Die vorliegende Arbeit untersucht die religionspolitische Praxis unter Lenin. Vor dem Hintergrund der marxistischen Religionskritik wird die Religionspolitik kritisch reflektiert. Im ersten Teil der Arbeit wird ein aus der marxistischen Religionskritik abgeleiteter Rahmen für die Religionspolitik skizziert. Im zweiten Teil folgt ein Überblick über die Gesetzgebung. Der dritte Teil widmet sich der Praxis der Religionspolitik.
Einleitung
Die Religionspolitik in der Sowjetunion ist Gegenstand erheblicher wissenschaftlicher Kontroverse. Die Fachliteratur zu diesem Thema lässt sich grob in zwei Gruppen einteilen: Für die einen führte die Sowjetunion aufgrund des antireligiösen Charakters marxistischleninistischer Ideologie einen rücksichtslosen Kampf gegen Religion im öffentlichen wie privaten Raum. Die anderen konstatieren, dass dieser Kampf den jeweils herrschenden politischen Umständen angepasst war.
So redet zum Beispiel Gerd Stricker in seiner historischen Monografie „Religion in Russland“ von einem „gnadenlosen Vernichtungsfeldzug 1917 bis 1941“1 ; Paul Froese fasst die gesamte Religionspolitik gar als einen 70 Jahre andauernden Krieg gegen religiösen Glauben zusammen2, und Efraim Briem leitet seine Darstellung der Religionspolitik nach der Oktoberrevolution 1917 verheißungsvoll mit den Worten: „Kommunismus und Religion stießen in der Sowjetunion aufeinander. Der Kampf begann“3 ein. Andererseits argumentieren Werke wie „Godless Communists“4 und die Dissertation von Arto Luukkanen, dass die Bolschewiki den ideologischen Kampf der politischen Realität unterordneten und somit einen moderateren Kurs auf dem Feld der Religionspolitik eingeschlagen haben.5
Was stimmt nun? Ziel dieser Hausarbeit wird sein, die Religionspolitik unter Lenin zwischen der Oktoberrevolution 1917 und dem Ende des russischen Bürgerkrieges 1922 zu beleuchten. Die Fragen, die ich mir dabei stelle, sind: Inwiefern erklärt sich Religionspolitik der Bolschewisten aus ideologischer Prägung und inwiefern hat sie sich der politischen Realität angepasst? Lässt sich die Gewalt gegen die Kirche und ihrer Anhänger aus der Ideologie rechtfertigen oder war sie ein Produkt des Bürgerkrieges? Ich konzentriere mich dabei auf die Politik gegenüber der Russisch-Orthodoxen Kirche, da sie die größte religiöse Institution im zaristischen Russland war.
Im ersten Teil erläutere ich die ideologische Basis bolschewistischer Religionspolitik und welcher politische Handlungsrahmen sich daraus ableiten lässt. Im zweiten Teil folgt ein Überblick über die Gesetzgebung bis hin zum Zustandekommen des sogenannten „Trennungsdekrets“. Anschließend folgt eine kritische Betrachtung der religionspolitischen Praxis mit Rückgriff auf die Ergebnisse des ersten Teils.
1. Ideologische Grundlagen
Unter den bolschewistischen Ideologen galt Wladimir Iljitsch Lenin als „Primus inter pares“. Er war die zentrale Figur der Partei und sein politisches Vermächtnis wurde nach seinem Tod zur offiziellen Staatsideologie der Sowjetunion erhoben.6 Daher hatten seine Gedanken zu Kirche und Religion auf die ideologische Basis bolschewistischer Religionspolitik einen maßgeblichen Einfluss.
Lenins eigene Ansichten wurden wiederum grundlegend vom Marxismus beeinflusst.7 Diese von Karl Marx und Friedrich Engels begründete Gesellschaftslehre und Theorie der politischen Ökonomie kritisiert die kapitalistischen Produktionsverhältnisse ihrer Zeit und besagt, dass die Geschichte der Menschheit durch einen Gegensatz von Arbeit und Kapital gekennzeichnet ist. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bewirken eine Vertiefung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, bei der der geschaffene wirtschaftliche Reichtum auf die Ausbeutung der Arbeitsklasse zurückzuführen ist, wohingegen nur wenige Kapitalisten von diesem Reichtum profitieren und das Eigentum an den Produktionsmitteln besitzen. Dadurch entsteht ein Klassenkampf zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern. Dieser Widerspruch lässt sich nur durch eine revolutionäre Erhebung der Arbeiterklasse beseitigen, deren Ziel die Enteignung der Kapitalisten und die Überführung des Eigentums an den Produktionsmitteln in Gesellschaftseigentum ist. An der Stelle des Kapitalismus tritt der Sozialismus, der als Vorstufe zu einer klassenlosen Gesellschaft im Kommunismus dient.8
In diesem Klassenkampf spielt die Religion eine wichtige Rolle. In ihrer Funktion und Kritik unterscheiden sich die Ansichten von Marx, Engels und Lenin. Aus diesem Grund sollen sie im Folgenden kurz erläutert werden.
