Die „Auditive Wahrnehmungserziehung“ verlangte eine strikte Loslösung von tradierten Werten in Inhalten und Methodik des Musikunterrichtes, um stattdessen alles auditiv Wahrnehmbare zum Unterrichtsgegenstand zu machen und in einem schülerzentrierten Unterricht Hörvermögen und Kritikfähigkeit zu fördern.
Sie wendete sich bewusst gegen die Methodik des Musikunterrichts musischer Prägung, der sich den irrationalen Wirkungen der Musik und einseitig ethischen Zielsetzungen verschrieben hatte. Die Autoren der „Auditiven Wahrnehmungserziehung“ wollten diese „affirmative Erziehung zum Wertbewusstsein“ durch „freie Kommunikation“ ersetzen, da sie durch die hergebrachte Musikpädagogik das Fachliche aus dem Unterricht verdrängt sahen.
Historische Entstehungsbedingungen der „Auditiven Wahrnehmungserziehung“
In den späten 60er und frühen 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte die Arbeitsgruppe des sog. Curriculum-Projekts „Sequenzen“ um Ulrich Günther und Gottfried Küntzel im Rahmen der Reformbewegung mit der „Auditiven Wahrnehmungserziehung“ ein musikdidaktisches Konzept, welches bewusst eine radikale und konsequente Abwendung nicht nur von dem bis dahin praktizierten Musikunterricht, sondern auch vom traditionellen Musikverständnis darstellte. Die Notwendigkeit dazu begründete sich aus der Gefährdung des Schulfaches Musik, vom Kernfach zum geringgeschätzten Wahlfach zu werden. Als Grund für diese Geringschätzung sahen die Autoren der „Sequenzen“ die „konsequente Rückwärtsgewandtheit“1 des Musikunterrichtes sowie seiner Organisation in Lehrerbildung, Curriculum und Lehrmitteln. So war nach 1945 keine entschiedene Distanzierung und Abkehr vom Musikunterricht musischer Prägung erfolgt, sondern man folgte auch weiterhin dem Ideal einer das Wissenschaftlich-Rationale ebenso wie das Technische ablehnenden Musikerziehung, die sich im Singen traditioneller Lieder, der Behandlung „kleiner Werke großer Meister“2 sowie in Anekdoten über deren Vita erschöpfte. Die Kunstmusik war der gymnasialen Oberstufe vorbehalten. Dies hatte zu einer Abspaltung des Musikunterrichtes von der kontemporären technischen sowie musikalischen Entwicklung sowohl im Bereich der Ernsten Musik als vor allem auch in der Unterhaltungsmusik geführt. Eine weitere Infragestellung der Sinnhaftigkeit von Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen erwuchs aus der sich in den 60er Jahren immer stärker verfestigenden Tendenz der Herausbildung einer auf den professionellen Musiksektor ausgerichteten Spezialisierung und Elitarisierung des Unterrichtes in Musik.
Für eine derartige Intention waren in Ausrichtung und Möglichkeiten der Förderung die Musikschulen weitaus geeigneter, was eine Lösung des Musikunterrichts aus dem schulischen Kontext plausibel erscheinen ließ.
Nach 1950 hatte sich die Tradition des Musikunterrichtes sog. „musischer“ Prägung nach 1945 einerseits verfestigt und wurde umso vehementer hochgehalten und verteidigt, als sich eine ernstzunehmende Gegenposition herauszubilden begann, als deren prominenteste Vertreter Theodor Wiesengrund Adorno und Theodor Warner zu nennen sind. Ihr Einfluss begann sich nach 1960 in der Musikpädagogik niederzuschlagen und konstituierte sich in der Einbeziehung von Neuer Musik, der Medienentwicklung, kulturanthropologischen und empirischen Fragestellungen, Aspekten der Lernpsychologie, Soziologie und Didaktik in die Suche nach einer neuen Ausrichtung des Musikunterrichtes3. Im Zuge dieser Entwicklung wurde gegen Ende der 60er Jahre die Forderung nach einer grundlegenden Neustrukturierung und der damit verbundenen Konzeption und Ausarbeitung eines wissenschaftlich begründeten Curriculums für das Schulfach Musik manifest.
