In der vorliegenden Hausarbeit wird sich die Autorin mit Brechts Theorie des epischen Theaters und dessen Mitteln auseinandersetzen und die gewonnenen Erkenntnisse dabei immer wieder auf die Dreigroschenoper anwenden, die Brecht selbst als Musterbeispiel des epischen Theaters bezeichnet hat. Die Hervorbringung des Verfremdungseffekts durch ästhetische Mittel, den Schauspieler selbst, Historisierung und Musik wird dabei im Fokus stehen. Inwieweit gerade durch Letztgenanntes ein Verfremdungseffekt zustande kommt, soll exemplarisch am Song "Die Seeräuber-Jenny" analysiert werden. Die Entscheidung, der Musik in dieser Arbeit einen besonderen Stellenwert zuzuweisen, lässt sich damit begründen, dass Brechts Werke, eben auch die Dreigroschenoper, musikwissenschaftlich bisher kaum beachtet wurden. Zwar kann die Betrachtung des Songs einer musikwissenschaftlichen Analyse nicht gleichkommen, sie wird sich aber genau mit der Musik auseinandersetzen und ergründen, inwieweit sie im Zusammenspiel mit dem Text einen Verfremdungseffekt hervorbringt. Eine Analyse ohne entsprechende Fachkenntnisse ist insoweit sinnvoll, da Weill die Songs für den musikalischen Laien komponiert hat.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Notwendigkeit eines neuen Theaters
3. Die Dreigroschenoper
4. Mittel des epischen Theaters
4.1. Trennung der Elemente
4.2. Verfremdung statt Einfühlung. Der V-Effekt
4.2.1. Historisierung
4.2.2. Die Musik im epischen Theater
5. Analyse des Songs „Die Seeräuber-Jenny“
6. Schlussbemerkung
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In der vorliegenden Hausarbeit werde ich mich mit Brechts Theorie des epischen Theaters und dessen Mitteln auseinandersetzen und die gewonnenen Erkenntnisse dabei immer wieder auf die Dreigroschenoper anwenden, die Brecht selbst als Musterbeispiel des epischen Theaters bezeichnet hat. Die Hervorbringung des Verfremdungseffekts durch ästhetische Mittel, den Schauspieler selbst, Historisierung und Musik wird dabei im Fokus stehen. Inwieweit gerade durch Letztgenanntes ein Verfremdungseffekt zustande kommt, soll exemplarisch am Song „Die Seeräuber-Jenny“ analysiert werden. Die Entscheidung, der Musik in meiner Arbeit einen besonderen Stellenwert zuzuweisen, lässt sich damit begründen, dass Brechts Werke, eben auch die Dreigroschenoper, musikwissenschaftlich bisher kaum beachtet wurden. Zwar kann meine Betrachtung des Songs einer musikwissenschaftlichen Analyse nicht gleichkommen, sie wird sich aber genau mit der Musik auseinandersetzen und ergründen, inwieweit sie im Zusammenspiel mit dem Text einen Verfremdungseffekt hervorbringt. Eine Analyse ohne entsprechende Fachkenntnisse ist insoweit sinnvoll, da Weill die Songs für den musikalischen Laien komponiert hat.
2. Die Notwendigkeit eines neuen Theaters.
Nach der Niederlage im ersten Weltkrieg kam es in Deutschland zu großen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen.
Die neuen Zustände waren von täglicher Aufruhr geprägt und machten die herkömmliche Dramaturgie, die friedliches Zusammenleben in gehobenem Versmaß wiedergab und ein Theater, das dem reinen Genussakt diente unmöglich (vgl. Buehler: 1978, 7).
Stattdessen war Brecht der Auffassung, dass die neue Zeit auch ein neues Theater verlange, das Stoffe und Formen verwendet, die der neuen Realität entsprechen (vgl. ebd., 33) und die Welt so zeigt, wie sie gesehen wird.