1.1 Marx
Für Marx ist nicht nur die Geschichte der Menschheit durch die Produktionsverhältnisse geprägt, sondern auch jegliches menschliches Denken. Moral, Ideologie und Kultur sind begründet in einem bestimmten ökonomisch-gesellschaftlichen Milieu und somit sozial bedingt. Auch die Entstehung von Religion lässt sich aus den herrschenden materiellen Verhältnissen erklären. Sie ist Symptom des proletarischen Elends und bietet der ausgebeuteten Klasse eine Möglichkeit, der eigenen Realität zu entfliehen und ihr Dasein erträglicher erscheinen zu lassen. Somit ergibt sie sich ihrem Schicksal. Gleichzeitig bietet sie der besitzenden Klasse die Chance, ihre Macht zu stabilisieren und zu vermehren. Dem Proletariat bleibt die Möglichkeit verwehrt, die wahren Bedingungen seines Zustandes zu erkennen und somit ist es der Manipulation ausgesetzt. Religion ist eine Art Schleier, der den Blick auf die Realität verdeckt und die Menschen davon abhält, an ihrem Dasein etwas zu ändern.9
Demnach ist Religion Produkt einer ungerechten Gesellschaftsordnung. Nur die Beseitigung der ökonomischen Entfremdung des Menschen würde das Verschwinden religiöser Entfremdung bewirken. Gezielte Maßnahmen gegen Religion oder religiöse Institutionen lassen sich aus der marxschen Religionskritik nicht ableiten. Wer die Religion beseitigen will, muss eine Politik betreiben, die auf die Umgestaltung der gesamten Gesellschaft abzielt.10
1.2 Engels
Dieser in den Gesamtrahmen einer Gesellschaft eingebundenen Religionskritik stimmt Engels prinzipiell zu, doch nimmt er Modifizierungen des marxschen Ansatzes vor. Er betrachtet die Religion auch explizit und betreibt eine differenzierte und gegenstandsbezogene Kritik. Auf den Aussagen von Marx aufbauend versucht er, ein lückenloses und populär formuliertes System der Religionskritik zu entwickeln.11
Das System der Religionskritik sollen die Proletarier als Mittel im Kampf gegen ihre Klassengegner nutzen. Durch die verstärkte Bedeutung des Themas Religion im Klassenkampf entsteht gegenüber Marx eine Akzentverlagerung, die die Schädlichkeit der Religion deutlicher betont. Gleichzeitig schafft es die Voraussetzung dafür, dass die Religion unabhängig vom Klassenkampf als natürlicher Gegenspieler der proletarischen Sache angesehen wird. Durch die Aufwertung der Religion als eigenständige Größe leistet er der speziellen Bekämpfung einen Vorschub und räumt ein, dass antireligiöse Propaganda ein probates Mittel sein kann. So war er selbst der Ansicht, dass die Massenverbreitung materialistischer Literatur unter den Arbeitern Frankreichs im 18. Jhd. nützlich sein könnte.12 Der spezifischen Bekämpfung von Religion sind allerdings Grenzen gesetzt: Die Verfolgung Gläubiger würde zu einem Märtyrer-Komplex führen und den Glauben vieler verstärken.13
Engels stimmt also Marx in der Hinsicht zu, dass eine gesamtgesellschaftliche Umgestaltung das wichtigste Ziel sei. Auf dem Weg dahin könne Religion jedoch als eigenständiger Faktor im Klassenkampf durch die Verbreitung antireligiöser Propaganda gezielt bekämpft werden. Die Anwendung von Gewalt würde den gegenteiligen Effekt bewirken.
