Die Arbeit geht der Frage nach, welchen Einfluss die schriftliche Aufzeichnung geltenden und neuen Rechts im Rahmen der Zwölftafelgesetzgebung um 450 v. Chr. im archaischen Rom auf Rechtskultur und Rechtsentwicklung in Rom hatte. Die XII Tafeln werden dabei zunächst in ihrem historischen Kontext erklärt und in die Verschriftlichungsentwicklungen der weiteren griechischen Kultursphäre im 5. Jahrhundert v. Chr. eingeordnet. Zugleich werden die Unterschiede zwischen der Kodifikation in Rom und in den griechischen poleis herausgearbeitet. Abschließend betrachtet die Arbeit die Auswirkungen dieser Verhältnisse auf die spätere römische Rechtsentwicklung und unternimmt eine kurze Charakterisierung derselben vor dem Hintergrund der XII Tafeln.
Inhaltsverzeichnis
I. Einführung
II. Die XII Tafeln
1. Entstehungs- und Gebrauchsgeschichte
2. Überlieferung und Quellenlage
3. Inhalte der XII Tafeln
III. Verschriftlichung von Normen in der griechischen Einflusssphäre des 6. und 5. Jahrhundert v. Chr.
1. Schriftlichkeit und Konfliktlösung vor der Verschriftlichung
2. Motive und Bedeutung der Verschriftlichung
3. Auswirkungen der Verschriftlichung
4. Besonderheiten der Verschriftlichung in Rom
IV. Bedeutung und Wirkungen der XII Tafeln für die Entwicklung der römischen Rechtskultur in vorklassischer Zeit
1. Schriftlichkeit in der römischen Rechtspraxis
2. Die Herausbildung des Römischen Rechts - vom nomos zum ius
V. Schluss
I. Einführung
„ Discebamus enim pueri XII ut carmen necessarium, quas iam nemo discit. “1
- Cicero, De Legibus, 2,59.
Es bedarf nur einer Lektüre jener kurzen Bemerkung Ciceros, um einen Eindruck von der Bedeutung des Zwölftafelgesetzes für das römische Recht zu gewinnen. Noch 400 Jahre nach dem Erlass der Tafeln in den Anfängen der römischen Republik kam ihnen noch 400 Jahre später eine Bedeutung zu, die römische Schüler in scheinbar starrer Fortführung einer ungebrochenen Tradition dazu veranlasste, ihren Inhalt auswendig zu lernen (ut carmen necessarium ).
Diese auf den ersten Blick offenbare Schlussfolgerung sowie die Bemerkung Ciceros verweisen auf zweierlei Sachverhalte, die für den Gegenstand und Gang dieser Arbeit leitend sind. Zum Einen beweisen sie die Bedeutung, die den XII Tafeln als erstem verschrifteten Rechtstext für die weitere Rechtsentwicklung in der römischen Republik zukommen sollte. Bereits der Modus des Umgangs mit demselben Text, die beständige mündliche Repetition seines Inhalts, deutet indes zum anderen auf eine spezifische Art und Weise der Behandlung verschrifteten Rechts in der römischen Tradition hin.2
Die Bedeutung der Schriftlichkeit für das Recht in der archaischen Antike und die Herausbildung des Rechts in der römischen Republik sollen als Wirkungsfelder des Zwölftafelgesetzes im Verlauf der folgenden Ausführungen näher untersucht werden. Dafür werden die XII Tafeln zunächst nach ihrer Überlieferungsgeschichte und der heutigen Quellenlage, den Umständen ihres Erlasses und ihrem Inhalt dargestellt. Anschließend sind die charakterististischen Hintergründe, Eigenarten und Auswirkungen der sich im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. in der weiteren griechischen Einflusssphäre allgemein vollziehenden Verschriftlichungsvorgänge unter Würdigung der Besonderheiten der römischen Verhältnisse näher zu betrachten. Erst im Anschluss an diese Ausführungen kann die Frage nach den Auswirkungen des Zwölftafelgesetzes auf die Rechtskultur der römischen Republik beantwortet werden. Dabei ist zu zeigen, dass die XII Tafeln über die vordergründige Ebene des Schriftgebrauchs hinaus einen Angelpunkt für Rechtsidee und Rechtsfortbildung in der römischen Republik bildeten.3
II. Die XII Tafeln
