Wie kann es sein, dass der in der „Alltagspsychologie“ außerordentlich populäre Begriff der Massenpsychologie und das dahinter stehende gedankliche Konzept in der wissenschaftlichen Fachdiskussion so gut wie keine Rolle mehr spielen?
Die Arbeit gibt einen kritischen Überblick über ausgewählte Ansätze zur Massenpsychologie.
Inhaltsverzeichnis
I. Einführung
II. Geburt der Massenpsychologie
1. Gustave Le Bon
2. Gabriel Tarde
3. Scipio Sighele
III. Die Wirkungsgeschichte
1. Edward Alsworth Ross
2. William McDougall
3. Sigmund Freud und der psychoanalytische Ansatz
4. Kulturphilosophische Ansätze
a) José Ortega y Gasset
b) Hermann Broch
c) Elias Canetti
IV. Empirische Forschung und die behavioristische Wende
V. Kritik und Fazit
Literaturverzeichnis
I. Einführung
Die „Massenpsychologie“ wird im aktuellen Wikipedia-Eintrag beschrieben als jenes Teilgebiet der Sozialpsychologie, das sich mit dem Verhalten von Massen in Menschenansammlungen beschäftigt. Ihr Fundament bilde die „zum allgemeinen Erfahrungsschatz gehörende Tatsache, dass große Menschenmassen oft überraschend und irrational erscheinendes Verhalten zeigen“ (Wikipedia, 2021). Als Begründer der Massenpsychologie wird meist der französische Arzt Gustave Le Bon mit seinem im Jahr 1895 erschienenen Werk „Psychologie der Massen“ (Original: „Psychologie des foules“) gesehen. Pointiert – in der Sache freilich nicht ganz zutreffend (vgl. S. 6) – formuliert etwa Serge Moscovici: „Die Massenpsychologie ist von Le Bon ins Leben gerufen worden, das weiß jeder“ (Moscovici, 1986, S. 71).
Seit dem Heraufziehen des 20. Jahrhunderts bildete die Massenpsychologie für mehrere Jahrzehnte einen zentralen Gegenstand des öffentlichen Diskurses. Im deutschen Sprachraum beteiligten sich daran prominente Intellektuelle wie Theodor W. Adorno, Hermann Broch, Elias Canetti, Sigmund Freud, Theodor Geiger, Alexander Mitscherlich und zahlreiche weitere Autoren. In der populärwissenschaftlichen Literatur nimmt die Massenpsychologie noch heute breiten Raum ein. So dient der Verweis auf angebliche Erkenntnisse der Massenpsychologie nicht nur zur Erklärung des Geschehens auf den Finanzmärkten (Kitzmann, 2009, S. 20 ff.), sondern generell zur Deutung turbulenter Entwicklungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft (Brudermann, 2010, S. 1; Heiland, 2020, S. 322 ff.; Masley, 2020, S. 34 ff.).
In der psychologischen Fachliteratur der Gegenwart spielt die Massenpsychologie hingegen keine wesentliche Rolle. In manchem modernen Standard-Lehrbuch zur Psychologie oder Sozialpsychologie taucht sie weder im Stichwortverzeichnis auf, noch wird ihr in der systematischen Darstellung Raum gewidmet (vgl. nur Jonas/Stroebe/Hewstone, 2014). In Übereinstimmung damit wird Le Bon die Aufnahme in den erlauchten Kreis der „Klassiker der Psychologie“ verweigert (vgl. Lück/Miller/Sewz, 2018) und beschreibt das von Wolfgang Schönpflug verfasste Standardwerk zur Geschichte und Systematik der Psychologie die Massenpsychologie nicht etwa als tragende Säule oder selbständigen Bereich der Sozialpsychologie, sondern als zeitgebundenes Konstrukt vereinzelter Autoren, über das die Zeit hinweg gegangen ist (Schönpflug, 2013, S. 216 f.).