1.3 Lenin
Für Lenin besitzt der Marxismus einen absoluten Wahrheitsanspruch. Für ihn ist die Lehre „allmächtig, weil sie wahr ist. Sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren lässt“.14 So greift er auch die marxistische Religionskritik im Wesentlichen auf: In seinem 1905 erschienenen Artikel „Sozialismus und Religion“ schreibt er beispielsweise, dass die moderne Gesellschaft „ganz auf der Ausbeutung der ungeheuren Massen der Arbeiterklasse durch eine [.] zu den Klassen der Grundeigentümer und Kapitalisten gehörenden Minderheit der Bevölkerung aufgebaut“ sei.15 Die Religion ist für ihn ein geistiges Joch, das auf den niedergedrückten Volksmassen lastet. Die Ohnmacht der ausgebeuteten Klasse erzeuge den Glauben an ein besseres Leben im Jenseits, der den Arbeitern Demut und Langmut für das irdische Leben lehre. Gleichzeitig biete sie diejenigen, die von fremder Arbeit leben, eine billige Rechtfertigung für ihr Ausbeuterdasein. Sie sei nicht mehr als Opium des Volkes, eine Art geistigen Fusels, mit dem die Sklaven des Kapitals ihre Ansprüche auf ein menschenwürdiges Leben ersäufen.16
Doch lässt sich bei Lenin anhand seiner Ausdruckweise eine Verschärfung der marxistischen Religionskritik erkennen. Im Gegensatz zu seinen Vordenkern äußert er sich in diesem Zusammenhang überwiegend einem aggressiven, hasserfüllten Ton. Sein Sprachduktus ist geprägt von undifferenzierten, primitiven Begriffen und durchzogen von der Verwendung pauschaler Urteile und Aussagen.17 Beispielsweise ist die Religion für ihn eines der „abscheulichsten Dinge, die es überhaupt auf der Welt gibt“18, die „widerlichste Seuche“19 und „wirklich entsetzlich“.20
Entsprechend fordert er „die völlige Trennung von Kirche und Staat, um gegen den religiösen Nebel mit rein geistigen und nur geistigen Waffen, [.] unserer Presse, unserem Wort zu kämpfen.“21 Der Hinweis, die Religion gehöre bekämpft, aber nur mit geistigen Waffen, ist bemerkenswert. Aufgrund seiner hasserfüllten Sprache liegt die Vermutung nahe, dass er gewaltvolle Mittel im Kampf gegen die Religion akzeptiert. In seinem Artikel „Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion“ aus dem Jahre 1909 wird allerdings deutlich, dass der Kampf gegen die Religion nicht um jeden Preis geführt werden dürfe:
„Ein Marxist muss ein Materialist sein, [.] der den Kampf gegen die Religion nicht abstrakt führt, sondern [.] auf dem Boden des Klassenkampfes, wie er sich in Wirklichkeit abspielt, der die Massen am besten und am meisten erzieht. Ein Marxist muss es verstehen, die ganze konkrete Situation zu berücksichtigen, stets die Grenze zwischen Anarchismus und Opportunismus zu finden [.]. Von diesem Standpunkt aus müssen alle Einzelfragen gelöst werden, die das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Religion betreffen“22
Indem Einzelfragen der Religion stets unter Beachtung der konkreten Situation gelöst werden sollen, eröffnet er den Raumfür eine flexible Religionspolitik. Diese passt sich überall dort an, wo sie den meisten Erfolg verspricht.
1.4 Ergebnis
Aus dem oben Skizzierten würde man eine Politik erwarten, die sich im Rahmen einer angestrebten sozialistischen Transformation der gesamten Gesellschaft nachteilig auf die Russisch-Orthodoxe Kirche auswirkt. Sie steht für Lenin an der Seite der Ausbeuter und er gibt ihr eine erhebliche Mitschuld an den sozialen Verhältnissen in Russland. Er wirft ihr vor, die bestehende Gesellschaftsordnung sowie Macht, Eigentum und Privilegien des Zaren gestützt zu haben; im Gegenzug wurde sie von der herrschenden Oberschicht belohnt.23 So besaß die Russisch-Orthodoxe Kirche bis zur Oktoberrevolution 1917 57.000 Kirchen und 24.000 Kapellen, ihr Landbesitz erstreckte sich auf über 7 Millionen „Desyatinen“, umgerechnet ca. 10,2 Mio. Hektar.24
Enteignungen und das Überführen ihrer Besitztümer in Volkseigentum würden sie daher schwer treffen. Ebenso würde man neben der Beseitigung rechtlicher und wirtschaftlicher Privilegien gezielte Maßnahmen erwarten, um die Bevölkerung vom Glauben abzubringen. Diese müssten sich auf den propagandistischen Bereich beschränken und keinesfalls gewaltvoll sein. Auf der anderen Seite wäre es nicht verwunderlich, wenn die aggressive Rhetorik Lenins den Boden für Gräueltaten und Verfolgung bereitet. Dadurch, dass er der Lehre des Marxismus einen absoluten Wahrheitsanspruch unterstellt, ließe sich jede andere Weltanschauung als reaktionär und konterrevolutionär denunzieren - Christentum miteingeschlossen. Außerdem würden Kirche, Klerus und Gläubige überall von beschlossenen Maßnahmen ausgenommen sein, wo diese das übergeordnete Ziel einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft zu gefährden drohen.
