In dieser Arbeit wird die reversible Metamorphose von Mensch und Maschine genauer untersucht. Dabei soll eine Abgrenzung zu dem von Freud entworfenen Figurenkomplex und seiner Deutung stattfinden, um die Grenzen der psychoanalytischen Interpretation aufzuzeigen.
Zentral für die Untersuchung sind die distinktiven Merkmale zwischen psychoanalytischer und semiotischer Analyse und Interpretation des „Sandmanns“. Letztere bezieht das literarische Genre der Phantastik als determinierende Form in die Interpretation mit ein.
Für den Psychoanalytiker und Arzt Freud sind die phantastischen Elemente von geringer Bedeutung, da er sich ausschließlich für den Fall Nathanael interessiert. Dabei gehen gewisse Aspekte in der Betrachtung des Werkes verloren. Der semiotischen Analyse Kremers folgend werden hier diese Aspekte am Beispiel der Metamorphose von Mensch und Maschine im „Sandmann“ herausgearbeitet, ohne dabei eine generelle Aussage zum Nachteil der Psychoanalyse in der Literaturwissenschaft treffen zu wollen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Erzählung
3. Leitlinien der Psychoanalyse
3.1 Nathanaels Ödipuskomlex und Kritik
3.2 Das Unheimliche als Weg ins Unbewusste
4. Leitlinien der Phantastik
4.1 Das Unbewusste
4.2 Verschmelzung
4.3 Augen als Transformationsmedium
4.4 Nathanaels Wahrnehmung
4.4.1 Männliche Figuren
4.4.2 Weibliche Figuren
5. Die Metamorphose am Beispiel von Mensch und Maschine
6. Zusammenfassung
Metamorphosis (griech.) meint „Gestaltwandel“, vor allem die Verwandlung eines Menschen in ein Tier, eine Pflanze oder auch in unbelebte Natur.“[1]
1. Einleitung
In der Erzählung „Der Sandmann“[2] von E.T.A. Hoffmann finden sich zahlreiche Momente, die die Bezeichnung Metamorphose verdienen. Diese sollen hier zum Gegenstand der Untersuchung werden und im Spannungsfeld zwischen psychoanalytischer Interpretation und einer Charakterisierung des Phantastischen betrachtet werden.
Die Phantastische Literatur ist geprägt vom „(…) Menschenbild der Exzentrik, Anomalie und beunruhigenden Devianz (…).“[3] Das Nachtstück „Der Sandmann“ hat zahlreiche Momente, in denen dieses Menschenbild zu Tage tritt. Allein der Protagonist Nathanael zeigt im Verlaufe der Erzählung einen exzentrischen Charakter, gibt sich einer anormalen Liebe hin und verhält sich zutiefst abweichend, wenn er versucht seine Verlobte zu ermorden. Zuletzt veranschaulicht der „(…) Wahnsinn und Selbstmord des Studenten (…) Nathanael, der, (…) sich Schritt für Schritt in die Zirkel seiner exzentrischen Wahnwelt verliert“[4], dass Hoffmanns Sandmann sinngemäß ein Exemplar phantastischer Literatur ist.
Im Folgenden sollen einzelne im Sandmann entschlüsselbare Metamorphosen hinsichtlich phantastischer Charakteristik, betrachtet werden, die geprägt sind von:
„Transformierbarkeit, Mutabilität, plötzlich eintretende(n) oder allmählich sich vollziehende(n) Wandlungen(, die) (…) auf Instabilität, Inkonstanz von Körper und Seele schließen (lassen) und (…) in extremen Fällen die personale Identität auf den Kopf (stellen).“[5]
Der Psychoanalytiker Freud diagnostizierte dem jungen Nathanael ebenfalls eine instabile Gefühlslage, die aber in der konstanten Systematik der Psychoanalyse interpretiert wird. Seine Interpretation in einer Fußnote des berühmten Aufsatzes über „Das Unheimliche“[6] liefert grundlegende Vorarbeit für die literaturwissenschaftliche Deutung eines der meistinterpretierten Werke der deutschen Romantik.[7] Doch entstehen auch Nachteile aus einer rein psychoanalytischen Sichtweise auf die Erzählung, da hinter der auf den Protagonisten Nathanael fixierten Interpretation, die anderen Figuren fast verschwinden.