1. Entstehungs- und Gebrauchsgeschichte
Zur Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der XII Tafeln kann im Wesentlichen auf die Berichte der späteren römischen Literatur zurückgegriffen werden, mit denen wohl etwa ein Drittel des ursprünglichen Inhalts der Tafeln überliefert ist.4 In vielen Punkten - etwa der Erzählung um die nach Griechenland entsandten Komiteen oder der Einsetzung eines zweiten Dezemvirats - müssen die Berichte jedoch als unglaubwürdig oder aus politischen und ideologischen Motiven verändert gelten.5 Daher sind im Einzelnen, vom griechischen Einfluss über die Bedeutung des Ständekonflikts für die XII Tafeln bis hin zur eigentlichen historischen Authenzität der Tafeln, fast sämtliche Entstehungsumstände umstritten. Wenn also die genauen Entstehungsumstände der Tafeln weithin im Dunkeln liegen, besteht doch im Hinblick auf die wesentlichen Abläufe ihrer Entwicklung und Aufstellung sowie ein mit empirischen Belegen abgesicherter Konsens innerhalb der einschlägigen Forschung.
Das Zwölftafelgesetz war so eine um 450 v. Chr. auf dem römischen Forum in heute unbekannter Form zur allgemeinen Einsehbarkeit aufgestellte Teilkodifikation des formellen und materiellen Rechts der römischen Stadt.6 Kaum 50 Jahre nach dem Fall der etruskischen Königsherrschaft entstanden sie in einem Umfeld, in dem der städtische Kern Roms mit der Errichtung des römischen Forums langsam zu einer geschlossenen Konsolidierung fand, dessen Herrschaftsbereich sich kaum auf ein über die Hügellandschaft um Kapitol und Palatin hinausreichendes Gebiet erstreckte.7 Prägend für diese frühen Jahre der Republik war vor allem der fortwährende Ständekonflikt zwischen plebejischen und patrizischen Gruppen innerhalb der stadtrömischen Gesellschaft. Es wird gemeinhin angenommen, dass es dieser die Entwicklung der römischen Stadt in ihren frühen Jahren bestimmende Streit um die Privilegien der römischen Aristokratie, die im Rahmen ihrer Priesterämter die Aufsicht und Pflege über das geltende Recht weitgehend monopolisiert hatte, sowie die sich hieraus ergebende Forderung der plebejischen Seite nach einer verbindlichen Aufzeichnung des geltenden Rechts mittels einer verbindlichen und rechtssicheren Verfahrensordnung sowie einem genauen und öffentlichen Vollstreckungsrecht waren, die das bestimmende Motiv für die Erarbeitung der XII Tafeln bildeten.8 Dieser Einfluss des Ständekonflikts auf die XII Tafeln ist an späterer Stelle noch näher zu untersuchen.9
Es gilt als gesichert, dass als Reaktion auf diese wahrgenommenen Missstände ein Komitee von zehn ausschließlich aus dem patrizischen Adel erwählten Männern ( decemviri legibus scribundis ) im Jahr 451 v. Chr. eingesetzt wurde, das sich mit der Ausarbeitung einer verbindlichen Rechtsaufzeichnung befassen sollte.10 Wenn die in der späteren römischen Literatur dokumentierte Entsendung von drei Mitgliedern der Kommission nach Griechenland zum Studium der solonischen Gesetze Athens auch als spätere Erfindung der römischen Annalistik anzusehen sein mag,11 so deuten die Übernahme griechischer Rechtsbegriffe wie der poena (Tab. I, 14-15)12 oder der Regelungsstil der Tafeln darauf hin, dass sich die decemvires bei der Ausarbeitung ihres Entwurfs zum wesentlichen Teil an vergleichbaren Kodifikationen der griechischen Kolonien des Mutterlandes orientierten.13 Konkret kommen als Ausgangsorte Städte wie Lokron, Kroton, Tarent oder Syrakus in Betracht.14 Das ursprünglich nur aus zehn Tafeln bestehende Regelwerk wurde schließlich von den Zenturiatkomitien als Gesetz angenommen und von den zuständigen Konsuln im Jahr 450 v. Chr. zur allgemeinen Einsehbarkeit auf dem römischen Forum aufgestellt.15 Zu den zwei weiteren Tafeln des