Mit der Wahl Xi Jingpings zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei im Jahre 2012 ist der Personenkult wieder zum einen der tragenden Elemente des chinesischen Staates geworden. Hierbei reiht sich das Staatsoberhaupt in einer Linie mit den Gründervätern des politischen System Chinas Mao Zedong und Deng Xiaoping ein und übernimmt zahlreiche Symbole und
Traditionen aus der „5000-jährigen“ Geschichte des Landes, um seinen eigenen und die Herrschaftslegitimation der der Partei zu untermauern. Der Sozialismus chinesischer Prägung behält zwar weiterhin einen maßgeblichen Anteil am offiziellen Narrativ, jedoch wandelt sich das Bild hinsichtlich der großen Meistererzählungen über die Historie Chinas im zwanzigsten und vergangenen Jahrhunderten. Zunehmend richtet sich der Blick auf die patriotische Erziehung durch etwa nationale Denkmäler und Museen.
Ein Essay über die chinesische Geschichtsschreibung
- Erinnerungskultur oder politisches Mittel zum Zweck? -
Mit der Wahl Xi Jingpings zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei im Jahre 2012 ist der Personenkult wieder zum einen der tragenden Elemente des chinesischen Staates geworden. Hierbei reiht sich das Staatsoberhaupt in einer Linie mit den Gründervätern des politischen System Chinas Mao Zedong und Deng Xiaoping ein und übernimmt zahlreiche Symbole und Traditionen aus der „5000-jährigen“ Geschichte des Landes, um seinen eigenen und die Herrschaftslegitimation der der Partei zu untermauern. Der Sozialismus „chinesischer Prägung“ behält zwar weiterhin einen maßgeblichen Anteil am offiziellen Narrativ, jedoch wandelt sich das Bild hinsichtlich der großen Meistererzählungen über die Historie Chinas im 20. und vergangenen Jahrtausenden. Zunehmend richtet sich der Blick auf die patriotische Erziehung durch etwa nationale Denkmäler und Museen.
Ein Bericht Xi Jingpings zum XIX. Parteitag der KPCh im Jahre 2017 versinnbildlicht das Geschichtsverständnis des chinesischen Führers. Darin legt er drei Stufen fest, die das Land in seinem Aufstieg zur gegenwärtigen Weltmacht durchlaufen ist. Beginnend mit Mao, welcher das Land auferstehen ließ, anschließend mit Deng, welcher China „reich machte“ und mit ihm als legitimen Nachgänger und Erben, der schließlich die Volksrepublik zu seiner jetzigen Macht verhalf und noch verhelfen wird.1 Daher ist es auch nicht überraschend, dass eine kritische Aufarbeitung der Jahre unter Mao nur in einem strengen Toleranzrahmen, der von der Partei vorgegeben wird, stattfindet, denn eine Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Maßstäben würde auf den „Geburtsmythos“ nicht nur einen nüchterneren Blick werfen lassen, sondern auch die eigene Legitimität untergraben.