Auch die literarischen Motive treten hinter dem für Freud einzig interessanten Motiv der Augen zurück. Dies steht wiederum lediglich im Dienste der Deutung der Hauptfigur Nathanael und dessen psychoanalytischer Diagnose. Um eine hinreichende Interpretation für die Literaturwissenschaft leisten zu können, müssen die Figuren und Motive zunächst gleichberechtigten Status erhalten, um eine tiefere Erkenntnis über das Werk zu ermöglichen.
In Detlef Kremers „Romantische Metamorphosen“[8] wird die Stichhaltigkeit der psychoanalytischen Deutung Freuds aus semiotischer Sicht geprüft. In seiner Arbeit steht unter anderem die alchemistische Metamorphose im Mittelpunkt der Sandmann - Interpretation. Ihre Wirkung setzt sich bis in den letzten Winkel der Erzählung fort.
Hier sei das Augenmerk, unter Berücksichtigung der gesamten Figurenkonstellation und bestimmender Motive, auf die Figuren Olimpia und Nathanael gelegt, die parallel zueinander von Hoffmann im Laufe der Erzählung mit mechanistischen Attributen versehen werden.
In dieser Arbeit wird die reversible Metamorphose von Mensch und Maschine genauer untersucht. Dabei soll eine Abgrenzung zu dem von Freud entworfenen Figurenkomplex und seiner Deutung stattfinden, um die Grenzen der psychoanalytischen Interpretation aufzuzeigen.
Zentral für die Untersuchung sind die distinktiven Merkmale zwischen psychoanalytischer und semiotischer Analyse und Interpretation des „Sandmanns“. Letztere bezieht das literarische Genre der Phantastik als determinierende Form in die Interpretation mit ein.
Für den Psychoanalytiker und Arzt Freud sind die phantastischen Elemente von geringer Bedeutung, da er sich ausschließlich für den Fall Nathanael interessiert. Dabei gehen gewisse Aspekte in der Betrachtung des Werkes verloren. Der semiotischen Analyse Kremers folgend werden hier diese Aspekte am Beispiel der Metamorphose von Mensch und Maschine im „Sandmann“ herausgearbeitet, ohne dabei eine generelle Aussage zum Nachteil der Psychoanalyse in der Literaturwissenschaft treffen zu wollen.
2. Die Erzählung
„Das ambivalente Verhältnis von imaginativ-phantastischer und alltäglicher Welt beschreibt (…) den Grundkonflikt der Erzählung vom Sandmann.“[9] Die alltägliche Welt mit ihrem reichhaltigen Repertoire an psychologisierenden Ansichten, Durchsichten, Aussichten und tieferen Einblicken wird „die gefährlichen und zerstörerischen Konsequenzen einer einseitigen phantastischen Wahrnehmungsverschiebung“[10], wie sie Nathanael getroffen hat, nicht kurieren können.
So wird auch Freuds Ansatz die phantastische Erzählung von Hoffmann nicht vollends erfassen können, weil er die andere Welt ausblendet. Freud rationalisiert die Elemente des Phantastischen, womit er ein Vordringen dorthin unmöglich macht. Er schöpft als Naturwissenschaftler lediglich aus der „alltäglichen Welt“, die ja keineswegs an abgründigem Material entbehrt. Doch geht dabei womöglich die von Kremer zitierte ‚einzigartige Atmosphäre von Dichte und Unentrinnbarkeit’[11], die die Erzählung kennzeichnet, verloren.
Es sei kurz der Verlauf der Handlung erzählt: Der Student Nathanael erleidet einen Schock, als er glaubt, dem Schreckensbild seiner Kindheit wieder zu begegnen. In dem Wetterglashändler Coppola erkennt er den Advokaten Coppelius. Durch dessen regelmäßigen, unheimlichen Besuch bei seinem Vater und dem grausamen Ammenmärchen über den Sandmann, in dem dieser den Kindern Sand in die Augen streut, „dass sie blutig zum Kopf herausspringen“[12], fügt Nathanael in seiner Phantasie Coppelius mit der bedrohlichen Gestalt des Sandmanns zusammen. In einem alchemistischen Experiment, in dem Coppelius ihm die Augen rauben will und der Vater getötet wird, erleidet Nathanael ein Trauma. Es wird wieder wach gerufen, als Coppelius unter dem Namen Coppola erneut in sein Leben tritt. Coppola verkauft Nathanael ein Fernglas, mit dem er den Automaten Olimpia erspäht. Er verliebt sich leidenschaftlich in die Puppe. Seine Verlobte Clara empfindet er bald als seelenlos, da sie in ihm keinerlei Leidenschaft zu entzünden vermag und seine Dichtung nicht ernst nimmt.
