Was genau ist ein Verfremdungseffekt und inwiefern kann Verfremdung durch einen solchen Effekt provoziert werden? Diese Fragestellung soll im Verlauf dieser Arbeit behandelt werden.
Reinhold Grimm benennt drei Bereiche, in denen die Verfremdung auftritt. Zum Ersten während des Schreibens und zweitens während der eigentlichen Inszenierung, auf welche Regisseure, Bühnenbauer*innen sowie Kostüm- und Maskenbildner*innen Einfluss haben. Der dritte Bereich wird dem Spiel der Schauspieler*innen zugeschrieben, weil sie „ihre Rollen nicht mehr verkörpern, sondern zeigen.“ Diese Bereiche beinhalten allerdings keine festgelegten Grenzen, sondern verschwimmen ineinander, da Brecht beispielsweise innerhalb seiner Stücke Anweisungen für mehrere Bereiche angab.
Im Folgenden soll der Verfremdungseffekt anhand diverser Forschungspositionen erläutert werden. Dafür wurde die Dreiteilung von Grimm für die Arbeit berücksichtigt. Da sich nur auf Brechts Werk Mutter Courage und ihre Kinder und keine Inszenierung bezogen wird, können die Bereiche zwei und drei nicht übernommen werden. Der Teil der Schauspieler*innen wird demnach auf die zu demonstrierenden Figuren und somit in etwa auf den Teil des Verfassens als Zusatz verlagert. Der Bereich der Inszenierung wird als Auswirkung auf die Rezipient*innen im Nachgang berücksichtigt und ergänzt somit ebenfalls den Teil des Schreibens. Zusätzlich wird dies anhand von resultierenden Wirkungen sowie Textbelegen aus Brechts Mutter Courage und ihre Kinder erweitert und kritisch hinterfragt. Letztlich werden die Erkenntnisse zusammengefasst.
Inhaltsverzeichnis
1. Durch Verfremdung zur Erkenntnis?
2. Der Verfremdungseffekt
2.1 Theorie der Verfremdung
2.2 Figuren in der Verfremdung
3. Kritik an Brecht
4. Fazit
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
1. Durch Verfremdung zur Erkenntnis?
„Der Mensch soll Ursache und Wirkung seines gesellschaftlichen Seins begreifen lernen, das Überlieferte, Gewordene, für immer beständig Scheinende als wandelbar erkennen [...]“.1 Eine sich ständig entwickelnde Gesellschaft fordert eine sich entfaltende Dramentheorie. Bertolt Brecht revolutionierte Aristoteles‘ Ansatz2, indem er die Katharsis der Rezipient*innen als ‚Einfühlung‘ verwirft.3 Brecht definierte seine ‚vision du monde‘4 und formulierte als Aufgabe des Theaters, eine kritische Betrachtung und die Hinterfragung des Dargestellten sowie die daraus resultierende Weiterentwicklung der Rezipierenden selbst. Diese sollen allgemein lernen, kritisch Positionen zu beziehen.5 Um einen „explizit[en] [Verweis] auf seinen Schein- und Spielcharakter“6 und keine emotionale Identifizierung zwischen dem Dargestellten und den Beobachtenden zu erwirken, benennt Brecht als Medium den Verfremdungseffekt.7 „[D]ie Verfremdung ist der Schlüsselbegriff seiner ganzen Theorie.“8 Verfremdung wird im Reallexikon der Literaturwissenschaft als „[k]ünstlerisches Prinzip [definiert], das auf die Darstellung des Vertrauten als befremdlich, des alltäglich Gewohnten als ungewöhnlich und erstaunlich abzielt.“9 Doch was genau ist ein Verfremdungseffekt und inwiefern kann Verfremdung durch einen solchen Effekt provoziert werden? Diese Fragestellung soll im Verlauf dieser Arbeit behandelt werden.
