Vor dem Hintergrund außergewöhnlicher Leistungen im Spitzensport stellt sich die Frage, inwieweit sich die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit von Expertinnen bzw. Experten und Novizinnen und Novizen unterscheiden und wie sich die Wahrnehmungsfähigkeit verbessern lässt.
Um sich dieser Frage anzunähern, werden zunächst kognitive und handlungstheoretische Grundlagen geschaffen. In diesem Zusammenhang werden zunächst die Begrifflichkeiten Wahrnehmung und Handlung geklärt. Zur Erläuterung des Begriffs Wahrnehmung wird in erster Linie der ökologische Ansatz von Gibson, der die Wahrnehmungsforschung nachhaltig geprägt hat, herangezogen. Darauf folgend werden im Rahmen der Definition des Begriffs Handlung zwei Ansätze vorgestellt. Im Anschluss daran wird die Beziehung zwischen Wahrnehmung und Handlung dargestellt.
Zum Abschluss dieses Kapitels werden die Begriffe Aufmerksamkeit sowie Antizipation bestimmt, welche wichtige kognitive Fähigkeiten im Sport ausmachen. Der weitere Verlauf der Arbeit befasst sich mit visuellem Wahrnehmungstraining im Sport. Zunächst werden die Wahrnehmungseigenschaften von Expertinnen und Experten aus dem Sport herausgestellt. Darauf folgen unterschiedliche Formen des Wahrnehmungstrainings, deren Effektivität geprüft wird. Des Weiteren sollen Instruktionen aufzeigen, wie sie bei der Verbesserung der Wahrnehmungsfähigkeit unterstützen können. Abgeschlossen wird die Arbeit mit einem Fazit.
Inhaltsverzeichnis
I Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Kognitive und handlungstheoretische Grundlagen
2.1 Wahrnehmung
2.1.1 Der ökologische Ansatz der Wahrnehmungsforschung
2.1.2 Theorie des Wahrnehmungszyklus
2.2 Handlung
2.2.1 Sensomotorischer Ansatz
2.2.2 Ideomotorischer Ansatz
2.2.3 Die Verschränkung von Wahrnehmung und Handlung
2.3 Aufmerksamkeit
2.3.1 Aufmerksamkeitsorientierung
2.3.2 Selektive Aufmerksamkeit
2.3.3 Geteilte Aufmerksamkeit
2.3.4 Konzentration
2.4 Antizipation
3 Wahrnehmungstraining im Sport
3.1 Merkmale von Expertise im Sport
3.2 Generalisierte Trainings zur visuellen Wahrnehmung
3.3 Sportartspezifische Wahrnehmungstrainings
3.4 Instruktionen
4 Fazit
Literaturverzeichnis
I Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Descartes‘ Skizze zum Zusammenhang von Wahrnehmung und Handlung.
1 Einleitung
In sportlichen Wettkämpfen stellen Athletinnen und Athleten stets ihre herausragenden Leistungen unter Beweis. Neben sportmotorischen Fertigkeiten beeindrucken Sportlerinnen und Sportler auch durch ihre Wahrnehmungsleistungen. So müssen beispielsweise im Herrentennis Aufschläge innerhalb von 500 ms erfolgreich zurückgespielt wird. Ähnliche hohe Anforderungen an die Wahrnehmungsleistung werden an Torhüterinnen und Torhüter im Hand- oder Fußball gestellt (vgl. Hänsel, Baumgärtner, Kornmann & Ennigkeit, 2016, S. 31f).
Vor dem Hintergrund außergewöhnlicher Leistungen im Spitzensport stellt sich die Frage, inwieweit sich die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit von Expertinnen bzw. Experten und Novizinnen und Novizen unterscheiden und wie sich die Wahrnehmungsfähigkeit verbessern lässt.
Um sich dieser Frage anzunähern werden zunächst kognitive und handlungstheoretische Grundlagen geschaffen. In diesem Zusammenhang werden zunächst die Begrifflichkeiten Wahrnehmung und Handelung geklärt. Zur Erläuterung des Begriffs Wahrnehmung wird in erster Linie der ökologische Ansatz von Gibson, der die Wahrnehmungsforschung nachhaltig geprägt hat, herangezogen. Darauf folgend werden im Rahmen der Definition des Begriffs Handlung zwei Ansätze vorgestellt. Im Anschluss daran wird die Beziehung zwischen Wahrnehmung und Handlung dargestellt. Zum Abschluss dieses Kapitels werden die Begriffe Aufmerksamkeit sowie Antizipation bestimmt, welche wichtige kognitive Fähigkeiten im Sport ausmachen.
