Inwiefern kann die Entwicklung von Emil Sinclair im Roman „Demian“ von Hermann Hesse als Prototyp für die Theorie des Individuationsprozesses von C. G. Jung gesehen werden? Zuerst wird Jungs Theorie der Individuation näher beleuchtet werden. Hierfür ist es wichtig, einige zentrale Begriffe aus Jungs Vokabular anzusehen und einzuordnen. In einem zweiten Schritt werden diese Erkenntnisse dann auf den Text Hesses angewandt und die Zusammenhänge herausgearbeitet.
Gliederung
1. Einleitung
2. Die Theorie der Individuation nach C.G. Jung
2.1. Begriffsgrundlagen: Das „Kollektive Unbewusste“ und die „Archetypen“
2.2. Die schematische Darstellung der Individuation
3. Die Individuation bei Emil Sinclair
3.1. Demian - „Das Selbst“
3.2. Applikation des Individuationsmodells
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Mich interessieren nur die Schritte, die ich in meinem Leben tat, um zu mir selbst zu gelangen. Alle die hübschen Ruhepunkte, Glücksinseln und Paradiese, deren Zauber mir nicht unbekannt blieb, lasse ich im Glanz der Ferne liegen und begehre nicht, sie nochmals zu betreten.“1
Diese Aussage trifft der Erzähler Emil Sinclair im Roman Demian von Hermann Hesse, um dem Rezipienten zu erläutern, unter welchen Kriterien er die Szenen aus seinem bisherigen Leben, die er im Buch darstellt, ausgewählt hat: nur solche, in denen er im Nachhinein Schritte zu sich selbst sieht.
Doch, wie könnte so ein Weg aussehen? Was verbirgt sich hinter dem ominösen Ziel des „Selbst“, welches Sinclair anvisiert? Und was für eine Perspektive nimmt Sinclair ein, wenn er das Leben gewissermaßen in „produktive Schritte voran“ und dem entgegengesetzt, „laissez-faires Verharren“, unterteilt?
Für eine Beantwortung der letzteren Frage ist ein Blick auf den Autor Hermann Hesse gewinnbringend, schließlich wird Hesse oft als „stark autobiographisch orientierter Dichter“2 beschrieben. Außerdem schrieb er in einem Brief über sich selbst: „Ich bin ja nicht Hesse, sondern war Sinclair, war Klingsor, war Klein etc. und werde noch manches sein.“3 Letztere Aussage stammt aus dem Januar 1920, wurde also direkt nach der Erscheinung Demians im Jahr 1919 festgehalten und richtete sich an Hesses damaligen Psychoanalytiker, welcher ein Schüler des Schweizer Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung war. Hier kam Hesse in Kontakt mit Jungs Therapiekonzept, dem unter anderem die Theorie der Individuation zugrunde liegt, welche eben diesen schrittweisen Weg der Selbsterkenntnis beschreibt. Hesses Aussage über die Therapie: „Es geht bis aufs Blut und tut weh. Aber es fördert ...“4, sowie der Tatsache, dass er noch in zwei weiteren Lebenskrisen Hilfe bei Jung und seinem Schüler suchte, ist wohl zu entnehmen, dass er sich hier anscheinend „mit einem einleuchtenden und hilfreichen Deutungsmuster für seine psychischen Probleme konfrontiert“5 sah. So nutzte er diese auch in seiner Kunst als „Raster zum Entwurf fiktionaler Handlungselemente und literarischer Figuren.“6 Hesse selbst bestätigte die Betonung des Individuationsprozesses in Demian, sodass es sinnvoll erscheint, auf Basis dieser Theorie Sinclairs Schritte zu sich selbst zu betrachten.
Um zu beantworten, inwiefern der Roman hier als prototypisch zu bezeichnen ist, soll im Folgenden zuerst Jungs Theorie der Individuation näher beleuchtet werden. Hierfür ist es wichtig, einige zentrale Begriffe aus Jungs Vokabular anzusehen und einzuordnen. In einem zweiten Schritt werden diese Erkenntnisse dann auf den Text Hesses angewandt und die Zusammenhänge herausgearbeitet.
