1820er Jahren wurde immer deutlicher, dass der Zar kaum einen Gedanken darauf verschwendete, die polnische Unabhängigkeit wiederherzustellen. Zwar hatte unter Alexander I. die Verfassung des Königreichs Polen an ihre liberalen Vorgänger von 1791 und 1807 anknüpfen können und dem Königreich damit die liberalste Verfassung Europas beschert, das nach dem Wiener Kongress einverleibte Königreich Polen erwies sich dennoch als schwieriges Herrschaftsobjekt, das für das russländische Imperium zum Dauerproblem und sichtbarsten Beispiel einer zum Separatismus willigen und fähigen Bevölkerung werden sollte.34 Die Autokratie betrachtete zwar den zuweilen aufkommenden polnischen Konstitutionalismus mit einiger Vorsicht und war sich auch des dominanten polnischen Einflusses in den Westgouvernements bewusst, eine „polnische Frage“, wie sie nach dem Aufstand von 1830 in der imperialen Debatte diskutiert werden sollte, existierte beim Amtsantritt Nikolaus’ I. jedoch kaum.35 Vielmehr war Zar Nikolaus I. bereit, den teilautonomen Status des Königreichs Polen zu akzeptieren, auch Teile der polnischen Eliten standen dem politischen Modell „Kongresspolen“ nicht zwingend ablehnend gegenüber.
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1 Vgl. Hillis, Faith: Ukrainophile Activism and Imperial Governance in Russia’s Southwestern Borderlands, in: Kritika 13/2 2012, S. 305; 308.
2 Vgl. Ther, Philipp: Die Nationsbildung in multinationalen Imperien als Herausforderung der Nationalismusforschung, in: Andreas Kappeler (Hg.): Die Ukraine. Prozesse der Nationsbildung, Köln 2011, S. 37.
3 Vgl. Miller: The Romanov Empire and Nationalism, Budapest/New York 2008, S. 143.
4 Vgl. Kappeler, Andreas: Ukrainische und russische Nation. Ein asymmetrisches Verhältnis, in: Ders. (Hg.): Die Ukraine. Prozesse der Nationsbildung, Köln 2011, S. 194.
5 Vgl. Leonhard, Jörn/von Hirschhausen, Ulrike: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, Göttingen 22011, S. 10.
6 Vgl. Miller, Alexei: The Romanov Empire and Nationalism, S. 211.
7 Vgl. Hausteiner, Eva Marlene/Münkler, Herfried: Einleitung, in: Herfried Münkler/Eva Marlene Hausteiner (Hg.): Die Legitimation von Imperien. Strategien und Motive im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2012, S. 7.
8 Vgl. Ther: Die Nationsbildung in multinationalen Imperien als Herausforderung der Nationalismusforschung, S. 37.
9 Vgl. Miller, Alexei: The Ukrainian Question. The Russian Empire and Nationalism in the Nineteenth Century, Budapest/New York 2003, S. 53.
10 Vgl. Geyer, Dietrich: Das russische Imperium. Von den Romanows bis zum Ende der Sowjetunion, Berlin/Boston 2020, S. 6.
11 Vgl. Kappeler, Andreas: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2017, S. 86-97.
12 Vgl. Baberowski, Jörg: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012, S. 33.
13 Vgl. Münkler, Herfried: Translation, Filiation und Analogiebildung. Politische Legitimation und strategisch Reflexion im Spiegel vergangener Imperien, in: Herfried Münkler/Eva Marlene Hausteiner (Hg.): Die Legitimation von Imperien. Strategien und Motive im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2012, S. 50-51.
14 Vgl. Geyer: Das russische Imperium, S. 68.
15 Vgl. Leonhard, Jörn: Wie legitimieren sich multiethnische Empires im langen 19. Jahrhundert, in: Herfried Münkler/Eva Marlene Hausteiner (Hg.): Die Legitimation von Imperien. Strategien und Motive im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2012, S. 80.
16 Vgl. Kappeler, Andreas: Russland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München 22008, S. 54; 75.
17 Vgl. Ganzenmüller, Jörg: Russische Staatsgewalt und polnischer Adel. Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches 1772-1850, Köln 2013, S. 11.
18 Vgl. ebd., S. 74.
19 Vgl. Miller: The Ukrainian Question, S. 50.
20 Vgl. Miller: The Romanov Empire and Nationalism, S. 140.
21 Vgl. Hosking, Geoffrey: Russland. Nation und Imperium 1552-1917, Berlin 2000, S. 175.
22 Vgl. Geyer: Das russische Imperium, S. 29-31.
23 Vgl. Kappeler: Russland als Vielvölkerreich, S. 25.
24 Vgl. Kappeler: Ungleiche Brüder, S. 57-59.
25 Vgl. ebd., S. 65-67.
26 Vgl. ebd., S. 75.
27 Vgl. Kappeler: Russland als Vielvölkerreich, S. 74-75.
28 Vgl. ebd., S. 78-79.
29 Vgl. Rolf, Malte: Imperiale Herrschaft im Weichselland. Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864-1915) (Ordnungssystem 43), Berlin 2015, S. 26-28.
30 Vgl. Kappeler: Russland als Vielvölkerreich, S. 72.
31 Vgl. Rolf: Imperiale Herrschaft im Weichselland, S. 29.
32 Vgl. Kappeler: Russland als Vielvölkerreich, S. 75.
33 Vgl. Kappeler, Andreas: Kleine Geschichte der Ukraine, München 42014, S. 108-109.
34 Vgl. Schnell, Felix: Die erwartete Nation. Imperien, Bauern und das Nationale in der Ukraine (Zarenreich und Sowjetunion), in: Zeitschrift für moderne europäische Geschichte 11/3, 2013, S. 377.
35 Vgl. Thaden, Edward: Russia’s Western Borderlands. 1710-1870, Princeton 1984, S. 121.