Der weitere Verlauf der Arbeit befasst sich mit visuellem Wahrnehmungstraining im Sport. Zunächst werden die Wahrnehmungseigenschaften von Expertinnen und Experten aus dem Sport herausgestellt. Darauf folgen unterschiedliche Formen des Wahrnehmungstrainings, deren Effektivität geprüft wird. Des Weiteren sollen Instruktionen aufzeigen, wie sie bei der Verbesserung der Wahrnehmungsfähigkeit unterstützen können. Abgeschlossen wird die Arbeit mit einem Fazit.
2 Kognitive und handlungstheoretische Grundlagen
2.1 Wahrnehmung
Im Laufe der Geschichte haben sich innerhalb der Wahrnehmungsforschung verschiedene Theorien und Ansätze zur subjektiven Wahrnehmung der Umwelt entwickelt. Die traditionelle Wahrnehmungspsychologie war im klassischen psychophysischen Sinne konzipiert. Dabei wurde der komplexe Wahrnehmungsvorgang in möglichst einfache Aufgaben zerlegt, bei denen dann ermittelt wurde, welcher physikalisch definierte Reiz zu welcher Wahrnehmungsantwort führte. Dies geschah ausgehend von einer Vorstellung vom Wahrnehmungsvorgang, nach dem das Auge wie eine Kamera Abbilder der Umwelt liefert, die dann ausgewertet werden. Diese Annahme hat sich als unhaltbar erwiesen (vgl. Loibl, 1990, S. 22).
Die jüngere Wahrnehmungspsychologie hat vor allem in Anschluss an Gibson das klassische psychophysische Paradigma verlassen und sich einer komplexeren Betrachtung des Wahrnehmungsvorgangs gewidmet (vgl. ebd.). „Wahrnehmung ist nach Gibson auf das Erfassen von handlungsrelevanten Informationen ausgerichtet“ (Ritter, 1986, S. 9). Nachfolgend wird sein ökologischer Ansatz zur visuellen Wahrnehmung vorgestellt.
2.1.1 Der ökologische Ansatz der Wahrnehmungsforschung
Der ökologische Ansatz der Wahrnehmungsforschung geht auf den amerikanischen Psychologen James J. Gibson (1904 -1979) zurück. Die vorherrschende Vorgehensweise der Forschung zwischen 1950 und 1980 bestand darin, sich nicht bewegenden Versuchspersonen Objekte im Labor zu präsentieren. Gibson war der Auffassung, dass diese traditionelle Forschungsmethode nicht die Wahrnehmung sich bewegender Betrachter erklären kann – das, was Piloten bei der Landung oder Radfahrer und Fußgänger im Straßenverkehr wahrnehmen. Richtiger wäre, so glaubte Gibson, zu untersuchen, wie Menschen ihre Umgebung wahrnehmen, während sie sich in dieser Umgebung bewegen. Mit dem Hauptfokus auf den Betrachter, der sich in seiner Umgebung bewegt, wurde der Grundstein für den ökologischen Ansatz der Wahrnehmungsforschung gelegt. Der ökologische Ansatz richtet seine Aufmerksamkeit darauf, sich bewegende Betrachter zu untersuchen und festzustellen, wie deren Eigenbewegung Information für die Wahrnehmung liefert, die herangezogen wird, um die weitere Bewegung zu steuern und um die Umwelt wahrzunehmen (vgl. Goldstein, 2015, S. 154).
Für Gibson stellte sich die zentrale Frage: „Welche Information benutzen Wahrnehmende, während sie sich durch die Umwelt fortbewegen?“ Als eine solche Information identifizierte Gibson den optischen Fluss. Wenn sich Beobachtende durch ihre Umgebung bewegen, dann führen ihre Eigenbewegungen dazu, dass sich die Objekte in ihrer Umgebung relativ zu sich bewegen, selbst wenn diese Objekte im Ruhezustand sind. Diese Bewegung der Umgebung wird optischer Fluss genannt (vgl. Goldstein, 2008, S. 239).
