Diese Arbeit befasst sich mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten in der Schule und richtet dabei zusätzlich den Fokus auf die Sekundarstufe I. Für Schüler dieser Klassenstufen ist ein Schulabschluss trotz vorhandener Schwierigkeiten wesentlich für den weiteren Bildungsweg und stellt aus diesem Grund ein signifikantes Ziel der Fördermaßnahmen in der Sekundarstufe I dar. Zuerst wird ein allgemeiner Überblick in Bezug auf Lernschwierigkeiten in den Bereichen Lesen und Rechtschreiben gegeben. Anschließend werden die Ursachen und Symptome von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten näher betrachtet. Der letzte Teil der Arbeit befasst sich mit der der Diagnostik sowie den Präventions- und Fördermöglichkeiten bei Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten.
Viele Schüler in Deutschland haben Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben und das trotz eines hoch entwickelten Schulsystems. Da die Kompetenzen Lesen und Schreiben Auswirkungen auf nahezu alle anderen Schulfächer haben, wirken sich Lese- und/oder Rechtschreib-Schwierigkeiten sehr gravierend auf das Leistungsverhalten der Schüler aus. Am Ende ihrer Schulzeit verfügen sie oftmals über mangelhafte Lese- und Schreibkompetenzen und ihre beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten sind dadurch sehr eingeschränkt. Der Heilpädagoge Paul Moor plädiert an Erzieher und Lehrer, zuerst ein Verstehen der Kinder, die sich in problematischen Lern- und Lebenssituationen befinden, anzustreben und erst im Anschluss sie zu erziehen und zu fördern. Nicht die Leistungsvermittlung und -überprüfung soll im Vordergrund stehen, sondern das Kind mit seiner Persönlichkeit.
Bei Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten bzw. Legasthenie handelt es sich um einen sehr umfangreichen Themenbereich, der einer intensiven Auseinandersetzung bedarf. Es gibt weder den Legastheniker noch die eine richtige Definition, die eine diagnostische Vorgehensweise oder die allein wirksame therapeutische Fördermaßnahme. Eine Lehrkraft wird in dreifacher Form mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten konfrontiert, zum einen sind es die Schüler, zum zweiten deren Eltern und zum dritten die unterschiedlichen Gutachten, die zur Diagnostik führten. Für Familien stellen Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten eine große Herausforderung dar und führen oft psychischen Belastungen.
Inhalt
1. Einleitung
2. Lernen und Lernschwierigkeiten
2.1 Definition Lernen
2.2 Definition Lernschwierigkeiten
2.3 Definition Lese-/Rechtschreib-Schwierigkeiten und Lese-Rechtschreib-Schwäche versus Lese-/ Rechtschreib-Störungen
2.4 Definition Legasthenie und Lese-Rechtschreib-Störung
2.5 Diskrepanzdefinition
3. Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten
3.1 Historischer Rückblick
3.2 Ursachen
3.2.1 Biologische Faktoren
3.2.1.1 Genetische Faktoren
3.2.1.2 Neuropsychologische Faktoren
3.2.2 Wahrnehmungsstörungen
3.2.3 Soziokulturelle Faktoren
3.2.4 Pädagogisch-psychologische Faktoren
4. Symptome
4.1 Symptome beim Lesen
4.2 Symptome beim Schreiben
4.3 Symptomatik bei Kindern und Jugendlichen
5. Diagnostik
5.1 Diagnose im Lesen
5.2 Diagnose im Rechtschreiben
6. Präventionen und Fördermöglichkeiten
6.1 Förderung von Leseschwierigkeiten
6.2 Förderung von Rechtschreibschwierigkeiten
6.3 Förderung in der Schule
6.3.1 Unterstützung und Hilfe für LRS-Schüler
6.4 Förderung in der Sekundarstufe
6.5 Rechtliche Aspekte
7. Fazit
8. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Viele Schüler in Deutschland haben Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben und das trotz eines hoch entwickelten Schulsystems. Da die Kompetenzen Lesen und Schreiben Auswirkungen auf nahezu alle anderen Schulfächer haben, wirken sich Lese- und/oder Rechtschreib-Schwierigkeiten sehr gravierend auf das Leistungsverhalten der Schüler aus. Am Ende ihrer Schulzeit verfügen sie oftmals über mangelhafte Lese- und Schreibkompetenzen und ihre beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten sind dadurch sehr eingeschränkt. Der Heilpädogoge Paul Moor plädiert an Erzieher und Lehrer, zuerst ein Verstehen der Kinder, die sich in problematischen Lern- und Lebenssituationen befinden, anzustreben und erst im Anschluss sie zu erziehen und zu fördern (vgl. Breitenbach & Wieland, 2010, S.11). Nicht die Leistungsvermittlung und -überprüfung soll im Vordergrund stehen, sondern das Kind mit seiner Persönlichkeit (vgl. Mann, 2001, S. 17).