Reinhold Grimm benennt drei Bereiche, in denen die Verfremdung auftritt. Zum Ersten während des Schreibens und zweitens während der eigentlichen Inszenierung, auf welche Regisseure, Bühnenbauer*innen sowie Kostüm- und Maskenbildner*innen Einfluss haben.10 Der dritte Bereich wird dem Spiel der Schauspieler*innen zugeschrieben, weil sie „ihre Rollen nicht mehr verkörpern, sondern zeigen.“11 Diese Bereiche beinhalten allerdings keine festgelegten Grenzen, sondern verschwimmen ineinander, da Brecht beispielsweise innerhalb seiner Stücke Anweisungen für mehrere Bereiche angab.12 Im Folgenden soll der Verfremdungseffekt anhand diverser Forschungspositionen erläutert werden. Dafür wurde die Dreiteilung von Grimm für die Arbeit berücksichtigt. Da sich nur auf Brechts Werk Mutter Courage und ihre Kinder und keine Inszenierung bezogen wird, können die Bereiche zwei und drei nicht übernommen werden. Der Teil der Schauspieler*innen wird demnach auf die zu demonstrierenden Figuren und somit in etwa auf den Teil des Verfassens als Zusatz verlagert. Der Bereich der Inszenierung wird als Auswirkung auf die Rezipient*innen im Nachgang berücksichtigt und ergänzt somit ebenfalls den Teil des Schreibens. Zusätzlich wird dies anhand von resultierenden Wirkungen sowie Textbelegen aus Brechts Mutter Courage und ihre Kinder erweitert und kritisch hinterfragt. Letztlich werden die Erkenntnisse zusammengefasst.
2. Der Verfremdungseffekt
Für Brecht ist die Verfremdung, anfangs noch ‚Entfremdung‘,13 unverzichtbar für das epische Theater, sie „ist in der Tat die Grundstruktur“.14 Die Rezipient*innen schenken alltäglichen Handlungen allein durch unerwartete Differenzen oder ein kurzes Stocken Beachtung und werden dazu aufgefordert, sich intensiv mit der Thematik auseinanderzusetzten. Die Grundstruktur der Verfremdung sei nach Grimm das „bewusste[...] oder unbewusste[...] Sichtbarmachen[...] von Widersprüchen“15 und soll im Folgenden genauer analysiert werden.
Die Figuren und Geschehnisse sollen, um hinterfragt werden zu können, historisiert abgebildet werden.16 „Dem Eindruck des Schicksalhaft-Unabänderlichen wird durch das Prinzip der Historisierung entgegengearbeitet“,17 indem Handlung und Figuren als veränderbar aufgezeigt werden:18 Der Blickwinkel wird von den „welthistorischen Individuen [...] [auf] die ‘kleinen Leute‘“19 verlagert. Dabei wird ebenfalls der Fokus verändert, da der historische Ausgang zwar als Randbedingung fortbesteht, die Betrachtungsweise allerdings auf die genannten ‚kleinen Leute‘ und ihre eigene Geschichte verschoben wird.20 So steht der Dreißigjährige Krieg historisch gesehen in diesem Werk im Hintergrund. Das Volk verschärft den Blickwinkel auf das alltägliche (Über-)leben des Volkes.21
Die Anordnung Brechts Mutter Courage und ihre Kinder als Chronik zählt ebenso als episches Mittel.22 Der Spannungsbogen wird für die Episodenstruktur aufgehoben, um die Darstellung hervorzuheben.23 Somit lässt sich Episierung als „eine an den kritischen Verstand des Zuschauers appellierende Illusionsdurchbrechung“ definieren.24 Auf diese und weitere Effekte wird im Folgenden anhand Brechts Mutter Courage und ihre Kinder differenziert eingegangen.
2.1 Theorie der Verfremdung
Brecht begründete das Epische Theater mithilfe einer wissenschaftlichen Lehrfunktion.25 Die Rezipient*innen sollen die Geschehnisse hinterfragen und sich nicht länger mit den Figuren identifizieren. Die Schauspieler*innen nehmen bei diesem Prozess eine vermittelnde Position ein, sie demonstrieren die Handlungen der Figuren für die Rezipient*innen.26 Dies wird unter dem Begriff Gestus des Zeigens zusammengefasst.27 Brecht wendet sich „gegen die Löschung der realen Person des Schauspielers [...], gegen seine ‚restlose Verwandlung‘ in die fiktive Figur“.28 Es kommt demnach nicht zu einer Illusion, sondern zu der Zerstörung derselben.29 Diese Spaltung beginnt allerdings bereits in dem ersten von Grimms Teilen, dem des Autors: Es wird zu Mitteln, wie der Kontrastierung gegriffen, welche als „brüske Gegenüberstellung zweier Tatsachen, die man für gewöhnlich nicht zusammenzusehen pflegt“30 definiert wird. Grimm verweist bei der Kontrastierung auf die letzte Szene, in welcher Mutter Courage für ihre verstorbene Tochter „ein Wiegenlied [singt], in welchem erzählt wird, wie gut es dieses Kind im Gegensatz zum Nachbarskind hat [...] und daß es [zu diesem Zeitpunkt] gesungen wird, verfremdet törichten Wunsch und traurige Wahrheit aufs äußerste.“31
[...]