2. Die Theorie der Individuation nach C. G. Jung
In seinem Buch „Psychologische Typen“ beschreibt Jung den Begriff der Individuation als „ein Differenzierungsprozess, der die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit zum Ziele hat“7 und gibt als Synonymden Begriff der Selbstverwirklichung an.In der Darstellung dieses Prozesses greift er dabei aufdie ebenfalls durch ihn geprägten Begriffe des kollektiven Unbewussten und der Archetypen zurück, welche als Grundlage zu umreißen sind.
2.1. Begriffsgrundlagen: Das „Kollektive Unbewusste“ und die „Archetypen“
Neben dem persönlichen Unbewussten, also „Inhalten [...], die zu einer Zeit bewusst waren, aus dem Bewusstsein jedoch entschwunden sind, indem sie entweder vergessen oder verdrängt wurden“8 postuliert Jung die Existenz eines kollektiven Unbewussten. Da dessen Inhalte eben nicht individuell erworben wurden, werden sie, Jung zufolge, erblich weitergegeben. Er stellt die These auf, dass das kollektive Unbewusste „aus präexistenten Formen, [sogenannten] Archetypen“9 besteht, die er auch als Urbilder der Seele oder Elementargedanken umschreibt. Solche symbolische Archetypen können zum Beispiel über Träume, Ängste, aber auch krankhafte Wahnvorstellungen, wie bei Psychosen, zu Tage treten. Als Archetypen können unter anderem die Große Mutter, der Alte Weise, das typisch Männliche (Animus) oder Weibliche (Anima), sowie das generisch Böse (der Schatten) und vieles mehr genannt werden. Vorstellungen eben, die überkulturell eine Bedeutung tragen und sich dementsprechend flächendeckend in Kultur, Religion und Mythen wiederfinden. Das Potential aus der Bewusstwerdung dieser Inhalte der menschlichen Psyche sieht Jung darin, dass sie „Inhalten des Bewusstseins festumrissene Form verleihen“10 können. In dieser Wirkung spielen die eben aufgeführten Archetypen auch in seiner Theorie der Individuation eine zentrale Rolle und markieren im Schema gewissermaßen das Voranschreiten von einer Stufe auf die nächste, hin zur Selbsterkenntnis.
2.2. Die schematische Darstellung der Individuation
Die Individuation im Sinne der Entwicklung eines Individuums ist natürlich ein Prozess, der von der Geburt bis zum Tod verläuft. Konkreter befasst sich Jung aber mit dem Zeitfenster der menschlichen Bewusstseinsentwicklung, welches mit dem erkennen des sogenannten „Schatten“ beginnt. Lebt ein Individuum in einer Gesellschaft, sprich unter kulturellen Normen und Werten, so entsteht stets eine Spannung zwischen Individualität und Sozietät. Um dieser Spannung genüge zu tragen, entwickelt jeder Mensch in seiner ersten Lebenshälfte eine Art „Gesicht“ oder dynamischer „Maske“, als Persona bezeichnet, die den Kompromiss zwischen Ich- und Umweltidealen abbildet. Zwar beinhaltet diese auch Individualität, bietet dem Menschen also eine Leinwand um seine Einzigartigkeit auszuleben, doch ebenso viele Forderungen der Individualität können aufgrund der Anpassung an die Umwelt auch nicht ausgelebt werden, sie sind gewissermaßen „nicht gesellschaftsfähig“ und werden deswegen vernachlässigt. Der Pool dieser vernachlässigten, nach Ausdruck verlangenden Triebe, wird von Jung als Schatten bezeichnet, was der gesellschaftlichen Bewertung dieser Inhalte als böse oder schlecht Ausdruck verleiht. Zu Beginn zeigt sich dieses Böse als Projektion im Umfeld des Individuums, wird es dort erkannt und als Schatten identifiziert ist bildlich gesprochen der Startschuss für die Individuation gefallen. Dieser Prozess wird von Jung in etwa in der zweiten Lebenshälfte verortet.