Bei Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten bzw. Legasthenie handelt es sich um einen sehr umfangreichen Themenbereich, der einer intensiven Auseinandersetzung bedarf. Es gibt weder den Legastheniker noch die eine richtige Definition, die eine diagnostische Vorgehensweise oder die allein wirksame therapeutische Fördermaßnahme. Eine Lehrkraft wird in dreifacher Form mit Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten konfrontiert, zum einen sind es die Schüler, zum zweiten deren Eltern und zum dritten die unterschiedlichen Gutachten, die zur Diagnostik führten. Für Familien stellen Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten eine große Herausforderung dar und führen oft psychischen Belastungen.
Diese Arbeit befasst sich mit Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten in der Schule und richtet dabei zusätzlich den Fokus auf die Sekundarstufe I. Für Schüler dieser Klassenstufen ist ein Schulabschluss trotz vorhandener Schwierigkeiten wesentlich für den weiteren Bildungsweg und stellt aus diesem Grund ein signifikantes Ziel der Fördermaßnahmen in der Sekundarstufe I dar. Zuerst wird ein allgemeiner Überblick in Bezug auf Lernschwierigkeiten in den Bereichen Lesen und Rechtschreiben gegeben. Anschließend werden die Ursachen und Symptome von Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten näher betrachtet. Der letzte Teil der Arbeit befasst sich mit der der Diagnostik sowie den Präventions- und Fördermöglichkeiten bei Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwende ich in dieser Arbeit ausschließlich die männliche Form, es können dabei sowohl männliche als auch weibliche Personen gemeint sein. Für Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten verwende ich die Abkürzung LRS.
2. Lernen und Lernschwierigkeiten
Aufgrund der vielen Publikationen sind sehr viele Bezeichnungen und Begriffe entstanden, die Günther als „Dilemma der Begriffe“ (Günther 2007, S.64) bezeichnet und Klipcera und Gasteiger-Klipcera sprechen sogar von einem „babylonischen Sprachengewirr“ (Klipcera & Gasteiger-Klipcera, 2007, S.186). Neben Legasthenie werden synonym Begriffe wie Lese-Rechtschreib-Störung, Lese-Rechtschreib-Schwäche und Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten verwendet (vgl. Rattay, 2015, S.6).
2.1 Definition Lernen
Lernen ist das Aneignen von Wissen und bestimmten Fähigkeiten zum eigenen, selbständigen Gebrauch. Lernen hat immer das Ziel, den Erkenntnishorizont zu erweitern und die Befähigung des Individuums zu verstärken, um in verschiedenen Situationen korrekt handeln zu können. Der Mensch lernt durch Vorbilder, visuelle Aufzeichnungen und mündliche Tradierung. Bestimmte Verhaltensweisen und lebensnotwendige Angewohnheiten sind im Kindesalter instinktiv gegeben (vgl. Definition Lernen, 2021).
2.2 Definition Lernschwierigkeiten
Zielinski definiert Lernschwierigkeiten als eine nicht tolerierbare Abweichung nach unten oder Erreichen der Mindeststandards verbunden mit beeinträchtigenden Belastungen (vgl. Zielinski, 1995). Für Lernschwierigkeiten gibt es unzählige, uneinheitlich verwendete Bezeichnungen wie Lernstörung, Leistungsstörung, Schulversagen, Lernbeeinträchtigung, Leistungsbeeinträchtigung, Lernbehinderung, Lernschwäche etc. (vgl. Institut für Psychologie, 2013). Im Lexikon der Psychologie von Dorsch werden Lernschwierigkeiten als allgemeine Ursache für erschwerte oder verhinderte Zielerreichung beim Lernen bezeichnet. Die Bezeichnung Lernschwierigkeiten besitzt ebenso wie Lernstörung oder Lernbehinderung kein eindeutiges Definitionskriterium oder einheitliches Störungsbild (vgl. Dorsch, 2020).