Intentionen der „Auditiven Wahrnehmungserziehung“ Die Autoren der Sequenzen erachteten weder eine Reform des Vorhandenen noch den Versuch, mit hergebrachten Denkmustern und Verfahrensweisen Neue Musik im Unterricht zu behandeln noch didaktische Modelle, die soziologischen Komponenten der Musikrezeption sowie kommunikative Aspekte der Musik ausklammerten, als ausreichende Neuerungen. Ferner sahen sie die Notwendigkeit, eine völlige Neuentwicklung anzustreben, innerhalb derer die Ziele und Aufgaben eines modernen Musikunterrichtes, der sich als Bestandteil der allgemeinen Schulbildung versteht, zu bestimmen und in eine den Erkenntnissen der kontemporären Erziehungswissenschaft verpflichteten musikdidaktischen Konzeption auszuarbeiten seien4.
Charakteristisch für das unter diesen Prämissen als Curriculum-Projekt „Sequenzen“ entwickelte didaktische Modell sind vor allem die Erweiterungstendenzen, die in verschiedenen Aspekten des Musikunterrichts zu einem universellen Verständnis führten: Musikunterricht sollte nicht mehr als eine spezielle fachliche Ausbildung, sondern als integraler Bestandteil des allgemeinbildenden Unterrichts und „ernstzunehmendes“ Schulfach mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit aufgefasst werden sowie für ausnahmslos alle Schüler sämtlicher Schulstufen und Schulformen konzipiert sein.(leitendes und als für die Zukunft zu verwirklichen angesehendes Ideal war hierbei die integrierte Gesamtschule).
Erweitert wurde vor allem auch das Verständnis von Musik sowie das des Gegenstandes bzw. Inhaltes von Musikunterricht: Behandelt werden sollten nun alle klanglichen Phänomene, die gesamte hörbare Wirklichkeit. Der kategorisierende und wertende Begriff der „Kunstmusik“ sollte nicht mehr maßgeblich sein. Gleichzeitig trennte man sich auch von Begrifflichkeiten und Systematik der traditionellen Musiklehre, an deren Stelle musikalische Parameter wie Lautstärke oder Tonhöhe traten, welche sich unmittelbar und voraussetzungslos aus der akustischen Wahrnehmung ableiten lassen und für jede klangliche Erscheinung Gültigkeit besitzen. Ein besonderes Augenmerk wurde außerdem auf den kommunikativen Qualitäten der Musik gelegt, der Musikunterricht wurde erweitert um die soziologische, psychologische und politische Perspektive.
Abgrenzend zum .musisch ausgerichteten Musikunterricht nach 1945 können zudem die systematische und vielschichtige Schulung der Wahrnehmung als charakteristisch benannt werden, die auf eine eigenständige Kritikfähigkeit der Schüler zielte, weiterhin das rational-reflektierende Element, welches unter anderem durch Einbeziehung der Kommunikationstheorie Bestandteil des Konzeptes wurde. Innovativ war auch die umfangreiche und wertschätzende Einbeziehung der Neuen Musik, die nicht allein zu einem Gegenstand des Unterrichts wurde, sondern aus der man Methoden zur Erschließung ihrer Formverläufe und klanglichen Phänomene ableitete.
Die „Arbeitsgemeinschaft Curriculum Musik“ - Charakteristika des Arbeitsprozesses, das Autorenteam.
Die einzelnen Stadien und Zwischenergebnisse des Projektes lassen die Prozesshaftigkeit dieser Arbeit erahnen, die sich nicht allein auf die gedankliche Entwicklung innerhalb des Autorenteams beschränkte. Man bezog die Neuerungen auf dem pädagogischen Sektor ein, diskutierte und erprobte mit Lehrern, Studenten, Fachkollegen und Kollegen aus anderen Fachbereichen, setzte sich so bewusst vielfältiger Kritik von außen aus und setzte diese konstruktiv um. Das so Entwickelte wurde ständig in 150 „Versuchsklassen“ aller Schulstufen in der Praxis erprobt, analysiert und wiederum weiterentwickelt. Jedes Ergebnis wurde also als ein vorläufiges angesehen, stets von neuem erprobt und diskutiert und grundsätzlich als nicht abgeschlossen sondern prozesshaft gesehen. Kritik und Anregungen aus der Praxis sollten ständig Eingang in das Curriculum finden, dieses somit ständig in Bearbeitung sein und so auf der Höhe der Zeit bleiben und die an der damaligen musikpädagogischen Praxis bemängelte Stagnation und Rückwärtsgewandtheit systematisch verunmöglichen.