Zwölftafelgesetzes berichtet die römische Geschichtsschreibung, dass sie im Jahr 449 v. Chr. von einem ausschließlich aus Plebejern zusammengesetzten, zweiten Dezemvirat erarbeitet worden, jedoch mit einem „ungerechten“ Inhalt versehen worden seien. Dieses Dezemvirat habe unter seinem Anführer Appius Claudius schließlich eine Tyrannis angestrebt und sei infolgedessen durch eine Heeressezession der plebs gestürzt worden.16 Angesichts des gegenüber der plebs erkennbar tendenziösen Charakters dieser Berichte ist der historische Wahrheitsgehalt jener Überlieferung indes ebenfalls in Zweifel zu ziehen.17
Für den weiteren Gebrauch der XII Tafeln sollte insbesondere die mit der Aufstellung auf dem römischen Forum bewirkte Publizität wesentlich sein.18 Allein sie konnte es der plebs trotz der geringen Literalitätsrate in Rom - moderne Schätzungen gehen für das 5. Jahrhundert v. Chr. von einem Anteil Lesekundiger an der Gesamtbevölkerung von 5-10 % aus19 - ermöglichen, mittels einer zugänglichen Rechtsaufzeichnung die wahrgenommene Willkür des patrizischen Priestertums zu begrenzen. So dienten die XII Tafeln ihrer ursprünglichen Funktion nach der Lösung eines aktuellen Konflikts innerhalb der römischen Gesellschaft, stellten allerdings keinen Versuch einer erschöpfenden Kodifikation des materiellen Rechts dar.20
2. Überlieferung und Quellenlage
Die XII Tafeln sind nicht als solche bis in die heutige Zeit überliefert. Die heutige Kenntnis ihres Inhalts leitet sich somit nicht aus der direkten Kenntnis ihres Inhalts, sondern aus Zitaten sowie Übernahmen des Wortlauts der XII Tafeln in juristischen und historischen Werken aus klassischer Zeit ab.21 Wesentlich für die Bewahrung des Inhalts der XII Tafeln waren so die späteren Abschriften ihres Inhalts in klassischer und byzantinischer Zeit, mit denen sie der Nachwelt überliefert wurden.22
Diese Überlieferungsgeschichte hat indes zur Folge, dass der Inhalt der XII Tafeln heute nur fragmentarisch rekonstruiert werden kann. So sind nicht nur die Anordnung der XII Tafeln sowie die für sie maßgebenden Ordnungsprinzipien ihrer Verfasser weitgehend zweifelhaft.23 Auch ihr Wortlaut wurde in den späteren Werken von Autoren aus klassischer Zeit offenbar dem veränderten Sprachgebrauch angepasst und modifiziert.24 Der Sprachstil, Zusammenhänge mit den bekannten Rechtszuständen der archaischen Zeit und der materiellen Kultur sowie die kontinuierliche Überlieferung belegen jedoch die Authenzität der vorhandenen Überreste.25 Daher dürfen die wesentlichen Inhalte der XII Tafeln sowie ihre Entstehungsgeschichte als durch die römische Überlieferung weitgehend erschlossen gelten.
3. Inhalte der XII Tafeln
Ihrem Inhalt nach umfassen die XII Tafeln, entsprechend der im 19. Jahrhundert von Schoell für ihre inhaltliche Anordnung entworfenen Prinzipien der Rechtswissenschaft, das gesamte stadtrömische Recht im Strafrecht, Zivilrecht und Öffentlichen Recht.26 Nach gängigen Einteilungen, die freilich modernen Ordnungsprinzipen folgen und daher nicht als authentische Rekonstruktion der ursprünglichen Anordnung der Tafeln gelten dürfen,27 betrafen die ersten drei Tafeln im Wesentlichen das Zivilprozessrecht sowie das Zwangsvollstreckungsrecht. Während Tafeln IV und V einzelne Fragen des Familienrechts sowie des Erbrechts regelten, enthielten die Tafeln VI und VII sachenrechtliche Regelungen. Als Standort der sachlich noch nicht voneinander unterschiedenen straf- und deliktsrechtlichen Regelungen wird herkömmlich Tafel VIII identifiziert. Die Tafeln IX und X schließlich betrafen Regelungen des öffentlichen und des religiösen Rechts, während die zu einem späteren Zeitpunkt hinzugefügten Tafeln XI und XII ergänzende Regelungen enthielten.
