Die Fragestellung „Welcher Gestaltungsmittel bedient sich Kandinsky bei der Komposition VIII?“ zielt darauf ab, dem wissenschaftlichen Wert der Kunstelemente näher zu kommen und Kandinskys Arbeitsweise beim Erschaffen eines innerlich pulsierenden Werkes zu verstehen. „Abgesehen von ihrem wissenschaftlichen Wert, der von einer genauen Prüfung der einzelnen Kunstelemente abhängt, ist die Analyse der Kunstelemente eine Brücke zum inneren Pulsieren des Werkes.“, so Kandinsky in seinem Theoriewerk „Punkt und Linie zu Fläche“. Diese Kunstelemente sollen das Thema dieser Arbeit sein, die sich insbesondere mit der „Komposition VIII“ befasst.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Nichtkonstruktive Mittel
3. Kandinsky: „Komposition VIII“
3.1 Analyse der nichtkonstruktiven Mittel
3.2 Punkt und Linie zu Fläche
3.3 malerische Elemente der „Komposition VIII“
4. Gestaltgesetze und die Komposition VIII
4.1 Faktoren der Nähe und Gleichheit
4.2 Faktoren der Durchgehenden Linie und Geschlossenheit
4.3 Faktor der Guten Ganzgestalt
5. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildungsnachweise
1. Einleitung
„Abgesehen von ihrem wissenschaftlichen Wert, der von einer genauen Prüfung der einzelnen Kunstelemente abhängt, ist die Analyse der Kunstelemente eine Brücke zum inneren Pulsieren des Werkes.“1, so Kandinsky in seinem Theoriewerk „Punkt und Linie zu Fläche“. Diese Kunstelemente sollen das Thema dieser Arbeit sein, die sich insbesondere mit der „Komposition VIII“ befasst. Die Fragestellung „Welcher Gestaltungsmittel bedient sich Kandinsky bei der Komposition VIII?“ zielt darauf ab, dem wissenschaftlichen Wert der Kunstelemente näher zu kommen und Kandinskys Arbeitsweise beim Erschaffen eines innerlich pulsierenden Werkes zu verstehen.
In Kapitel 2 werden zunächst die nichtkonstruktiven Mittel eingeführt, welche die einfachsten Gestaltungsmittel zur Schaffung von Perspektive darstellen. Das Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, wie eine Form auf der Bildfläche betrachtet werden muss und wie durch die einfachen Mittel Höhenlage, Größe und Überschneidung der Eindruck von Tiefenräumlichkeit erweckt werden kann. Nach dieser Einführung soll im nächsten Kapitel die „Komposition VIII“ durch eine kurze Beschreibung vorgestellt werden. Um die Gestaltungsmittel tiefergehend betrachten zu können, sollen im weiteren Verlauf der Arbeit einzelne Figuren aus dem Werk herausgelöst und einzeln analysiert werden. Weil Kandinsky selbst das Zerlegen eines Kunstwerks empfiehlt, um seine Bestandteile analysieren zu können, wird ihm diese Vorgehensweise am gerechtesten.
Auf der Grundlage von Kapitel 2 wird in 3.1 Kandinskys Einsatz der nichtkonstruktiven Mittel analysiert und der tiefenräumliche Eindruck des Werkes betrachtet. 3.2 stellt Kandinskys Theoriewerk „Punkt und Linie zu Fläche“ vor, wobei seine Sicht auf ein Kunstwerk und sein Auseinandersetzen mit der Gestalttheorie deutlich werden soll. Darauf aufbauend folgt ein Kapitel über malerische Elemente der „Komposition VIII“. Hier wird ein Ausschnitt der „Komposition VIII“ auf der Grundlage von Kandinskys Theoriewerk betrachtet. Der Schwerpunkt wird dabei auf sein Verständnis von Linien gesetzt.