Zur Bewältigung der neuen Stoffe eines komplexen Weltbildes, zu denen beispielsweise Proletarisierung und Kapitalismus gehörten, war nach Brecht das epische Theater am besten geeignet, da es „die gesellschaftlichen Prozesse in ihren kausalen Zusammenhängen“ (Brecht: 1967b, 546) darstellen könne. Obwohl Brecht sein episches Theater als antiaristotelisch bezeichnet, richtet sich seine Kritik nicht gegen Aristoteles selbst, sondern gegen die damalige Theaterpraxis, die an alten, unzeitgemäßen Stoffen festhielt, die die moderne Gesellschaft nicht mehr bewegten und demnach nicht die Erfahrungen wiederspiegelten, mit denen sich der zeitgenössische Mensch konfrontiert sah (vgl. Knopf: 1980, 385).
Brecht war der Ansicht, dass sich jede Gesellschaft in einem stetigen Wandel befindet und das Theater somit auch immer wieder Veränderungen unterworfen werden muss, um der momentanen Situation gerecht zu werden: „Unaufhörlich müssen wir darüber nachdenken, wie das Theater sein müsste, damit es dieser Zeit, die sich von anderen Zeiten zumindest nicht weniger unterscheidet als jede Zeit von jeder andern Zeit, etwas zu sagen habe.“ (Brecht, Aufruf an die Theater, Schriften zum Theater 1, S.181)
Das Theater muss sich also den sozialen und gesellschaftlichen Zuständen anpassen, da Brecht ihm die Aufgabe zutraut, eine Veränderung eben dieser anzuregen. Brecht betont, dass es sich beim epischen und dramatischen Theater nicht um absolute Gegensätze handle, sondern es bloß einige Akzentverschiebungen gäbe (vgl. Kesting: 1959, 60). Besonders die Behauptung des aristotelischen Theaters den Menschen in seiner Allgemeingültigkeit darzustellen, unabhängig von der historischen Epoche, kritisiert Brecht (vgl. Knopf; 1980, 384). Daher besteht eine der erwähnten Akzentverschiebungen darin, dass der Mensch und die auf ihn wirkenden sozialen, historischen und wirtschaftlichen Einflüsse im epischen Theater nicht mehr als Fixum, sondern als veränderlich dargestellt und zum Gegenstand der Untersuchung werden (Buehler: 1978, 118).
Brecht führte das Theater vom reinen l'art pour l'art Prinzip, Kunst um ihrer Selbstwillen, fort und ließ es durch die Einsicht in gesellschaftliche Strukturen, gesellschaftliche Kritik üben. Die Forderung eines neuen Theaters ging demnach mit der Forderung einer neuen Gesellschaftsordnung einher (vgl. Wagner: 1977, 68). Der Zuschauer sollte nicht mehr nur unterhalten werden und sich unreflektiert in die Figuren einfühlen, sondern wurde zum kritischen Denken angeregt, so dass Erkenntnisse gewonnen werden können, wie Verhalten, Lebensweise, Gesellschaftsverhältnisse und auch der Mensch selbst geändert werden kann (vgl. Brecht: 1967a, 474).
Eine weitere Akzentverschiebung besteht darin, dass im epischen Theater jede Szene für sich alleinsteht und dadurch eine gewisse Eigenständigkeit besitzt. Dadurch wird die Aufmerksamkeit des Zuschauers statt auf den Ausgang der Handlung auf den Gang der Handlung gelenkt, die sich nicht linear, sondern in Kurven vollzieht (vgl. Buehler: 1978, 120).
Den gleichen Zweck erfüllen Projektionen von Titeln und Inhaltsangaben, da sie die Handlung bereits vorwegnehmen und der Zuschauer sich auf die Art und Weise konzentrieren kann, wie sie vonstatten geht (vgl. Cheon: 2018, 126).
Brecht selbst hat in seinen Anmerkungen zur Oper episches und dramatisches Theater einander gegenübergestellt und dabei dem epischen Theater den Terminus „Ratio“ und dem dramatischen Theater den Terminus „Gefühl“ zugewiesen. Darauf zurückgehend wurde Brecht lange vorgeworfen, in seinem Theater jegliches Gefühl ausmerzen zu wollen, was allerdings nicht seiner Intention entsprach. Brecht war nicht grundsätzlich gegen Gefühle, sondern nur gegen unkontrollierte, den Menschen in Rausch versetzende Gefühle (vgl. Knopf: 1980, 384f), die eine distanzierte und kritische Haltung des Publikums verhindern.