Die Puppe Olimpia ist das „Kind“ des Professors Spalanzani, der mit Coppola in Streit um sie gerät, bei dem die Puppe zerstört wird. Als Nathanael dabei erkennt, dass sie ein Automat ist, bekommt er einen Wahnsinnsanfall, der ihn ebenso erschöpft wie damals der Tod des Vaters. Nach scheinbarer Genesung erscheint Coppelius ein letztes Mal. Nathanaels Wahnsinn wird wieder geweckt und er versucht Clara in die Tiefe zu stoßen. Nachdem ihr Bruder und bester Freund Nathanaels, Lothar sie rettet, stürzt sich Nathanael selbst in den Tod.
3. Leitlinien der Psychoanalyse
3.1 Nathanaels Ödipuskomlex und Kritik
„Romantische Erzählungen bauen ihre Handlungsstrukturen sehr häufig über ödipale oder im weitesten Sinne familiäre Konflikte auf.“[13]
Die Bedrohung der Augen in Nathanaels Kindheit ist der Beginn einer dichten Kette von Momenten, in denen das Leitmotiv der Augen auftaucht. Für Sigmund Freud sind sie es, die ihn zu seiner psychoanalytischen Interpretation des Sandmanns inspirieren.
Das Motiv der Augen ist in der Psychoanalyse ein Ersatzmotiv für die Genitalien. Nathanaels Angst vor dem Augenverlust ersetzt die eigentliche Angst vor Kastration. Diese ist bestimmendes Element in Freuds Theorie des Ödipuskomplexes.
Nach der klassischen griechischen Tragödie „Ödipus Rex“ von Sophokles benannt, geht es dabei um die ödipale Phase eines jeden Sohnes[14], der in deren Verlauf ein sexuelles Begehren für die Mutter entwickelt, während er mit seinem Vater in Rivalität tritt. Dies kulminiert in einer inzestiösen Beziehung zur eigenen Mutter und der Ermordung des Vaters, der mit Blendung (Kastration) droht.[15]
Ein Ende der antiken Sage berichtet, wie Ödipus die wahren Geschehnisse endlich durchschaut, als ihm der blinde Seher Teiresias die nötigen Informationen enthüllt. Daraufhin sticht sich Ödipus die Augen aus.[16]
Interessant ist, dass Nathanael seinerseits, als er mit Hilfe eines Fernglases sozusagen sehend wird, nicht die Wahrheit erkennt, sondern sich blenden lässt von der künstlichen Erscheinung der Olimpia, die ein Spiegelbild seiner selbst ist. Gegen die blendende Macht der Olimpia kann sich Nathanael nicht wehren, weil er sich ihr in offensichtlicher Selbsttäuschung freiwillig hingibt und sich selbst in ihr verkennt.
Im griechischen Mythos bewirkt ein schicksalhafter Fluch, dass Ödipus seine Mutter Iokaste ehelicht und durch einen Zufall, eigentlich auf der Flucht vor seiner Bestimmung, irrtümlich seinen Vater Laios erschlägt.
Bei Nathanael hingegen kommt es weder zur ersehnten Heirat mit der Mutter oder mit der mütterlichen Clara, noch ist er es, der den rivalisierenden Vater tötet. Er entgeht auch nicht wirklich der Kastration, da er sich schließlich von einem phallisch wirkenden Ratsturm in den Tod stürzt. Im Gewühl verschwindet der schreckliche Coppelius[17] und kommt als Verkörperung des ‚bösen Vaters’ ungeschoren davon.