Die Verdrängung der Massenpsychologie aus dem wissenschaftlichen Diskurs ist keine deutsche Besonderheit. So wies Moscovici mit Blick auf Gustave Le Bon schon in den 1980er Jahren darauf hin, dass die in Frankreich publizierten Werke seinen außerordentlichen Einfluss auf die Gesellschaftswissenschaften bereits „seit fünfzig Jahren nicht mehr“ erwähnten (Moscovici, 1986, S. 71). Mit ähnlicher Grundtendenz konstatiert Kurt Baschwitz hinsichtlich der amerikanischen Diskussion, dass die Kritik an der von Le Bon begründeten Massenpsychologie in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts in sanfter Tonart eingesetzt habe und sodann „immer schärfer und einhelliger geworden [sei]“ (Baschwitz, 1951, S. 49).
Dieser Befund macht neugierig: Wie kann es sein, dass der in der „Alltagspsychologie“ außerordentlich populäre Begriff der Massenpsychologie und das dahinter stehende gedankliche Konzept in der wissenschaftlichen Fachdiskussion so gut wie keine Rolle mehr spielen? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden, wobei angesichts der Fülle des Materials und des Nuancenreichtums der verschiedenen Ansätze im Rahmen dieser Arbeit allenfalls eine grobe Skizze gelingen kann.
II. Geburt der Massenpsychologie
1. Gustave Le Bon
Gustave Le Bon (1841 – 1931) erkannte in der „Masse“ das zentrale Movens der modernen Gesellschaft. Im Hinblick auf die Ausformung der Gesellschaft sei die „Macht der Massen die einzige Kraft, die durch nichts bedroht wird und deren Ansehen immer mehr wächst“ (Le Bon, 1895/2009, S. 22). Angesichts dieser Erkenntnis und der von ihm wahrgenommenen Veränderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit sah Le Bon sich sogar an der Schwelle zu einem „Zeitalter der Massen“ (Le Bon, 1895/2009, S. 22).
Die von Le Bon zum Gegenstand seiner Betrachtung gemachte psychologische Masse (auch „organisierte Masse“, Le Bon, 1895/2009, S. 29) sei ein dem „Gesetz der seelischen Einheit der Massen“ unterliegendes Kollektivwesen, das sich unter bestimmten Umständen ergebe und neue, von den Eigenschaften ihrer Angehörigen verschiedene, Eigentümlichkeiten aufweise. Die Position des Individuums in der Masse werde bestimmt durch ein „Schwinden der bewussten Persönlichkeit, Vorherrschaft des unbewussten Wesens, Leitung der Gedanken und Gefühle durch Beeinflussung und Übertragung in der gleichen Richtung, Neigung zur unverzüglichen Verwirklichung der eingeflößten Ideen“ (Le Bon, 1895/2009, S. 37). Auf diese Weise bilde sich eine Gemeinschaftsseele, die zwar veränderlich, aber von eigener Art sei (Le Bon, 1895/2009, S. 29) und vermöge deren jeder einzelne in ganz anderer Weise als jeweils für sich fühlen, denken und handeln würde (Le Bon, 1895/2009, S. 32).
Für die Dynamik solcher Massen sei die Beeinflussbarkeit („suggestibilité“) ihrer Angehörigen von besonderer Bedeutung. Diese zeige sich insbesondere in der geistigen Ansteckung („contagion mentale“), die Le Bon mit den folgenden Worten beschreibt:
„Die Übertragung ist leicht festzustellen, aber noch nicht zu erklären; man muss sie den Erscheinungen hypnotischer Art zuordnen[…]. In der Masse ist jedes Gefühl, jede Handlung übertragbar, und zwar in so hohem Grade, dass der einzelne sehr leicht seine persönlichen Wünsche den Gesamtwünschen opfert. Diese Fähigkeit ist seiner eigentlichen Natur durchaus entgegengesetzt, und nur als Bestandteil einer Masse ist der Mensch dazu fähig“ (Le Bon, 1895/2009, S. 36).