Im vierten Kapitel werden schließlich die Gestaltgesetze nach Max Wertheimer vorgestellt, welche als wichtiger Beitrag zur Gestalttheorie betrachtet werden können. Die Gestaltgesetze werden erläutert und anschließend auf die „Komposition VIII“ bezogen, um die Wahrnehmung des Werkes noch besser zu verstehen. Innerhalb von drei Unterkapiteln geht es um die Wahrnehmung von nah beieinander liegenden und gleich bzw. ähnlich erscheinenden Dingen, durchgehende Linien, geschlossene Formen und schließlich um die Wahrnehmung einer Form, welche teilweise von einer anderen überdeckt wird.
Nach der Betrachtung der verschiedenen Bestandteile der „Komposition VIII“ auf verschiedenen Ebenen soll ein Fazit zu der Fragestellung nach den Gestaltungsmitteln geschlossen werden.
2. Nichtkonstruktive Mittel
Eine Form muss in zwei verschiedenen Bereichen betrachtet werden. Einerseits ist sie zweidimensional auf der Bildfläche abgebildet, gleichzeitig befindet sie sich als dreidimensionales Objekt in dem im Bild abgebildeten Raum. Folglich besitzt auch das Bild zwei unterschiedliche Kompositionen. Objekte sind im Bildraum, der sich in die Tiefe ausweitet, und andererseits auf der Bildebene, die flach ist, angeordnet. Nichtkonstruktive Mittel wie Höhenlage, Größe und Überschneidung können Hinweise dafür sein, wo sich ein Objekt im Bildraum befindet.2
Die Darstellung von Objekten auf unterschiedlicher Höhe ist das älteste Mittel zur Erzeugung von Raumwirkung. Objekte die sich im Bildraum weiter vorne befinden, werden auf der Bildebene weiter unten dargestellt und Objekte, die im Bildraum weiter hinten liegen, werden auf der Bildebene weiter oben platziert.3
Sind Objekte, deren Größenverhältnisse bekannt sind, in anderen Verhältnissen dargestellt, kann eine Tiefenwirkung entstehen. Verhältnismäßig kleiner dargestellte Objekte erscheinen dem Betrachter weiter hinten. Verbindet man dieses Mittel mit der Höhenlage, kann eine noch stärkere Tiefenräumlichkeit erreicht werden.4 So wie in der Musik eine Melodie nicht von ihrer Tonart abhängt, hat die Größe auf die Wahrnehmungsgestalt wenig Einfluss. Solange Größenverhältnisse beibehalten werden, wird die Gestalt eines Objekts nicht durch das Ändern der Größe beeinflusst. Genauso kann eine Melodie in eine völlig andere Tonart transponiert werden ohne dass sie eine andere ist, solange die Verhältnisse zwischen den einzelnen Tönen noch stimmen.5
Wird ein Objekt teilweise von einem anderen verdeckt, scheint es tiefer im Raum zu liegen, als das Objekt, welches nicht überdeckt wird.6 Damit die Objekte angemessen wahrgenommen werden, müssen sie sich als individuelle Teile voneinander absetzen. Ist die überschnitte Form nicht eindeutig zu erkennen, kann es zu einer falschen Interpretation kommen.7 Durch die Überschneidung können sich verschiedene Objekte auf derselben Stelle der Bildfläche befinden. Dies ist durch die Trennung der Objekte in der Tiefe des Bildraumes möglich. Damit diese Trennung eindeutig bleibt, muss die Überschneidung auf eines der Objekte beschränkt bleiben. Eine Ausnahme dieser Regel ist die Darstellung von Durchsichtigkeit. In der modernen Kunst wird diese Bedingung bewusst aufgehoben. Objekte überschneiden sich gegenseitig und Flächen gehören entgegen der gewohnten Wahrnehmung zu verschiedenen Objekten. Paradoxerweise kann ein Objekt hierdurch gleichzeitig vollständig und unvollständig sein.8