Der optische Fluss ist in der Nähe des Beobachtenden schneller als in größerer Entfernung. Der Unterschied im Ausmaß des Flusses – die Abnahme der Fließgeschwindigkeit zur beobachtenden Person – wird als Bewegungsgradient bezeichnet. Der Bewegungsgradient liefert nach Gibson Information über die Geschwindigkeit des Betrachtenden (vgl. Goldstein, 2015, S. 154).
Eine bedeutsame Eigenschaft des optischen Flusses ist, dass es einen Punkt gibt, in dem keine Bewegung sichtbar ist. Dieser Punkt wird als Expansionspunkt bezeichnet (vgl. Goldstein, 2008, S. 239).
Gibson identifizierte mehrere wichtige Eigenschaften des optischen Flusses. Zum einen ist es eine Information, anhand derer sich bewegende Betrachter die Geschwindigkeit und Richtung ihrer Bewegung ermitteln können. Des Weiteren handelt es sich beim optischen Fluss um selbstproduzierte Information. Der Fluss wird durch die Bewegung der Betrachter hervorgerufen und liefert dann wiederum perzeptuelle Information, die den Betrachtern bei der Kontrolle weiterer Bewegungen hilft. Gibson beschreibt diese reziproke Beziehung zwischen Bewegung und Wahrnehmung durch die Feststellung, dass der Mensch wahrnehmen muss, um sich bewegen zu können, und dass er sich bewegen muss um wahrzunehmen. Die Bewegung erzeugt den optischen Fluss, der wiederum Information liefert, die die weitere Bewegung steuert (vgl. ebd.).
Ein weiteres bedeutsames Konzept des ökologischen Ansatzes ist der Begriff der invarianten Information. Dabei handelt es sich um Information, die ungeachtet der Bewegung des Betrachtenden konstant bleibt. Der optische Fluss liefert eine invariante Information, die zur Verfügung steht, während sich die betrachtende Person in ihrer Umgebung bewegt. Zwar kann sich der Fluss selbst verändern, während sich der Betrachtende in seiner Umgebung bewegt, aber der Fluss ist immer da. Der Expansionspunkt ist ebenfalls invariant, da er sich immer in der Fortsetzung der Bewegungsrichtung des Betrachtenden befindet (vgl. ebd., S. 240; Goldstein, 2015, S. 155).
Ein weiterer Begriff den Gibson eingeführt hat ist der des Texturgradienten. Ein Texturgradient liegt dann vor, wenn Elemente, die in einer Szenerie gleiche Abstände aufweisen, mit steigender Entfernung dichter gepackt erscheinen (vgl. Goldstein, 2008, S. 240). Texturgradienten sind ebenfalls Invarianten, da die Entfernungsinformation des Gradienten unabhängig von der Position eines Beobachtenden einer Szene erhalten bleibt (vgl. Müsseler, 2017, S. 39).
In seinen späteren Arbeiten führte Gibson das Konzept der „affordances“ in seiner ökologischen Wahrnehmungstheorie ein. Das Konzept der Affordanz beruht auf dem Gedanken, dass Umweltmerkmale in Form von Angeboten (affordances) relativ zu gegebenen Handlungsabsichten und Handlungsmöglichkeiten wahrgenommen werden. Das Wahrnehmen von Umweltmerkmalen und je gegebene Handlungspotenziale stehen in einer Wechselbeziehung. Die Wahrnehmung von Umweltmerkmalen ist nur für diejenigen Personen als Handlungsangebote wahrnehmbar, die über entsprechende Aktionsmöglichkeiten verfügen. Beim Fehlen entsprechender Aktionsmöglichkeiten werden Umweltgegebenheiten in der Wahrnehmung anders bestimmt (vgl. Scherer & Bietz, 2013, S. 117).
"What we perceive when we look at objects are their affordances, not their qualities, we can discriminate the dimensions of difference if required to do so in an experiment, but what the objects afford us, is what we normally pay attention to" (Gibson, 1979, S.133).