Auf das Bewusstwerden des Schattens im Außen folgt dem Individuationsmodell zu Folge die Assimilation dieses Archetypus. Das Individuum wird sich seiner eigenen „Schattenanteile“ bewusst und schafft es, diese zu akzeptieren und anzunehmen. Jung beschreibt im Zusammenhang mit diesem Schritt das Risiko der Schatteninflation, hierunter versteht er den Moment, in dem das Individuum den Schatten nicht nur als einen von seinen vielen Anteilen erkennt sondern dahingehend „ausufert“, dass es sich vollständig mit ihm identifiziert, also zur Aussage kommt „Ich bin das Böse“.
Ist dieses Risiko umgangen oder die Episode inflationärer Identifikation mit dem Schatten beendet, so hat das modellhafte Individuum seine helle und dunkele Seite gleichwertig in seine Psyche integriert. Nun erfolgt, je nach Geschlecht, die Projektion der typischen Seelenanteile des komplementären Geschlechts und daraufhin auch das Erkennen dieser Anteile im Individuum selbst. Die weiblich konnotierten Eigenschaften fasst Jung als Anima. Hierunter versteht er zum Beispiel Emotionen, Ahnungen, Sensibilität, Sinn für die Natur und das Irrationale und vor allem die Beziehung zum Unbewussten. Der Animus Jungs hingegen umfasst Rationalität, Mut, Initiative, Objektivität und geistige Klarheit. Während einer erfolgreichen Selbstverwirklichung auf dieser Ebene der Individuation schafft es der Mann, sich der unbewusst weiblichen Züge in seiner Psyche bewusst zu werden und diese zu bejahen. Was für ihn die Auseinandersetzung mit der Anima darstellt, bedeutet für eine weibliche Person die Assimilation des Animus, sprich ihrer männlichen Anteile. Die „Zurücknahme der „Animus“- bzw. „Anima“- Projektion stellt also einen weiteren wichtigen Schritt des I[ndivituationsp]rozesses dar“11.
Die Auseinandersetzung mit Animus und Anima mündet nach Jungs Modell in der Erkenntnis des Urmännlichen, als Archetyp des Alten Weisen bezeichnet, und des Urweiblichen, der Großen Mutter. Ersterer ist als geistbetonter Logos zu beschreiben, demgegenüber der erdhafte Eros steht. Nach der Bewusstwerdung dieser in Projektion, können sie prototypisch auch in die Psyche des Individuums integriert werden und führen so zur Verwirklichung dessen. Dieses völlige Gleichgewicht zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein markiert somit den Zielpunkt der Individuation: Die Erkenntnis des „Selbst“
[...]
1 Hermann Hesse: Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1974, S. 49, im Folgenden zitiert unter D, alle Seitenangaben im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
2 Günter Baumann: Hermann Hesses Demian im Lichte der Psychologie C.G. Jungs, unter: http://www.gss.ucsb.edu/projects/hesse/papers/baumann-demian2.pdf [13.03.2021], S. 1.
3 Brief Hesses an Dr. Josef Bernhard Lang vom 26. Januar 1920, zit. Nach: Hermann Hesse: „Die dunkle und wilde Seite der Seele“. Briefwechsel mit seinem Psychoanalytiker Joseph Bernhard Lang 1916-1944, Hg. Von Thomas Feitknecht, Frankfurt (Suhrkamp) 2006, S.159.
4 Günter Baumann: „Es geht bis aufs Blut und tut weh. Aber es fördert ...". Hermann Hesse und die Psychologie C. G. Jungs, unter: http://hesse.projects.gss.ucsb.edu/papers/baumann3.pdf [13.03.2021]
5 Baumann: Hermann Hesses Demian, S. 2.
6 Baumann: Hermann Hesses Demian, S. 3.
7 Jung, Carl G.: Psychologische Typen. Zitiert nach: Tewes Wischmann: Der Individuationsprozess in der
analytischen Psychologie C.G. Jungs - eine Einführung, unter: http://www.dr-wischmann.privat.t- online.de/jung.pdf [13.03.2021], S. 7.
8 Carl G. Jung: Archetypen. Urbilder und Wirkkräfte des Kollektiven Unbewussten. Ostfildern 2020, S. 5569.
9 Jung: Archetypen, S. 56.
10 Jung: Archetypen, S. 56.
11 Wischmann: Der Individuationsprozess, S. 15.