3. Kandinsky: „Komposition VIII“
Wassily Kandinskys „Komposition VIII", entstanden 1923, hängt heute im Guggenheim Museum in New York. Er verwendet Öl auf einer Leinwand mit den Maßen 140 x 201 cm im Querformat. (Siehe Abbildung 1) Auf einem hellen, oben leicht gelblich und unten leicht bläulich gefärbten Hintergrund finden viele verschiedene Formen und Linien Platz. Obwohl das Medium Ölfarbe ist, haben vor allem die flächenbedeckend verlaufenden Farben eine Wasserfarben-Optik. Die Formen, Kreise, Dreiecke, Rechtecke, geschwungene sowie gerade Linien, Halbkreise und Linienanordnungen in Schachbrettmustern, verteilen sich auf der ganzen Bildfläche, mit einer leichten Ballung im oberen, rechten Viertel. Die bunten Farben sind lasierend aufgetragen und geben oft in durchsichtiger Form die Sicht auf überschnittene Objekte frei. Alle Teile scheinen in einem dreidimensionalen Raum zu schweben und sind in einer dynamischen Art angeordnet. Sie wirken fast, als seien sie in Bewegung. Auch wenn sich zuerst der Gedanke von ,Durcheinander‘ einstellt, scheint die Komposition an einigen Stellen sehr lebendig und an anderen Stellen wiederum ruhig zu sein.
3.1 Analyse der nichtkonstruktiven Mittel
Weil die Objekte frei im Bildraum zu schweben scheinen, ist die Höhenlage nicht als ausschlussgebender Faktor für die Entfernung eines Objektes beziehungsweise einer Form aufzuführen. Trotz dessen scheinen die Formen durch die dynamische Konstellation der Linien von links unten nach rechts oben in die Tiefe zu flüchten. Auch die Menge der kleineren Formen nimmt in diese Richtung zu. Weil es sich um einfache Formen handelt, welche nicht des Betrachters Sehgewohnheiten entsprechen, kann auch der Größenfaktor allein nicht ausschlaggebend für die räumliche Wahrnehmung des Abgebildeten sein. Unabhängig von der Größe und Höhenlage können Unstimmigkeiten darüber auftreten, welches von zwei Objekten vor dem jeweils anderen liegt. Betrachtet man aber das Bild als ein Gesamtes, tragen beide Mittel trotzdem intuitiv zu der Räumlichkeitswirkung bei. Besonders die Überschneidungen sind in diesem scheinbar schwerelosen Raum ausschlaggebend für die starke Tiefenwirkung. Im rechten, oberen Viertel befinden sich die meisten Formen und somit die meisten Überschneidungen, was die Stelle erneut als tiefsten Punkt des Werkes ausweist. Bei Betrachten dieses raumschaffenden Mittels treten wieder vereinzelt Unklarheiten über die Lage der Figuren auf räumlicher Ebene auf. Durch ihre Durchsichtigkeit kann der Betrachter sich nicht festlegen, welche Form sich vorne, und welche Form sich hinten befindet. Jedoch wird, unabhängig von dieser Entscheidung, durch die Überschneidung deutlich, dass die Figuren sich hintereinander und folglich in einem dreidimensionalen Raum befinden.
Die drei nichtkonstruktiven Mittel zur Schaffung von Räumlichkeit sind maßgeblich für die Wirkung dieses Werkes. Trotz der völligen Abstraktion und einer Darstellung entgegen aller alltäglicher Sehgewohnheiten sind sie verantwortlich für eine unabstreitbare Tiefenwirkung.
[...]
1 Kandinsky 1955, S. 14.
2 Vgl. Arnheim 1965, S. 92.
3 Vgl. Felgentreu 2011, S. 225.
4 Vgl. Felgentreu 2011, S. 225.
5 Vgl. Arnheim 1965, S. 162.
6 Vgl. Felgentreu 2011, S. 225.
7 Vgl. Arnheim 1965, S. 84-85.
8 Vgl. Arnheim 1965, S. 102-103.