2.3 Definition Lese-/Rechtschreib-Schwierigkeiten und Lese-Rechtschreib-Schwäche versus Lese-/ Rechtschreib-Störungen
Im pädagogischen Bereich und in der Deutschdidaktik wird von Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS) gesprochen und nicht von Lese- und Rechtschreib-Störungen. Damit soll eine Diskriminierung der betroffenen Schüler vermieden und die Verantwortung für einen individualisierten und differenzierten Unterricht in den Verantwortungsbereich der Lehrkräfte gelegt werden (vgl. Klipcera et al., 2020, S. 14-16). Zuweilen wird auch der Begriff Lese- und Rechtschreib-Schwäche im pädagogischen Bereich synonym verwendet (vgl. Rattay, 2015, S.6).
2.4 Definition Legasthenie und Lese-Rechtschreib-Störung
Die Bezeichnungen Legasthenie und Lese-Rechtschreib-Störung werden vor allem in der Forschung und im medizinischen Bereich verwendet (vgl. Rattay, 2015, S.5). Der Begriff Legasthenie kommt aus dem Lateinischen und Altgriechischen und bedeutet „lesen“ und „Schwäche“ (vgl. Cakl-Schierl, 2014, S. 8-9). Synonym hierzu stehen die Begriffe „Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten“ und „Lese-Rechtschreib-Störung“ und der international verwendete Begriff „Dyslexie“ (vgl. Breitenbach & Weiland, 2010, S. 25-26).
Der Ausdruck „Legasthenie“ ist in Deutschland negativ belegt, da Legasthenie lange Zeit als Krankheit galt. Betroffene wurden ausgegrenzt, Kinder und Jugendliche in Förderschulen verwiesen, obwohl ihre sonstigen intellektuellen Fähigkeiten nicht eingeschränkt waren. Klipcera et. al verwenden in ihrem Buch „Legasthenie – LRS“ bewusst den Terminus „Legasthenie“, um zu einer Neubesetzung dieses Begriffes beizutragen und ihn als allgemeine Bezeichnung für Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb zu verwenden (vgl. Klipcera et. al, 2020, S. 17-19 & Schipperges, 2015, S. 8-10).
2.5 Diskrepanzdefinition
Bei der Diskrepanzdefiniton (intelligenzbezogene Definition) werden bei der Diagnose die Lese- und Rechtschreibleistungen in Bezug zu den Leistungen in einem Intelligenztest gesetzt (vgl. Herné & Löffler, 2017, S. 68). LRS wird dann diagnostiziert, wenn bei Kindern eine Diskrepanz zwischen ihren Lese- und/oder Rechtschreibleistungen und ihrer Intelligenz vorliegt. Die Diskrepanz wird sehr divergent operationalisiert (vgl. Scheerer-Neumann, 2018, 24-26 & Rattay, 2015, S. 7). Da keine einheitliche Operationalisierung vorliegt, werden sehr unterschiedliche Werte und Verfahren bei der Diagnostik verwendet. Diese Variabilität ist für Forschung und Praxis sehr unbefriedigend (vgl. Scheerer-Neumann, 2018, S. 24-28).
Auch die Testverfahren der Diskrepanzdefinition sind äußerst umstritten. Sie orientieren sich nicht an den Lehrplänen der Bundesländer und die Normierung ist bei vielen schon über 10 Jahre alt (vgl. Schipperges, 2015, S. 9-11,33). Auch Scheerer-Neumann und Breitenbach & Wieland verweisen auf Kritik bei der Diskrepanzdefinition, da sie viele Betroffene aufgrund ihrer willkürlich festgelegten Diskrepanz von einer Förderung ausschließt.
Sie fordern wissenschaftlich geeignete Interventionsverfahren, die allen Betroffenen spezifische Fördermaßnahmen gewähren (vgl. Scheerer-Neumann, 2018, S.27-28 & Breitenbach & Wieland, 2010, S. 28-29). Rattay stellt die Frage nach der Sinnigkeit, nur bei Kindern mit durchschnittlicher oder sogar überdurchschnittlicher Intelligenz eine LRS zu klassifizieren und andere aufgrund ihrer geringeren Intelligenz auszuschließen, obwohl die biologisch-medizinische Forschung LRS als eine vererbbare Störung ansieht (vgl. Rattay, 2015, S. 8-10). Eine Untersuchung von Weber ergab, dass sowohl Kinder, bei denen LRS nach ICD-10 diagnostiziert wurde als auch unterdurchschnittlich intelligente Kinder mit Lese- Rechtschreib-Schwierigkeiten gleichermaßen von einer Lese- und Rechtschreibförderung profitieren, was wiederum die Willkürlichkeit einer ICD-10 Klassifikation beweist (vgl. Breitenbach, 2010, S. 28-29). ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ist ein medizinisches Diagnoseklassifikationssystem und wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben. Momentan ist die zehnte Version von 2019 gültig (vgl. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation, 2021).