Eine letzte Akzentverschiebung, die ich an dieser Stelle aufgreifen möchte umfasst die Illusionserzeugung. Das epische richtet sich gegen jegliche Illusionserzeugung, stattdessen soll der Zuschauer erkennen, dass er sich im Theater befindet, die Vorgänge auf der Bühne nicht real, sondern künstlich hergestellte Wiederholungen und die Schauspieler nicht identisch mit den Bühnenfiguren sind (vgl. ebd., 384). Trotzdem äußert Brecht, dass sich unser alltägliches Kunstverständnis gerade dadurch definiert, dass wir uns, im Sinne der aristotelischen Dramatik, durch eine von ihr erzeugte Illusion in eine andere Welt entführen und uns von ihr mitreißen lassen. Damit bringt er die Frage in Spiel, inwieweit Kunst auf anderer Basis als der Einfühlung stattfinden könne. In diesem Zusammenhang fällt der Begriff der Verfremdung, die, in ihrer Wirkung der Einfühlung entgegengesetzt, dafür sorgen soll, dass der Zuschauer mit wachen Sinnen in der Realität bleibt und eine kritische Haltung möglich ist (vgl. Brecht: 1967a, 300f).
3. Die Dreigroschenoper
Es war Elisabeth Hauptmann, die Brecht auf die „Beggar's Opera“ von John Gay aufmerksam machte und 1927/28 eine deutsche Übersetzung des Werkes anfertigte, die Brecht anschließend zu bearbeiten begann.
Ernst Josef Aufricht, der gerade das Theater am Schiffbauerdamm gemietet hatte, war von den Szenen, die Brecht ihm vorlegte derart begeistert, dass er ihn mit der Fertigstellung und Einstudierung des Stückes beauftragte. Die Komposition der neuen Musik übernahm Kurt Weill (vgl. Knopf: 1980, 53).
Brecht und Weill bezeichnen die Dreigroschenoper als Urtypus der Oper, da sie sowohl Elemente der Oper als auch des Dramas beinhalte. Mit ihr wollen die beiden ihre Kritik am bürgerlichen Opernbetrieb und der Operntradition üben (vgl. Lucchesi & Shull: 1988, 25), da die Oper im Gegensatz zum Theater offenbar nicht dazu im Stande sei, sich an die zeitlichen Umstände anzupassen und dementsprechende Stoffe und Themen zu behandeln. Daher sieht Brecht die Notwendigkeit, den Rahmen der traditionellen Oper zu sprengen, gewissermaßen einen neuen Operntypus zu schaffen, der den Anforderungen des neuen Zeitalters gerecht werden kann (vgl. Hecht: 1985, 67f).
Thematisch geht es in der Dreigroschenoper um „die bürgerliche Ordnung als räuberliche Ordnung, die unter der Fassade von Wohlanständigkeit, Moral, Geschäft und Glanz versteckt ist“ (Knopf: 1980, 58). Dem Bürger liegt daran, die Ordnung des gegenwärtigen Zustandes so zu erhalten, wie sie ist, weil er so sein Geschäft aufrecht erhält. In dieser Welt bekommt alles, sogar der Bürger einen Waren-Charakter (vgl. ebd.). Es wird demnach kritisiert, dass alles, einschließlich der Mensch als Ware angesehen wird und die menschlichen Beziehungen nur noch durch Kapitalisierung und einen Ware-Geld-Charakter bestimmt sind.
Im Folgenden werde ich die Grundpfeiler, beziehungsweise die Mittel des epischen Theaters einzeln betrachten und der Übersichtlichkeit halber direkt im Anschluss auf die Dreigroschenoper anwenden, die Brecht selbst als die erfolgreichste Demonstration epischen Theaters bezeichnet hat (vgl. Brecht: 1967a , 473).
Da die Handlung der Dreigroschenoper allgemein bekannt und für die folgenden Ausführungen nicht ausschlaggebend ist, kann an dieser Stelle auf ihre Darstellung verzichtet werden.
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