In der Hausarbeit soll der Begriff der Selbstreflexion hinsichtlich der Doppelverwendung in Erkenntnis und Interesse untersucht werden, um die Diskrepanz zwischen Nachkonstruktionen und Kritik als theoriegeschichtlichen Konflikts in Habermas Werk zwischen Ideologiekritik einerseits und Kommunikationstheorie andererseits zu deuten.
Hierfür werde ich zunächst auf die von Iser und Strecker vorgeschlagene Einteilung der Habermaschen Theorieentwicklung tiefer eingehen. Diese Einteilung liefert die Vorarbeit, um daran anschließend den Begriff der Selbstreflexion zu untersuchen. Neben einer Positionsbestimmung des Begriffs in Erkenntnis und Interesse versuche ich sowohl seine kritische Wendung als auch seine spätere Funktion als Nachkonstruktion in ein Verhältnis zu setzen.
Im Ergebnis möchte ich zeigen, dass, obwohl die kritische Selbstreflexion in Erkenntnis und Interesse die primäre Rolle beansprucht, der Kritikbegriff gegenüber ‚orthodoxer‘ Ideologiekritik bereits so modifiziert wird, dass die wesentlichen Weichen für eine Verschiebung in Richtung Kommunikationstheorie und einer damit einhergehenden Priorisierung der rationalen Nachkonstruktion gestellt werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Erkenntnis und Interesse als theoriegeschichtliche Bruchstelle
2. Drei Modelle zum Verständnis von Habermas‘ Werk
2.1 Ideologiekritik
2.2 Erkenntnisanthropologie
2.3 Kommunikationstheorie
3. Selbstreflexion: Zwischen Kritik und rationaler Nachkonstruktion in Erkenntnis und Interesse
3.1 Die Position der Selbstreflexion
3.2 Selbstreflexion als Kritik
3.3 Selbstreflexion als rationale Nachkonstruktion
4. Schluss
Bibliographie
1. Einleitung: Erkenntnis und Interesse als theoriegeschichtliche Bruchstelle
Diese Arbeit unternimmt den Versuch, den in Erkenntnis und Interesse verwendeten Begriff der Selbstreflexion als Epizentrum eines im Buch angelegten Widerstreits in Habermas‘ Werk aus ideologiekritischen Motiven einerseits und kommunikationstheoretischen Erklärungsmustern andererseits zu deuten. In ihrer Einführung in Habermas‘ Denken unterscheiden Mattias Iser und David Strecker zwischen drei aufeinanderfolgenden Modellen in Habermas‘ Theoriebildung: Dem ideologiekritischen, dem erkenntnisanthropologischen sowie dem kommunikationstheoretischen.1 Innerhalb dieser Dreiteilung erscheint das erkenntnisanthropologische Modell als Zwischenschritt. Das Werk Erkenntnis und Interesse befindet sich demnach an einer theoriegeschichtlichen Schnittstelle. Mehrfach hat Habermas weite Teile des 1968 publizierten Werks später revidiert. Ein zentraler Aspekt der Revisionen betrifft den Begriff der Selbstreflexion. Diesen verwendet er in Erkenntnis und Interesse zweifach und ohne klare Unterscheidung: Einmal im Sinne einer ideologiekritischen Funktion, ein anderes Mal im Sinne einer rationalen Nachkonstruktion.2 Die spätere Ausdifferenzierung des Begriffs im Nachwort von 1973 verfolgt nach Iser und Strecker die Absicht, die ideologiekritische Variante in den Hintergrund zu stellen und stattdessen die rekonstruierende Funktion in den Vordergrund zu rücken.3 Wenn dem so ist, dann verläuft der radikalere Gegensatz in Habermas ‘ Theorieentwicklung - nämlich zwischen dem ideologiekritischen und dem kommunikationstheoretischen Modell - inmitten der Erkenntnisanthropologie und dürfte im Begriff der Selbstreflexion pointiert zutage treten.