2. Rechtstheorie
Die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft kam nach der erfolgreichen Oktoberrevolution und der Machtübernahme Lenins im Jahr 1917, in deren Folge der russische Bürgerkrieg begann, in greifbare Nähe. Die Bolschewiki errichteten daraufhin eine erste Regierung, den Sovnarkom. Diese war noch sehr instabil und sah sich daher gezwungen, hauptsächlich per Dekret zu regieren. Mit dem Ziel, die angestrebte Transformation und Säkularisierung der Gesellschaft einzuleiten, erließ der Sovnarkom in den folgenden Monaten über 600 Dekrete, von denen einige die Stellung der Kirche und den Status der Religion betrafen.25
2.1 Gesetzgebung
Das Dekret „Über den Boden“ vom 26. Oktober 1917 verbot künftig den privaten Besitz von Grund und Boden und verkündete die entschädigungslose Enteignung sämtlicher Ländereien sowie des Grundbesitzes von Kirchen und Klöstern, was es fortan ins Volkseigentum überführte. Mit der „Deklaration der Rechte der Völker Russlands“ verlor die RussischOrthodoxe Kirche am 2. November 1917 ihre rechtliche Vorrangstellung gegenüber anderen Konfessionen und Religionen. Am 11. Dezember desselben Jahres beschloss der Sovnarkom, dass das kirchliche Schulwesen einschließlich der nicht allgemeinbildenden Zwecken dienenden geistlichen Lehranstalten wie Priesterseminare, Akademien und Missionsschulen vollständig verstaatlicht werden sollte. Nunmehr verwaltete das Volkskommissariat für Aufklärung und Bildung alle Anstalten samt ihrem Vermögen. Mit dem Dekret „Über die Zivilehe, die Kinder und die Führung der Personenstandsbücher“ und dem Dekret „Über die Ehescheidung“ am 18. und 19. Dezember 1917 erklärte man die kirchliche Eheschließung zur Privatsache, erkannte die Zivilehe als allein gültige an und verbot den Eintrag von Taufe und kirchlicher Trauung in die Geburten- und Familienbücher. Der Kirche entzog man auch die Zuständigkeit im Ehescheidungsverfahren. Am 14. Januar 1918 wurde die Abschaffung des Amtes für Hofgeistliche beschlossen, zwei Tage später entließ man die Militärgeistlichen und löste die zuständige Behörde ebenfalls auf. Darüber hinaus wurden staatliche Zahlungen zur Abhaltung kirchlicher Amtshandlungen sowie zur Besoldung von Geistlichen und Religionslehrern mit sofortiger Wirkung eingestellt.26
Auf dem Papier war die Trennung von Kirche und Staat schon maßgeblich vorangeschritten, als am 23. Januar 1918 das Dekret „Über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche“, das sogenannte Trennungsdekret, in Kraft trat.