Die psychologische Masse werde in Ihren Handlungen beinahe ausschließlich vom Unbewussten geleitet. Nichts sei bei den Massen vorbedacht, weshalb sie sich unter dem Eindruck von Augenblicksreizen verändern könnten, und nichts sei für lange Zeit. Die Masse sei zu ausdauerndem Wollen wie Denken gleichermaßen unfähig (Le Bon, 1895/2009, S. 42). Dies gelte für Massen aus Ungebildeten wie Gelehrten ohne Unterschied: „in der Masse gleichen sich die Menschen stets einander an, und die Abstimmung von vierzig Akademikern über allgemeine Fragen gilt nicht mehr als die von vierzig Wasserträgern“ (Le Bon, 1895/2009, S. 169 f.). Dabei brauche eine Masse „nicht zahlreich zu sein, um die Fähigkeit des richtigen Sehens zu verlieren und die wirklichen Tatsachen durch davon abweichende Täuschungen zu ersetzen. Die Versammlung einiger einzelner bildet eine Masse; und selbst wenn es hervorragende Gelehrte wären, so würden sie doch alle für die Dinge, die außerhalb ihres Faches liegen, die Massenkennzeichen annehmen. Das Beobachtungsvermögen und der kritische Geist eines jeden von ihnen schwinden sofort“ (Le Bon, 1895/2009, S. 47).
In ihren Emotionen sei die Masse stets überschwänglich und undifferenziert, wodurch sie sich vor Zweifeln und Ungewissheit schütze. Damit einher gingen ausgeprägte Herrschsucht und Unduldsamkeit (Le Bon, 1895/2009, S. 53 ff.). Ideen seien der Masse nur in sehr einfacher Gestalt zugänglich, wozu die Ideen beinahe all dessen entkleidet werden müssten, was ihre Größe und Erhabenheit ausmache (Le Bon, 1895/2009, S. 64). Denken könne die Masse nur in Bildern, und nur sie spornten die Phantasie der Masse an, während Tatsachen als solche sie weitgehend unberührt ließen (Le Bon, 1895/2009, S. 72). Demgemäß hätten die Gesetze der Logik keinerlei Einfluss auf die Masse (Le Bon, 1895/2009, S. 108), weshalb diese „nur eingeflößte, nie vernünftige Meinungen“ (Le Bon, 1895/2009, S. 167) habe. Sei der Masse allerdings auf diese Weise ein Ideal suggeriert worden, habe sie jederzeit die Bereitschaft, sich für dieses Ideal zu opfern.
Wesensmäßig unterscheidet Le Bon fünf Arten der Masse, die bei jedem Volk zu beobachten seien (Le Bon, 1895/2009, S. 145 ff.). So gebe es ungleichartige Massen (foules hétérogènes) in Gestalt der „namenlose Masse“ (z. B. Straßenansammlungen) und der „nicht namenlose Masse“ (z. B. Geschworenengerichte, Parlamente), neben denen die gleichartigen Massen (foules homogènes) in Form der Sekten (politische, religiöse und andere Sekten), der Kasten (militärische, Priester-, Arbeiter- und andere Kasten) sowie der Klassen (Bürger, Bauern, usw.) stünden.
Insgesamt sind die Ausführungen von Le Bon in einem bemerkenswert kulturpessimistischen Grundton gehalten, der angesichts der Verunsicherung der Franzosen durch die „Schmach von Sedan“ eine breite gesellschaftlichen Strömung in der Dritten Französischen Republik ansprach. Besonders deutlich tritt er in den Überlegungen Le Bons zur parlamentarischen Demokratie hervor. Nach Ansicht von Le Bon seien Demokratien einer kontinuierlichen Fortentwicklung nicht fähig, sondern – damit steht Le Bon in der Kulturphilosophie nicht allein – einem ständigen Kreislauf ausgesetzt, wie Le Bon im letzten Satz der „Psychologie der Massen“ mit den folgenden Worten artikuliert: „Aus der Barbarei von einem Wunschtraum zur Kultur geführt, dann, sobald dieser Traum seine Kraft eingebüßt hat, Niedergang und Tod – in diesem Kreislauf bewegt sich das Leben eines Volkes“ (Le Bon, 1895/2009, S. 190).