1 Grimm, Reinhold: Bertolt Brecht. Die Struktur seines Werkes. Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft. Band 5, 6. durchges. und erg. Aufl. Nürnberg 1972, S. 5.
2 Vgl. ebd. S. 12.
3 Vgl. Grimm, Reinhold: Vom Novum zum Kleinen Organon. Gedanken zur Verfremdung, in: Das Ärgernis Brecht. Kritische Beiträge von Siegrfried Melchinger, Rudolf Frank, Reinhold Grimm, Erich Franzen, Otto Mann, hrsg. v. Willy Jäggi, Hans Oesch, Stuttgart 1961, S. 46-70. (hier S. 51).
4 Vgl. Fang, Weigui: Brecht und Lu Xun. Eine Studie zum Verfremdungseffekt. Reihe Sprach- und Literaturwissenschaft, Band 27, Pfaffenweiler 1991, S. 101.
5 Vgl. Grimm, Reinhold: Bertolt Brecht. Die Struktur seines Werkes, S. 13.
6 Müller, Klaus-Detlef: Art. Episches Theater, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hrsg. v. Jan-Dirk Müller, Berlin/ New York 2007, Band 1, Sp. 468-471. (hier S.468).
7 Fang, Weigui: Brecht und Lu Xun. Eine Studie zum Verfremdungseffekt, S. 32.
8 Ebd.; Grimm, Reinhold: Bertolt Brecht. Die Struktur seines Werkes, S. 14.
9 Günther, Hans: Art. Verfremdung, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hrsg. v. Jan-Dirk Müller, Berlin/ New York 2007, Band 3, Sp. 753-755.
10 Vgl. Grimm, Reinhold: Bertolt Brecht. Die Struktur seines Werkes, S. 13.
11 Grimm, Reinhold: Bertolt Brecht. Die Struktur seines Werkes, S. 13.
12 Vgl. ebd. S. 13.
13 Vgl. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse, 11. durchges. und erg. Aufl. München 1988, S.31f.
14 Grimm, Reinhold: Bertolt Brecht. Die Struktur seines Werkes, S. 7.
15 Ebd. Diese Widersprüche werden in dem folgenden Teil aufgegriffen.
16 Vgl. ebd. S. 14.
17 Müller, Klaus-Detlef: Art. Episches Theater, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hrsg. v. Jan-Dirk Müller, Berlin/ New York 2007, Band 1, Sp. 468-471. (hier S.470).
18 Vgl. Grimm, Reinhold: Vom Novum zum Kleinen Organon. Gedanken zur Verfremdung, S.69.
19 Knopf, Jan: Brecht-Handbuch. Theater, Stuttgart 1980, S. 185.
20 Vgl. Knopf, Jan: Brecht-Handbuch. Theater, S. 185
21 Vgl. ebd. S. 186.
22 Vgl. Joost, Jörg-Wilhelm, Müller, Klaus-Detlef, Voges, Michael: Bertolt Brecht. Epoche–Werk–Wirkung, München 1985, S. 284.
23 Vgl. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse, S. 104.
24 Sprengel, Peter: Art. Naturalismus, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hrsg. v. Harald Fricke, Berlin/ New York 2007, Band 2, Sp. 684-688. (hier S.686).
25 Vgl. Günther, Hans: Art. Verfremdung, S. 469.
26 Vgl. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse, S. 328.
27 Grimm, Reinhold: Bertolt Brecht. Die Struktur seines Werkes. S. 13.
28 Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse, S. 45f.
29 Vgl. Fang, Weigui: Brecht und Lu Xun. Eine Studie zum Verfremdungseffekt, S. 66.
30 Grimm, Reinhold: Bertolt Brecht. Die Struktur seines Werkes, S. 26f.
31 Grimm, Reinhold: Bertolt Brecht. Die Struktur seines Werkes. S. 20f.