Damit zeichneten die XII Tafeln mutmaßlich in der Hauptsache das bereits in der römischen Republik praktizierte Recht auf.28 Begleitet wurde diese bloße Verschriftlichung des bisherigen Rechtszustandes indes durch bewusste und wegweisende Reformen auf mehreren Gebieten; so wurde beispielsweise die mancipatio als tradierter Übereignungsakt weiter formalisiert und abgrenzbar bestimmt (Tab. VI, 1-2), im Familienrecht wurden bei der sog. manus-Ehe (Tab. VI, 5) sowie der Entlassung von Kindern aus der elterlichen Gewalt durch mehrfache Veräußerung derselben (Tab. IV, 2) nicht unerhebliche Veränderungen eingeführt.
[...]
1 „Wir lernten nämlich als Schüler die XII Tafeln auswendig, was heute nicht mehr üblich ist.“ (Übers. d. A.).
2 Darauf wird insbesondere hingewiesen bei Harris, Ancient Literacy, S. 152f.
3 S. Kap. IV.
4 Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 289f.
5 Kritisch etwa Forsythe, A Critical History of Early Rome, S. 209ff; Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 289.
6 Harries, Roman Law Codes and the Roman Legal Tradition, S. 85; Heuß, Römische Geschichte, S. 47.
7 Cornell, The Beginnings of Rome, S. 204f.; Wieacker, Rechtsaustrag und Rechtsvorstellung im archaischen Rom, S. 581-608.
8 Solidoro/Puliatti/Lovato, Diritto Privato Romano, S. 3; Heuß, Römische Geschichte, S. 47; Kunkel, Römische Rechtsgeschichte, S. 34; Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 294.
9 S. u. Kap. III.2.
10 Cornell, The Beginnings of Rome, S. 272; Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 288.
11 Forsythe, A Critical History of Early Rome, S. 209f.; Humbert, La Loi des XII Tables S. 32f.; Wieacker, Die XII Tafeln in ihrem Jahrhundert, S. 341f.
12 Zitiert wird im Folgenden stets nach der Tafelordnung bei Crawford, Roman Statutes.
13 Cornell, The Beginnings of Rome, S. 275; Liebs, Die Zwölf Tafeln im Vergleich mit griechischen und israelitischen Kodifikationen, S. 88; Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 300-304.
14 Wieacker, Die XII Tafeln in ihrem Jahrhundert, S. 352f.
15 Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 288.
16 Cornell, The Beginnings of Rome, S. 272f.; Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 288f.
17 Forsythe, A Critical History of Early Rome, S. 224.
18 Burckhardt, Elemente der Vergleichbarkeit von Gesetzgebung, S. 23f.
19 Harris, Ancient Literacy, S. 151.
20 Cornell, The Beginnings of Rome, S. 279; Heuß, Römische Geschichte, S. 47; Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 295.
21 Überblick bei Crawford, Roman Statutes, S. 558f. Humbert, La Loi des XII Tables, S. 2-8; Wieacker, Die XII Tafeln in ihrem Jahrhundert, S. 294.
22 Solidoro/Puliatti/Lovato, Diritto Privato Romano, S. 3f.
23 Cornell, The Beginnings of Rome, S. 278f.; Wieacker, Die XII Tafeln in ihrem Jahrhundert, S. 318; ders. : Römische Rechtsgeschichte, S. 290.
24 Crawford, Roman Statutes, S. 571; Kunkel, Römische Rechtsgeschichte, S. 34.
25 Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 291-295.
26 Kunkel, Römische Rechtsgeschichte, S. 35.
27 Humbert, La Loi des XII Tables, S. 20f.
28 Solidoro/Puliatti/Lovato, Diritto Privato Romano, S. 3.