Herné und Löffler zeigen anhand zweier Schreibbeispiele eines überdurchschnittlich begabten Kindes und eines geistig behinderten Kindes auf, dass die intellektuelle Allgemeinbegabung kaum eine Rolle bei LRS spielt und die Diskrepanzdefinition deshalb wissenschaftlich nicht länger legitimiert ist. Das geistig behinderte Kind mit einem IQ von 54 schreibt nahezu fehlerlos, während das überdurchschnittlich begabte Kind sehr viele Fehler machte (vgl. Herné & Löffler, 2017, S. 68-70)
3. Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten
3.1 Historischer Rückblick
Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten sind durch eine sehr wechselhafte Geschichte gekennzeichnet. Bereits im 19. Jahrhundert wurde dieses Phänomen entdeckt und als „Wortblindheit“ bezeichnet. Der Neurologe Paul Ranschburg prägte als erster den Begriff Legasthenie und bezeichnete „die Leseschwäche als nachhaltige Rückständigkeit höheren Grades in der geistigen Entwicklung des Kindes“ (Ranschburg, 1916). Eine frühe Vertreterin der Diskrepanzdefiniton war die Schweizer Psychologin Maria Linder, die Legasthenie als „eine spezielle und aus dem Rahmen der übrigen Leistungen fallende Schwäche im Erlernen des Lesens (und indirekt auch des selbständigen orthographischen Schreibens) bei sonst intakter oder (im Verhältnis zur Lesefähigkeit) relativ guter Intelligenz“ (Linder, 1951, S. 100) definierte (vgl. Scheerer-Neumann, 2018, S. 24-25).
1978 reagierte die Kultusministerkonferenz auf Kritik in Bezug auf die Ungleichbehandlung von Legasthenikern nach ICD-10 und anderen lese- und rechtschreibschwachen Schüler mit der Empfehlung, allen Kindern mit Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten Fördermaßnahmen zukommen zu lassen (vgl. Scheerer-Neumann, 2018, S.24-25). Erst ab 1990 wurde die Forschung wieder intensiviert und bis heute finden aktive Forschungs-arbeiten statt (vgl. Klipcera et al., 2020, S. 17).
3.2 Ursachen
Schon in den Grundhaltungen der verschiedenen Definitionen spiegelt sich die Kontroverse der Frage wieder „Wer ist für das Problem verantwortlich?“ Sind es die Gene, die Anlagen, die familiären Vorbelastungen oder ist es doch die Umwelt, die soziokulturellen Einflüsse oder die fehlenden pädagogischen Interventionen? Ist LRS die Krankheit, wie sie von der biologisch-medizinischen Forschung beschrieben wird oder ist sie doch eher ein pädagogisches Problem analog der Ansicht der pädagogisch-psychologischen Forschung?