2.2 Trennungsdekret
Viele Gesetze, die bis zu diesem Zeitpunkt erlassen wurden, wurden in diesem Dekret nochmal zusammengefasst. Neben der proklamierten Trennung der Kirche vom Staat in Artikel 1 ist es nach Artikel 2 verboten, Gesetze und Verordnungen zu erlassen, die die Gewissensfreiheit beschränken und Privilegien aufgrund der konfessionellen Zugehörigkeit festsetzen. Artikel 3 besagt, dass sich jeder Bürger zu einer oder keiner Religion bekennen darf. Zudem werden alle Hinweise auf religiöse Zugehörigkeit in amtlichen Dokumenten entfernt. Artikel 4 und 7 schaffen alle religiösen Rituale im staatlichen und gesellschaftlichen Bereich sowie den religiösen Eid ab. Artikel 5 stellt die freie Ausübung religiöser Riten sicher, soweit sie die öffentliche Ordnung und Sicherheit nicht gefährden. Ferner verbietet Artikel 6 die Verweigerung bürgerlicher Pflichten aus religiösen Gründen, wobei Ausnahmen unter der Bedingung, dass eine Bürgerpflicht durch eine andere ersetzt wird, möglich sind. Artikel 8 bestimmt, dass Personenstandsbücher künftig ausschließlich von zivilen Behörden geführt werden. Artikel 9 behandelt die Trennung der Schule von der Kirche und besagt, dass in allen staatlichen, öffentlichen und privaten Lehranstalten, in denen allgemeinbildende Fächer unterrichtet werden, der Religionsunterricht verboten wird. Bürger dürfen weiterhin auf private Weise Religion lernen und lehren. Die letzten vier Artikel des Dekretes widmen sich der Zerschlagung der materiellen Basis der Kirche. Artikel 10 unterwirft allen kirchlichen und religiösen Gesellschaften den Bestimmungen von privaten Gesellschaften und Verbänden und verbietet ihnen Vorrechte und Subsidien jeglicher Art. Artikel 11 verbietet ihnen das Eintreiben von Steuern und jegliche Zwangsmaßnahmen und Bestrafungen gegenüber ihren Mitgliedern. Ferner untersagt Artikel 12 ihnen das Recht, Eigentum zu besitzen und entzieht ihnen die Rechtsfähigkeit einer juristischen Person. Artikel 14 beschließt schließlich, dass das gesamte Eigentum kirchlicher und religiöser Gesellschaften zum Volkseigentum erklärt wird. Gebäude und Gegenstände für den Gebrauch gottesdienstlicher Zwecke werden nach besonderen Verordnungen örtlicher Zentralbehörden zur kostenlosen Nutzung seitens der religiösen Gesellschaften übergeben.27
Das Trennungsdekret spricht eine deutliche Sprache, ist aber größtenteils mit dem ideologisch vorgegebenen Rahmen vereinbar: Einerseits verlieren kirchliche und religiöse Gemeinschaften ihre Privilegien und sind privaten Gesellschaften rechtlich gleichgestellt. Die Zerschlagung der materiellen Basis der Kirche fügt sich im Sinne der marxschen Religionskritik in einen größeren Rahmen ein. Schließlich beschloss schon das Dekret „Über den Boden“ die Beseitigung sämtlichen Privateigentums an Grund und Boden sowie die entschädigungslose Enteignung aller Ländereien. Das Trennungsdekret machte das im Hinblick auf kirchliche und religiöse Gesellschaften nochmal deutlich. Gleichzeitig wird die Freiheit, sich zu einer Religion zu bekennen sowie die Ausübung religiöser Riten formal gewährleistet. Die Trennung der Kirche vom Schulwesen lässt sich als propagandistische Maßnahme deuten. Wenn die Religion nach Lenin keinesfalls mit Gewalt, sondern mit rein geistigen Mittel bekämpft gehört, ist das Verbot von Religionsunterricht an Schulen ein logischer Schritt.
Andererseits nennt das Dekret gezielte Maßnahmen, die weder unter den Bereich der Propaganda fallen noch als Abschaffung von Privilegien zu deuten sind. Genannt sei die Bestimmung, kirchlichen Gesellschaften die komplette Eigentumsfähigkeit zu entziehen, damit auch die Möglichkeit, Spenden auf freiwilliger Basis zu erhalten. Ebenso eröffnet die Formulierung, religiöse Riten nur unter Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu erlauben, die Möglichkeit nahezu willkürlicher Maßnahmen gegen religiöse Versammlungen.
Dass aber das Verbot des religiösen Unterrichts, die Entfernung der Religion aus dem öffentlichen Raum oder der Entzug jeder Eigentumsfähigkeit der Kirche unter dem Deckmantel der freien Religionsausübung und Gewissensfreiheit auf nichts anderes als das völlige Verschwinden der Religion abzielte, stellte die Kirchenversammlung der Russisch-Orthodoxen Kirche in einem Antwortschreiben auf das Trennungsdekret fest: So wolle man „unter dem Vorwand, man wollte die Kirche vom Staate trennen, [...] die Existenz der Kirchen, der kirchlichen Institutionen und der Priesterschaft [...] vernichten.“28
Letztlich kann das aber auch nur das Ergebnis Lenins angestrebter Revolution sein. Als Überbau der kapitalistischen Gesellschaftsordnung hat Religion nach der erfolgreichen proletarischen Revolution keinen Platz mehr und würde zwangsläufig zugrunde gehen, da der Mensch sie zur Verklärung der eigenen Realität nicht mehr benötige.