Der offizielle Kanon der Partei basiert hierbei auf einer Resolution aus dem Jahre 1981, die von einem der zentralen Akteure der Säuberungswellen gegen die „Rechtsabweichler“ selbst, in Auftrag gegeben wurde und zwar Deng Xiaoping. Dieser schriftliche Beschluss sieht einige Entscheidungen Maos zwar als übertrieben, jedoch den damaligen Umständen geschuldet und daher als notwendigen Kollateralschaden an. Damit wurde der normative Charakter innerhalb der Geschichtsschreibung aus den Jahren des Terrors an die nächste Führergeneration weitergegeben und gefestigt. Die Reformen unter Deng betrafen mehr die Liberalisierung der Wirtschaftspolitik des Landes und weniger ihre Gesellschaft, auch wenn es hier einige Besserungen gab.2
Ein entscheidendes Merkmal der gegenwärtigen Geschichtsschreibung in China ist ebenso die Zentralisierung der einschneidenden Momente in der Vergangenheit des Landes. Damit ist gemeint, dass Errungenschaften, wie etwa die Reprivatisierung der Landwirtschaft seit Ende der 1970er Jahren auf das Konto der Partei verbucht werden und in öffentlichen Ausstellungen suggeriert wird, dass die Entscheidungsfindung von oben nach unten verlief. Was jedoch verschwiegen wird ist, dass die Entwicklung vor allem aus einer Initiative der Landbevölkerung hervorging und sich die Partei diesem Druck viel mehr beugte, als dass sie der Motor hinter den Änderungen war. Dezentralisierende Faktoren werden somit verschwiegen, da sie sonst nämlich das Bild einer fehlerfreien KP in ihrer Kontinuität trüben würden. Prägend ist weiterhin die „top-down“ und nicht „bottom-up-Perspektive“.3
Mit der Gründung des zentralen chinesischen Geschichtsforschungsinstituts am Anfang des Jahres 2019 geht das Regime schließlich einen weiteren Schritt diesbezüglich. Nicht nur soll damit eine alternative Geschichtsschreibung eingedämmt werden, sondern es verfolgt auch das Ziel, den Einfluss externer Autoritäten auf die Aufarbeitung der Vergangenheit zu verringern. Gao Xiang, einer der Mitbegründer der Institution, fasste es mit dem Aufruf zusammen, eigene Maßstäbe und eine selbständige Wissenschaftssprache zu entwickeln, die vor allem unabhängig vom Westen agieren. Die Gefahr, die sich dabei ergibt ist deutlich, denn ein konstruktiver Diskurs, unter der Verwendung verschiedener Quellen, die auch autonom von der Parteipolitik erfolgen wird somit erheblich erschwert.4
War der Klassenkampf zu Zeiten Mao Zedongs noch ein prägendes Narrativ, überwiegen seit Deng Xiaoping in China vor allem Erzählweisen, die sich auf ein Einendes und über soziale Ungleichheiten hinweg abzielendes Motiv richten. Anstelle von Gegensätzen innerhalb der Gesellschaft, sind Ressentiments gegen „äußere“ Feinde wie etwa Japan, in den letzten Jahren gestiegen und verdeutlichen, dass es nicht mehr um den Kampf zwischen Bauer und Feudalherr geht, sondern um ein erstarktes China, welches sich gegen externe vermeintliche Aggressoren behauptet. Diese Linie kam unter Mao zwar zum kurzzeitigen Abbruch, jedoch reicht ihr Ursprung weiter zurück, als die Machtergreifung der KPCh Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Anti-Imperialismus und die Erfahrungen der Demütigungen unter den Ungleichen Verträge sind tief im kollektiven Gedächtnis des Landes verankert, sowohl offiziell, als auch inoffiziell und beeinflussen ebenso stark die Außenpolitik der Volksrepublik.
Die offizielle Geschichtsschreibung hat somit nicht nur Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Zustände innerhalb Chinas, sondern auch auf das internationale Verhalten des Landes. Das Narrativ soll auch außenpolitisch Geltung tragen und die Ansprüche der Regierung legitimieren. Sonderbehandlungen und die Anerkennung eines „Jahrhundert der Scham“, welches das Land durchlaufen ist, werden von anderen Staaten gefordert und sollen in ihre Agenda übernommen werden. Realpolitisch bedeutet dies auch, dass Kritik an die Innenpolitik - wie etwa in Bezug auf die Menschenrechtsgrundlage oder fehlende demokratische Prozesse - mit dem Argument abgewendet wird, dass sie die Souveränität Chinas angreifen würde, eben auch mit historischem Bezug. Dies mag im internationalen System keine Seltenheit sein und auch andere Nationalstaaten greifen dieses Mittel auf, jedoch stehen die Punkte, die hier verknüpft werden in keiner wirklichen Relation zur heutigen Lage und überdecken meistens die klaren Verstöße gegen die individuellen Grundrechte.5
Das Spannungsverhältnis zwischen der offiziellen und inoffiziellen Geschichtsschreibung hat sich seit der Zunahme der Repressionen gegen politische Oppositionelle aufgelockert. Jedoch sind der Grund dafür nicht nur das Ausmaß der Gewalt gegen kritische Stimmen, sondern auch ein zeitlicher Faktor. Denn eine der wichtigsten Stützen der alternativen Historiographie, nämlich den Zeitzeugen, welche unmittelbar und authentisch erlebte Geschehnisse dokumentieren können, werden mit der Jahre natürlich immer weniger. Memoiren, welche die Erlebnisse aus Straflagern festhalten sind der strengen Zensur unterstellt und zuverlässige Überlieferungen finden weder im Fernsehen noch in der Literatur in einem angemessenen Umfang statt und können somit nicht nachhaltig konserviert werden. Dies ist ebenso kein allein chinesisches Phänomen, jedoch stellt sich die Frage, ob auf der Welt eine vergleichbare Unterdrückung einer Erinnerungskultur existiert, wie es mit dem Gedenken an das Tian'anmen Massaker geschieht.