Zwar lag es in der Natur dieser Vorgehensweise, dass im Ergebnis der Arbeit der persönliche Anteil einzelner Autoren nicht mehr eindeutig zu identifizieren war. Doch gab es natürlich ein Team von maßgeblich beteiligten Autoren, die gedankliche Vorarbeit geleistet hatten. Vornehmlich ist in dieser Hinsicht Ulrich Günther (geb. 1923) zu nennen, Professor für Musikerziehung an der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen, Abteilung Oldenburg. Günther hatte Pädagogik, Schulmusik, Musikwissenschaft, Soziologie und Evangelische Theologie studiert und war vor seiner Berufung im Schuldienst tätig, wobei er Erfahrungen an den verschiedensten Schulformen sammeln konnte (Volksschulen, Gymnasien, Berufsschule, außerdem Studienseminar). Bereits seit 1961 arbeitete er an einer Neudefinition von Inhalten und Zielen des Musikunterrichtes und beschäftigte sich intensiv mit Unterrichts- und Rezeptionsforschung. 1965 gründete er die sich aus Studenten, Lehrern, Assistenten und Dozenten zusammensetzende musikpädagogische „Arbeitsgemeinschaft Unterrichtsforschung“, deren Leitung er innehatte. Zudem wurde er 1971 mit der Planung und wissenschaftlichen Betreuuung von Gesamtschulversuchen durch das Kultusministerium Niedersachsen betraut.
Ein breites Spektrum an Praxiserfahrung brachte ebenfalls Peter Fuchs (geb. 1925), Professor für Musik und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, ein, der nach Studien der Pädagogik, Psychologie, Philosophie und Musikwissenschaft als Lehrer an Volksschulen, Realschulen, Lehreroberschule und Aufbaugymnasium tätig war. Der Anspruch der universellen Anwendbarkeit des Modells der „Auditiven Wahrnehmungserziehung“ scheint mit der Bandbreite der Vorerfahrungen der Autoren bzw. an ihrem Interesse der Vermittelbarkeit von Musik in Gruppen der verschiedensten Vorkenntnisse und Altersstufen zu korrespondieren, wobei als Ideal im schulischen Bereich die Gesamtschule galt. So beschäftigte sich auch Gottfried Küntzel (geb. 1925), Professor für Musikerziehung an der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen Abteilung Lüneburg, neben hochschuldidaktischen Fragen mit musikalischer Erwachsenenbildung und musikalischer Füherziehung. Willi Gundlach (geb.1929), Professor für Musik und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Ruhr, Abteilung Dortmund, widmete sich neben seiner Tätigkeit in der Curriculumforschung intensiv mit der Frage des Musikunterrichtes an Gesamtschulen, hatte seit 1970 die Leitung der wissenschaftlichen Begleitung von Gesamtschulversuchen Sektion Musik in Dortmund inne. Rudolf Frisius (geb. 1941) schließlich studierte Musikwissenschaft, Philosophie, Kunstgeschichte und Mathematik, arbeitete dann wissenschaftlich im universitären Bereich und als musikwissenschaftlicher Berater des Ernst-Klett- Verlages.
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1 Arbeitsgemeinschaft Curriculum Musik: Sequenzen Arbeitsbuch. Beiträge und Modelle zum Musik-Curriculum, Elemente zur Unterrichtplanung, Stuttagrt 1972, S. 02.
2 Sequenzen Arbeitsbuch, S.01.
3 Sequenzen Arbeitsbuch, vergl. S. 04.
4 Sequenzen Arbeitsbuch, vergl. S. 07.
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- Kerstin Sieben-Kaiser (Autor:in), 2005, Auditive Wahrnehmungserziehung. Konzeption und Entwicklungsstadien sowie Praxis, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/1184891