Die komplexe Verquickung der Figuren des Sandmanns, des Advokaten Coppelius und des Wetterglashändlers Coppola, ebenso wie des Vaters und des Professors Spalanzani reduziert Freud auf eine Spaltung der Vaterfigur. Die ersten drei Figuren stehen als Komplex des ‚bösen’ dem des ‚guten’ Vaters, in Gestalt des biologischen Vaters Nathanaels und des ‚Vaters’ der Olimpia, Spalanzani, gegenüber.
„Ähnlich wie Nathanael sich in einer Art Spiegel-Metamorphose, deren Preis und Gesetz das Augenlicht bezeichnet, zur Olimpia verdoppelt, so scheint es auch zwischen den beiden experimentierenden Männerfiguren symbiotische Linien zu geben, die Freud dazu veranlasst haben, eine Konfiguration von guter und böser Vaterimago zu unterstellen.“[18]
Auf die Beziehung zwischen Nathanael und Olimpia wird noch eingegangen. Coppelius, zunächst als Personifikation des ‚bösen’ Vaters, bedroht die Augen Nathanaels, will ihn also gemäß dem Ödipuskomplex kastrieren. Dem rivalisierenden Vater wünscht Nathanael, nach Freud, den Tod. Freud bezieht diesen verdrängten Todeswunsch aber auf die böse Vaterimago, wenngleich der gute Vater tatsächlich vom Tod betroffen ist:
„Das von Verdrängung am stärksten betroffene Stück des Komplexes, der Todeswunsch gegen den bösen Vater, findet seine Darstellung in dem Tod des guten Vaters, der dem Coppelius zur Last gelegt wird.“[19]
Die Vaterimago, wie sie Freud nennt, ist ein mächtiges Konstrukt, durch das Nathanael traumatisiert wird und innerlich scheitert. Der Sandmann steht sozusagen auf einer Metaebene über den beiden. Er erscheint als Beziehungszerstörer und Vorbote des Todes.
Freud fragt, „warum (...) die Augenangst hier mit dem Tode des Vaters in innigste Beziehung gebracht (wird)“ und „der Sandmann jedesmal als Störer der Liebe“ auftritt.[20] Durch seine dunkle, dämonische Macht werden die Beziehungen zwischen Nathanael und seiner Braut Clara, seinem besten Freund Lothar, seinem zweiten Liebesobjekt Olimpia und sich selbst zerstört.
Freud führt diese Deutung letztlich auf den Autor Hoffmann selbst zurück, der als „Kind einer unglückliche Ehe“ im Alter von drei Jahren von seinem Vater verlassen wurde, was sein Verhältnis zu ihm Zeit seines Lebens verkomplizierte.[21]
[...]
[1] Metzler Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen. Hrsg.: Günther und Irmgard Schweikle, 2. Aufl., Stuttgart: Metzler 1990, S. 301
[2] Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1991; erste handschriftliche Fassung: „d. 16. Novbr. 1815 Nachts 1 Uhr“
[3] Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Zur Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte: Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2002, S.7
[4] Kremer, Detlef: Romantische Metamorphosen. E.T.A. Hoffmanns Erzählungen: Stuttgart, Weimar: Metzler 1993, S. 143
[5] Lachmann: Erzählte Phantastik, S. 7
[6] Freud, Sigmund: Das Unheimliche; in: Psychoanalytische Studien an Werken der Dichtung und Kunst, Leipzig: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1924
[7] Ebd.: S. 157
[8] Kremer, Detlef: Romantische Metamorphosen. E.T.A. Hoffmanns Erzählungen: Stuttgart, Weimar: Metzler 1993
[9] Ebd.: S. 143
[10] Ebd.
[11] Vgl. ebd.: S. 166
[12] Hoffmann: Der Sandmann, S. 5
[13] Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 155/6
[14] Die Tochter ist vom Elektrakomplex betroffen. (Anm. Verf.)
[15] http://de.wikipedia.org/wiki/ödipus
[16] Ebd.
[17] Vgl. Hoffmann: Der Sandmann, S. 40
[18] Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 165
[19] Freud: Das Unheimliche, S. 114
[20] Vgl. ebd., S.114
[21] Vgl. ebd., S. 115
- Arbeit zitieren
- Nora Gielke (Autor:in), 2007, Die Metamorphosen im "Sandmann" von E.T.A. Hoffmann, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/116026