2. Gabriel Tarde
Gabriel Tarde (1843 – 1904) hatte sich im Rahmen seiner kriminologischen Forschungen sowie insbesondere in seinem erstmals 1890 publizierten umfangreichen Werk „Die Gesetze der Nachahmung“ („Les Lois de l’Imitation“) bereits einige Jahre vor Le Bon mit dem Verhalten der Menschen in Massen beschäftigt und damit wesentliche Vorarbeiten geleistet, auf die Le Bon sich vereinzelt berief (vgl. Le Bon, 1895/2009, S. 55). Für das Verständnis der Arbeiten von Tarde zur Psychologie der Massen ist wesentlich, dass er entgegen heftiger zeitgenössischer Kritik seitens beispielsweise Emile Durkheim (Durkheim, 1895) und Albion Woodbury Small (Small, 1905) die Nachahmung als zentrales Element jeder menschlichen Gesellschaft sah: „Kurz gesagt, alle Phänomene der Gesellschaften, die sozial und nicht vital oder physisch sind, beruhen sowohl in ihren Gemeinsamkeiten als auch in ihren Unterschieden auf Nachahmung“ (Tarde, 1890/1895, S. 73 – Übersetzung durch den Verfasser). Hierin wird häufig ein markanter Unterschied zur Ansteckungstheorie von Le Bon gesehen; näheres Hinsehen zeigt indes, dass die Nachahmung im Verständnis Tardes und die Ansteckung nach der Vorstellung von Le Bon einander im Wesentlichen entsprechen (in diesem Sinne wohl auch Reiwald, 1948, S. 137).
Die wichtigsten Überlegungen zur Massenpsychologie hat Tarde in seinem Werk „Masse und Meinung“ („L’Opinion et la foule“, 1901) zusammengefasst. Darin wendet er sich scharf gegen die bei Le Bon im Zentrum der Überlegungen stehende Annahme, in der Masse wirke ein Kollektivgeist „außerhalb oder oberhalb der individuellen Bewusstseine“ (Tarde, 1901/2015, S. 7). Strukturell seien Individualpsychologie („gewöhnliche Psychologie“) und Kollektiv- bzw. Sozialpsychologie insofern gleich, als sie sich jeweils mit den Beziehungen des Individuums zur Außenwelt befassten. Während die Individualpsychologie die Beziehungen des Bewusstseins zu den anderen Wesen der Außenwelt in den Blick nehme, gehe es der Kollektivpsychologie um die gegenseitigen Beziehungen von Bewusstsein zu Bewusstsein.
Eine menschliche Masse ist für Tarde nur eine unstrukturierte „Versammlung heterogener Elemente, die sich gegenseitig unbekannt sind“ (Tarde, 1890, S. 320). Bei ihr handele es sich um ein räumlich zusammengefasstes „Bündel psychischer Ansteckungen, die im Wesentlichen durch körperliche Berührung zustande kommen“ (Tarde, 1901/2015, S. 10) und die zerfällt, „wenn die Individuen sich so weit voneinander entfernen, daß sie sich nicht mehr im Blick haben, oder über eine gewisse, sehr kurze Zeit hinaus auf Distanz bleiben“ (Tarde, 1901/2015, S. 10).
Die so verstandene Masse müsse insbesondere vom Publikum unterschieden werden. Das Publikum sei ein „rein geistiges Kollektiv“, eine „räumliche Verteilung physisch voneinander getrennter Individuen, deren Zusammenhalt ein rein psychischer ist“ (Tarde, 1901/2015, S. 9). Zwischen den Angehörigen eines Publikums wirke eine „Suggestion aus der Ferne“ (Tarde, 1901/2015, S. 12), so dass sie sich jeweils bereits „von dem bloßen Gedanken des Blicks der anderen beeindrucken lassen“ (Tarde, 1901/2015, S. 12 – Hervorhebung im Original).
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