Affordances verweisen darauf, dass die Initiierung einer Handlung neben einer Antizipation ihrer Effekte immer auch Ausgangsbedingungen voraussetzt, die ihre Ausführung möglich machen. Gibson spricht in diesem Zusammenhang auch vom „functional layout“, das Objekte für bestimmte Handlungen geeignet aussehen lässt (vgl. Hoffmann, 1993, S. 33).
2.1.2 Theorie des Wahrnehmungszyklus
Die Weiterführung von Gibsons Gedanken findet sich im Modell des Wahrnehmungszyklus von Ulric Neisser wieder (vgl. Loibl, 1990, S. 24). Neisser zufolge findet Wahrnehmung in einem Handlungskontext unter der Führung antizipierender Schemata, die das Gedächtnis bereitstellt, statt (vgl. ebd.). „Weil wir nur sehen können, wonach wir zu suchen vermögen, bestimmen diese Schemata (zusammen mit der wirklich verfügbaren Information), was wahrgenommen wird“ (Neisser, 1979, S. 26). Das Gedächtnis leitet demzufolge den Wahrnehmungsvorgang, indem es die zu erwartenden Informationen vorgibt und wird im Prozess der Erkundung der Umweltsituationen durch neue Informationen selbst immer erneuert und erweitert (vgl. Loibl, 1990, S. 24).
2.2 Handlung
„Von Handlung als spezifischer Form des Verhaltens und Handeln als konkretem Vollzug wird dann gesprochen, wenn ein Verhalten unter subjektiven Absichten, d. h. intentional in aktiver Auseinandersetzung mit der Umwelt organisiert wird; dies schließt sowohl absichtliches Tun (z. B. Ausführen eines Freiwurfs) als auch absichtliches Unterlassen (z. B. bewusst unterlassene Hilfeleistung) ein“ (Nitsch, 2006, S. 26).
„Bewegungen sind dagegen zum einen die motorischen Anteile der Handlung und zum anderen motorische Aktivitäten, die nicht zielgerichtet sind“ (Elsner & Prinz, 2006, S. 286).
Bezogen auf Sport sind Handlungen in sich abgeschlossene, zeitlich und inhaltlich strukturierte Einheiten der sportlichen Aktivität, die auf das Erreichen eines bestimmten Ziels gerichtet sind. In den meisten Sportarten ist der Vollzug jeder Wettkampfübung, z.B. eines leichtathletischen Wurfs, als mehr oder weniger komplexe Handlung zu verstehen, die sich aus einer Reihe von Teilhandlungen aufbaut. In bestimmten Sportarten überwiegen Handlungsketten, also ganze Folgen von Handlungen, die einem gemeinsamen strategischen Ziel untergeordnet sind (vgl. Meinel & Schnabel, 2015, S. 29).
Das vorliegende Kapitel beschäftigt sich mit zwei theoretischen Ansätzen zur Erklärung menschlichen Handelns: dem sensomotorischen Ansatz und dem ideomotorischen Ansatz.
2.2.1 Sensomotorischer Ansatz
René Descartes gilt als ein bekannter historischer Vertreter des sensomotorischen Ansatzes. Dieser Ansatz beinhaltet die Überlegung, dass Handlungen die Fortsetzung der Wahrnehmung mit anderen Mitteln sind (vgl. Hommel & Nattkemper, 2011, S. 3). Wie Descartes‘ Konzeptionsskizze (Abbildung 1) zu entnehmen ist, leitet die visuelle Wahrnehmung eingehende Informationen an eine Schaltzentrale weiter, wo eine dem wahrgenommen Ereignis angemessene Reaktion ausgewählt und durch die Ansteuerung der beteiligten Muskulatur eingeleitet wird (vgl. ebd.). Descartes hatte die Vorstellung, dass die Sinnesorgane durch kleine Fäden mit der Zirbeldrüse des Gehirns verbunden sind (vgl. Kunde, 2017, S. 823). Über diese mechanische Verbindung versetzt eine Stimulation der Sinnesorgane die Zirbeldrüse in Bewegung, die daraufhin Flüssigkeit absondert, was wiederum über ein hydraulisches System zu den Muskeln Körperbewegungen verursacht (ebd.).
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