Letztendlich ist zu erkennen, es gibt nicht die eine Ursache für LRS, sondern sowohl Anlage als auch Umwelt stellen beide bedeutende Einflussfaktoren dar (vgl. Rattay, 2015, S. 14-15). Die genetische Disposition konnte in Studien nachgewiesen werden, Kinder aus familiär belasteten LRS-Familien zeigen Defizite in der expressiven und rezeptiven Sprache, der Morphologie und im phonologischen Bewusstsein. Auch über die sogenannten Zwillingsstudien ließen sich genetische Einflüsse belegen (vgl. Mayer, 2016, S. 54 & Scheerer-Neumann, 2018, S. 35-40). Ein wissenschaftlicher Beweis hierfür gelang nach Schipperges bisher dennoch nicht. Die bisherigen Untersuchungsergebnisse lassen erkennen, dass genetische Dispositionen nicht determinierend für eine LRS sind, sondern soziokulturelle Faktoren wie soziale Herkunft und Bildungsbiografie der Eltern weitere Einflussgrößen darstellen (vgl. Schipperges, 2015, S. 12-13 & Naegele & Valtin, 2001, S.18). Cakl-Schierl verweist auf die immer größer werdende Zahl von Schülern mit Migrationshintergrund, bei ihnen besteht aufgrund fehlendem Sprachverstehen ein Risiko für LRS (Cakl-Schierl, 2014, S. 33-34). Mayer führt bezüglich den neurobiologischen Ursachen einer LRS die große Multidimensionalität an und erklärt, es sei bisher keiner Hypothese gelungen, alle Phänomene einer LRS zufriedenstellend zu erklären (vgl. Mayer, 2016, S. 58-66). Auch für Klipcera et al. kohärieren mehrere Faktoren wie individuelle Lernvoraussetzungen, familiäre Interaktion und Unterricht. Diese Faktoren befinden sich in ständigen dynamischen Wechselbeziehungen und verursachen eine Verzögerung in der Lese- und Rechtschreibentwicklung, wie auf dem nachfolgenden interaktiven Modell von Klipcera et al. sehr anschaulich dargestellt wird (vgl. Klipcera et al., 2020, S. 178-179).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Interaktives Modell der Entwicklung von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten
Quelle: Klipcera et al., 2020, S. 179
Bei einer LRS ist folglich immer von einem multifaktoriellen Geschehen auszugehen, was die Diagnosestellung und gezielte Behandlung sehr erschwert. Organische oder neurologische Ursachen sowie andere Entwicklungsstörungen wie zum Beispiel das Asperger Syndrom sind ein Ausschlusskriterium für die Diagnose einer LRS. Die Ursachen für eine LRS, die auch noch in der Sekundarstufe I besteht, sind im frühen Kindesalter zu suchen und oft deshalb noch vorhanden, weil sie nicht frühzeitig diagnostiziert und folglich auch nicht durch Fördermaßnahmen interveniert wurden (vgl. Schipperges, 2015, S. 13-14). Im Folgenden werden einige Faktoren näher betrachtet.
3.2.1 Biologische Faktoren
Forschungsarbeiten zeigen genetische, neurobiologische und neuropsychologische Ursachen für Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten auf. Rattay führt an, dass Legasthenie als vererbbare Störung in allen Gesellschaftsschichten auftritt und oftmals einen chronischen Verlauf nehmen kann. Biologisch Betroffenen gelingt es bei guter Förderung und emotionaler Unterstützung das Lesen und Schreiben zu lernen. Das stellt für sie jedoch lebenslang eine Herausforderung dar, denn sie sind nicht in der Lage, ihre Schwierigkeiten vollständig zu überwinden (vgl. Rattay, 2015, S.9-11).
3.2.1.1 Genetische Faktoren
Beeinträchtigungen im Lern- bzw. Informationsverarbeitungsprozess führen zu Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten und basieren auf genetischen Einflüssen, die Auswirkungen auf die Entwicklung des Nervensystems haben. Bisher konnten dadurch 17 Kandidatenregionen identifiziert werden, fünf davon wurden bisher mehrfach bestätigt (vgl. Grimm, 2011, S. 6-9). Schipperges merkt an, dass das Gen DCDC2 insbesondere bei schweren Fällen von LRS eine Rolle spielt und Probleme in der Informationsverarbeitung zwischen akustischen und visuellen Reizen vorliegen (vgl. Schipperges, 2015, S. 12-13). Mayer sieht einen starken Einfluss der Genetik auf den Abruf phonologischer Repräsentationen aus dem Langzeitgedächtnis sowie auf das phonologische Arbeitsgedächtnis und auf die Rechtschreibung (vgl. Mayer, 2016, S. 53-54).
3.2.1.2 Neuropsychologische Faktoren
Psychische Funktionen sind erforderlich, um komplexe Funktionen wie zum Beispiel Sprache oder Sozialverhalten aufzubauen. Sind diese elementaren Funktionen in ihren Leistungen gemindert, so handelt es sich um Teilleistungsstörungen, die nach kognitiven (Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, Dyskalkulie, Aufmerksamkeitsstörungen), motorischen (Dysgraphie, Hyperaktivität), vegetativen (psychovegetative Labilität) und emotionalen (Impulsivität, Reizbarkeit) unterschieden werden.