Eine wichtige Rolle innerhalb der chinesischen Erinnerungskultur hingegen spielen öffentliche Ausstellungen und Museen, welche seit Mitte der 1990er Jahren von der Regierung zu einer Vielzahl von „Stützpunkte für die patriotische Erziehung“ ernannt wurden.6 Hiermit wird ein volkspädagogischer Plan verfolgt, der sich vor allem an ein jüngeres Publikum richtet, aber auch einen kommerziellen Charakter hat, da mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Jahrzehnte auch eine erstarkte Tourismusindustrie miteinging. Daher müssen Ausstellungen dieser Art nicht unbedingt einen Kurs verfolgen, welcher direkt von der Partei aufgegeben wurde, sondern könnten möglicherweise auch deshalb in dieser Form veranstaltet sein, da sie ein gewisses wirtschaftliches Interesse abdecken. Jedoch macht sich bemerkbar, dass Geschichte hierbei zu einem Mittel verkommt, welches den Zweck einer patriotischen Einheitsfront erfüllt, speziell in den Diensten der herrschenden KPCh.7
Die Nachfrage nach historischer Populärliteratur ist wie auch in anderen Regionen der Welt groß und stellt eine idealisierte Vergangenheit dar, die sich an eine breite Masse richtet. Glorifizierte Geschichten etwa über den Hof des Kaisers und viele mehr sind für die Staatspropaganda ungefährlich und können in gewisser Weise als gesellschaftlichen Vehikel für die sonst strengen Auflagen gesehen werden. Diesen kommerzialisierten Kanälen geht eine akademische Forschung voraus, die vielleicht wissenschaftlich arbeitet, jedoch dafür keinen Markt findet. Stattdessen verkaufen sich Werke mit einem stark romantisierenden Blick auf das kulturelle Erbe des altertümlichen Chinas und anderer Epochen, die durch das Raster der Zensur fallen. Diese Kontrolle wiederum hat einen klaren ideologischen Hintergrund. Der Referenzrahmen, innerhalb welchem sich die Forschung bewegt ist dadurch für die Regierung einfacher zu kontrollieren und zu lenken.8
Der zunehmende Eingriff in die Geschichtsschreibung ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass die Reformära unter Deng Xiaoping und der allmählichen Liberalisierung der Gesellschaft, welche die 1980er Jahre prägten, viele Ereignisse zur Folge hatten, die in den Augen der herrschenden Elite mit einem Machtverlust einhergingen. In diesem nahezu Verfall ihrer Autorität verlor sie ihre Funktion als moralisch-ideologische Distanz und ist seitdem in ihrem Willen bestärkt, es nie wieder zu Protesten kommen zu lassen, wie sie im Jahre 1989 auf dem Tian'anmen Platzes wüteten, sondern sie im Keim schon zu ersticken. Dazu gehört auch die völlige Kontrolle über die Erinnerungskultur und selektive Auswahl von Wissensbeständen.9
Die Umdeutung der Geschichte betrifft auch historische Persönlichkeiten wie Dschingis Khan, welcher im Zuge, der seit Jahrtausendwende einsetzenden Han-Chinesischen Binnenmigration, von der Staatspropaganda als chinesischer Nationalheld stilisiert wird.10 Dies betrifft in weiten Teilen auch die mongolische Geschichtsschreibung, welcher damit indirekt ihre Autonomie abgesprochen wird. Dies kann als Nebenfolge einer Kampagne zur Assimilierung ethnischer Minderheiten angesehen werden, die auch das kulturelle Erbe und kollektive Gedächtnis der