[...]
1 Stricker, Gerd: Religion in Rußland. Darstellung und Daten zu Geschichte und Gegenwart, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1993, S. 81.
2 Vgl. Froese, Paul: Forced Secularization in Soviet Russia: Why an Atheistic Monopoly Failed, in: Journal for the Scientific Study of Religion, 43:1 2004, S. 35.
3 Briem, Efraim: Kommunismus und Religion in der Sowjetunion. Ein Ideenkampf, Basel: Friedrich Reinhardt AG 1948, S. 174.
4 Vgl. Husband, William B.: Godless Communists. Atheism and Society in Soviet Russia 1817-1932, DeKalb: Northern Illinois University Press 2000, S. XVII.
5 Vgl. Luukkanen, Arto: The Party of Unbelief. The Religious Policy of the Bolshevik Party 1917-1929, Helsinki: Studia Historica 1994, S. 230.
6 Vgl. Luukkanen, Arto: The Party of Unbelief, S. 22.
7 Vgl. Gabel, Paul: And God created Lenin. Marxism vs. Religion in Russia, 1917-1929, New York: Prometheus Books 2005, S. 72.
8 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, „Marxismus“, https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der- wirtschaft/20092/marxismus, letzter Zugriff: 16.08.2021.
9 Vgl. Braun, Hans-Jürg; Bryner, Erich; Meienberger, Norbert (Hg.): Religionskritik und Religionspolitik bei Marx, Lenin, Mao, Zürich: Theologischer Verlag 1985, S. 28f.
10 Vgl. Beichler, Eckehart (1980): Kriegskommunismus und Neue Ökonomische Politik in ihren Auswirkungen auf die bolschewistische Religionspolitik. Von der Religionskritik der marxistischen Klassiker zur religionspolitischen Praxis im bolschewistischen Russland der Jahre 1917-1928, Göttingen 1980, S. 102.
11 Ibid. S 114.
12 Vgl. Beichler, Eckehart: Kriegskommunismus und Neue Ökonomische Politik in ihren Auswirkungen auf die bolschewistische Religionspolitik, S. 136-140.
13 Vgl. Gabel, Paul: And God created Lenin, S. 117.
14 Lenin, Wladimir Iljitsch: „Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus“, in: W.I. Lenin. Werke, Band 19, Berlin: Dietz-Verlag 1977, S. 3f.
15 Lenin, Wladimir Iljitsch: „Sozialismus und Religion“, in: W. I. Lenin. Werke, Band 10, Berlin: Dietz-Verlag 1958, S. 70.
16 Vgl. Ibid. S. 70f.
17 Vgl. Braun, Hans-Jürg; Bryner, Erich; Meienberger, Norbert (Hg.): Religionskritik und Religionspolitik bei Marx, Lenin, Mao, S. 96.
18 Lenin, Wladimir Iljitsch: „Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion“, in: W.I. Lenin. Werke, Band 15, Berlin: Dietz-Verlag 1970, S.198.
19 Lenin, Wladimir Iljitsch: „An A.M. Gorki”, in: W.I. Lenin. Werke, Band 35, Berlin: Dietz-Verlag 1979, S. 99.
20 Ibid. S. 99.
21 Lenin, Wladimir Iljitsch: „Sozialismus und Religion“, in: W. I. Lenin. Werke, Band 10, S. 73.
22 Lenin, Wladimir Iljitsch: „Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion“, in: W.I. Lenin. Werke, Band 15, S. 410.
23 Vgl. Braun, Hans-Jürg; Bryner, Erich; Meienberger, Norbert (Hg.): Religionskritik und Religionspolitik bei Marx, Lenin, Mao, S. 80f.
24 Vgl. Luukkanen, Arto: The Party of Unbelief, S. 37.
25 Vgl. Luukkanen, Arto: The Party of Unbelief, S. 68.
26 Vgl. Luchterhandt, Otto: Die Religionsgesetzgebung der Sowjetunion, Berlin: Berlin-Verlag 1978, S. 11f.
27 Vgl. Luchterhandt, Otto: Die Religionsgesetzgebung der Sowjetunion, S. 105f.
28 Vgl. Briem, Efraim: Kommunismus und Religion in der Sowjetunion, S. 184.