Die moderne Forschung ist zunehmend in der Lage, die biologischen Verankerungen von Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten aufzuzeigen. Dadurch können Risiken frühzeitig erkannt und präventive Fördermaßnahmen eingesetzt werden. Auch in der Neurophysiologie lassen sich große Fortschritte erkennen. Über bildgebende Verfahren, die neurophysiologische Aktivitäten darstellen, ist es möglich, die unterschiedlichen Verarbeitungsprozesse beim Lesen und Schreiben aufzuzeigen. Eine Veränderung dieser Prozesse könnte zukünftig durch entsprechende therapeutische Maßnahmen angestrebt werden (vgl. Klipcera et al., 2020, S. 183-188).
3.2.2 Wahrnehmungsstörungen
Zu den stärksten Prädikatoren für Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten in der vorschulischen Sprachentwicklung gehören ein geringer Wortschatz und mangelnde grammatische Strukturen. Leseerfahrungen stehen in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des Wortschatzes, normal lesende Kinder erweitern ihren Wortschatz um ca. 2000 neue Wörter im Jahr. Ein weiterer Prädikator für LRS ist die Fähigkeit zur Lautdiskrimination. Einige Kinder mit LRS haben Schwierigkeiten in der Unterscheidung von Verschlusslauten wie b, d, g und p. Ebenso wichtig als Indikator zeigt sich die Benennungsgeschwindigkeit, bereits im Vorschulalter können hierüber künftige Leseschwierigkeiten prognostiziert werden.
Auch akustische Wahrnehmungsschwierigkeiten und basale auditive Informationsverarbeitung lassen auf Korrelationen zu Lesen und Rechtschreiben schließen (vgl. Klipcera et al., 2020, S. 189-197).
3.2.3 Soziokulturelle Faktoren
Der soziale Hintergrund von Familien kann sich auf die Lese- und Schreibentwicklung sowie die kognitive Entwicklung der Kinder in verschiedenster Weise auswirken. Über Längsschnittstudien konnte im sozioökonomischen Bereich ein klarer Zusammenhang zwischen geringem Familieneinkommen und den kognitiven Fähigkeiten der Kinder festgestellt werden. Das Ausmaß der Armut sowie die Länge spielen dabei eine große Rolle.
Die Lebensbedingungen und Interaktionen zwischen Eltern und Kind sind ebenso sehr entscheidend auf das spätere Lese- und Schreibverhalten. Fortschritte im Lesen und Schreiben hängen zu einem großen Teil vom außerschulischen Lesen ab, wie eine umfangreiche Untersuchung mit Schülern der Klasse 5 zeigen konnte. Je mehr Zeit pro Tag die Kinder mit Lesen verbrachten, desto größer war die Verbesserung der Lesezeit und des Leseverständnisses. Auch der Fernsehkonsum spielt bei Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten eine Rolle, da Kinder mit hohem Fernsehkonsum weniger Zeit für das Lesen aufwenden (vgl. Klipcera et al., 2020, S. 132, S. 197-203).
3.2.4 Pädagogisch-psychologische Faktoren
Vertreter der pädagogisch-psychologischen Forschung sehen LRS nicht als Krankheit und halten die Diskrepanzfeststellung als Diagnosemethode für eine LRS als sehr ungeeignet. Sie sind der Meinung, LRS stellt ein pädagogisches Problem dar, dessen Ursache nicht primär in der Beeinträchtigung der Lernfähigkeit, sondern vielmehr in den fehlenden Passungen zwischen Lernvoraussetzungen und Lernangeboten zu suchen ist. Daraus ist der pädagogische Grundsatz ‚Allen Schülern mit Schwierigkeiten kann und muss geholfen werden‘ entstanden. Wie die Praxis zeigt, muss jedoch zwischen Schülern unterschieden werden, die nur geringe Unterstützung benötigen und solchen, die unter massiven Schwierigkeiten leiden und deshalb individuell angepasste Lernangebote benötigen (vgl. Rattay, 2015 S. 12-13)
4. Symptome
Nach Schipperges ist die sprachliche Entwicklung eines Kindes eng mit der sozialen Entwicklung verbunden und liefert die Voraussetzung für einen korrekten Schriftsprach-erwerb. Ein Kind benötigt eine altersgerechte Entwicklung in den folgenden vier Teilleistungsbereichen: phonetisch-phonologischer, semantisch-lexikalischer, grammatikalischer und pragmatischer Bereich. Probleme im phonetisch-phonologischen Umfeld sind bereits im Kindergarten als Aussprachemängel diagnostizierbar. Können Kinder Laute nicht richtig wahrnehmen, gelingt es ihnen auch nicht, Wörter korrekt wiederzugeben.
[...]