Grenzgebiete Chinas betreffen. Für die Zukunft könnte dieser - auf den ersten Blick trivial erscheinende - Punkt bedeuten, dass die Vereinheitlichung verschiedener Geschichtsstränge unter einem chinesischen Nationalstaat, auch Auswirkungen auf Herrschaftsansprüche in den umliegenden Nachbarländer haben könnte. Ein solches Vorgehen findet sein Beispiel in einer, von der damaligen republikanischen Regierung finanzierten Forschungskampagne am Anfang des 20. Jahrhunderts, dessen Gegenstand die Konsolidierung historischer Ansprüche auf Regionen in der Peripherie des ehemaligen Qing-Reiches war und diese auch wissenschaftlich bestätigen sollte.11
Zum Zwecke einer konstruierten historischen Kontinuität fällt auch die Interpretation der „Vierten-Mai-Bewegung“, welche eine Reaktion auf die Versailler Verträge im Jahre 1919 war und erstmals in der Geschichte Chinas, unterschiedlichste Bevölkerungsteile des Landes unter der Forderung nach Modernisierung und Souveränität einte und mobilisierte. Xi Jingping stellte in einer Rede vom 30. April 2019 diese Bewegung jedoch in den Dienst seiner eigenen Herrschaftslegitimation und präsentierte sie als Vorläufer der KPCh. Dabei unterminiert er jedoch die Vielfalt der damaligen Proteste und Aufstände. Die unterschiedlichen Strömungen der damaligen Bewegung, samt ihrer Forderungen nach Demokratie und Menschenrechten, waren nicht Teil der Ansprache. Ebenso werden die vielen regierungskritischen Stimmen verschwiegen, die möglicherweise ein Vorbild für anti-autoritäre Begehren darstellen könnten. In den Vordergrund stellt Xi vor allem die Bedeutung der Bewegung für die Nation und den Anteil der kommunistischen Protestler, welche zwei Jahre später die KPCh mitbegründeten.12
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1 Blanke, Anja (2021): Der Kampf um Chinas kollektives Gedächtnis. Offizielle und inoffizielle Narrative zur Kampagne gegen Rechtsabweichler. München: De Gruyter Oldenbourg, S. 300-301.
2 Blanke (2021), S. 6-7.
3 Hanns Günther, Hilpert; Frederic, Krumbein; Stanzel, Volker (2019): Chinas gelenkte Erinnerung. Wie historische Ereignisse erinnern, glorifiziert, umgedeutet und verschwiegen werden. In: SWP-Aktuell, Jg. 70, S. 5.
4 Dabringhaus, Sabine (2019): China feiert seinen Sonderweg, FAZ (abrufbar unter: https://www.faz.net/aktu- ell/karriere-hochschule/geschichtsschreibung-china-feiert-seinen-sonderweg-16001211.html)
5 Hanns Günther, Hilpert; Frederic, Krumbein; Stanzel, Volker (2019), S. 4.
6 Vickers, Edward (2007): Museums and nationalism in contemporary China. In: Compare: A Journal of Comparative Education, Jg. 37, H. 3, S. 366.
7 Ebd., S. 373.
8 Yu, Haiyang (2014): Glorious Memories of Imperial China and the Rise of Chinese Populist Nationalism. In: Journal Contemporary China, Jg. 23, H. 90, S. 1180.
9 Dabringhaus, Sabine (2009): Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert. München: C.H. Beck Verlag, S. 209-210.
10 Dabringhaus (2009), S. 220-221.
11 Ebd., S. 111.
12 Hanns Günther, Hilpert; Frederic, Krumbein; Stanzel, Volker (2019), S. 3.
- Quote paper
- Alexander Schmidt (Author), 2021, Die chinesische Geschichtsschreibung, Munich, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/1169056