Die Selbstreflexion beschreibt Habermas als Methode und inneren Antrieb des emanzipatorischen Erkenntnisinteresses. In ihrer kritisch-therapeutischen Interpretation meint sie die kritische Aneignung verdrängter Bewusstseinsmomente. Eigentümlich genug verknüpft Habermas den Begriff weiter mit dem Streben nach Mündigkeit, welches er anthropologisch der Struktur der Sprache enthebt.4 Diese Verankerung entspricht zwar der generellen Absicht des Werks, einer Begründung des „Projekts der Moderne [durch] unhintergehbare Aspekte der menschlichen Lebens- form.“5 Ihre Verbindung mit der ideologiekritischen Funktion hingegen bleibt unklar. Im Nachwort schließlich verändert Habermas die anthropologische Begründung des emanzipatorischen Er- kenntnisinteresses in der Struktur der Sprache in Richtung einer „universalpragmatischen Nachkonstruktion von Rede überhaupt“6. Diese Nachkonstruktion löst Habermas dann aus ihrer Rolle, in welcher sie vor allem als anthropologische Grundlage das emanzipatorische Erkenntnisinteresse motivational untermauert. Den so aufklaffenden Unterschied zum kritischen Begriff der Selbstreflexion fasst Habermas selbst prägnant zusammen: „Kritik unterscheidet sich von Nachkonstruktionen dadurch, [...] daß sie schließlich Unbewußtes praktisch folgenreich bewußt macht und die Determinanten eines falschen Bewußtseins verändert, während Nachkonstruktionen ein durchaus richtiges Know How, also das intuitive Wissen, das mit einer Regelkompetenz erworben wird, ohne praktische Folgen explizieren.“7
In der Hausarbeit soll der Begriff der Selbstreflexion hinsichtlich dieser Doppelverwendung in Erkenntnis und Interesse untersucht werden, um die Diskrepanz zwischen Nachkonstruktionen und Kritik als theoriegeschichtlichen Konflikts in Habermas‘ Werk zwischen Ideologiekritik einerseits und Kommunikationstheorie andererseits zu deuten. Hierfür werde ich zunächst auf die von Iser und Strecker vorgeschlagene Einteilung der Habermaschen Theorieentwicklung tiefer eingehen (Kap. 2). Diese Einteilung liefert die Vorarbeit, um daran anschließend (Kap. 3) den Begriff der Selbstreflexion zu untersuchen. Neben einer Positionsbestimmung des Begriffs in Erkenntnis und Interesse (Kap. 3.1) versuche ich sowohl seine kritische Wendung (Kap. 3.2) als auch seine spätere Funktion als Nachkonstruktion (Kap. 3.3) in ein Verhältnis zu setzen.
Im Ergebnis möchte ich zeigen, dass, obwohl die kritische Selbstreflexion in Erkenntnis und Interesse die primäre Rolle beansprucht, der Kritikbegriff gegenüber ,orthodoxer‘ Ideologiekritik bereits so modifiziert wird, dass die wesentlichen Weichen für eine Verschiebung in Richtung Kommunikationstheorie und einer damit einhergehenden Priorisierung der rationalen Nachkonstruktion gestellt werden (Kap. 4).
2. Drei Modelle zum Verständnis von Habermas‘ Werk
Um die Ausgangsthese zu verdeutlichen, werde ich im Folgenden - an Iser und Strecker anknüpfend - die Einteilung von Habermas ‘ Werk in die drei Phasen Ideologiekritik, Erkenntnisanthropologie und Kommunikationstheorie skizzieren.8 Als zwar nicht umfassende und trennscharfe Wegpunkte, wohl aber als werkhistorische Eckpfeiler werde ich der ersten Phase Struk- turwandel der Öffentlichkeit (1962), der zweiten Phase Erkenntnis und Interesse (1968), schließlich der dritten Phase die Theorie des kommunikativen Handelns (1981) zuordnen. Allen drei Phasen kann das grundlegende Movens zugeschrieben werden, das „Projekt der Moderne“9 verteidigen zu wollen. Die Verteidigungsstrategien verschieben sich von Phase zu Phase. Allerdings weniger sprunghaft denn aufeinander aufbauend. Es kann daher nicht gänzlich überraschen, dass einige Teile des in der Theorie des kommunikativen Handelns verwendeten Begriffsapparates bereits in Strukturwandel der Öffentlichkeit anzutreffen sind. Das gilt klarerweise besonderes für die Passagen im Zusammenhang mit einer demokratischen, institutionalisierten Öffentlichkeit. Zutreffender scheint, dass in Zuge der inhaltlichen Verschiebungen über die Jahre Habermas die Einsätze und Bedeutungen seines Begriffsapparats qualitativ änderte. Und zwar in wachsender Differenz zur Kritischen Theorie der ersten Generation.
2.1 Ideologiekritik
Innerhalb der vorgeschlagenen Einteilung von Habermas‘ Theorieentwicklung kann das Werk Strukturwandel der Öffentlichkeit (neben Theorie und Praxis) als Hauptwerk der ideologiekritischen Phase gelten. Beide Werke enthalten Habermas‘ Reflexionen aus dem Ende der 1950er und Anfängen der 1960er Jahre. Biographisch fällt in diese Zeit nicht nur der Weggang aus Frankfurt nach Marburg - vom Institut für Sozialforschung zu Wolfang Abendroth -, sondern auch die Berufung nach Heidelberg 1961, noch vor Abschluss der Habilitation. Seine anschließende Berufung 1964 auf den Lehrstuhl Horkheimers in Frankfurt, welche sowohl von Adorno als auch Horkhei- mer ausdrücklich unterstützt wurde10, zeigt an, dass indes auch die Auseinandersetzungen zwischen Habermas und Horkheimer, welche den Umzug nach Marburg mitunter auslösten, wieder beigelegt waren. Die Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit findet bei Adorno Zu- stimmung.11 Diese biographischen Randnotizen sind für uns nur insofern interessant, als sie die These unterstützen, dass Habermas‘ ideologiekritisches Vorgehen in dieser Zeit ihn auch theoretisch stärker in die Nähe von Adorno und Horkheimer rückte. Im Folgenden soll mit Fokus auf Strukturwandel der Öffentlichkeit plausibilisiert werden, inwiefern wir tatsächlich von einer ideologiekritischen Phase reden können - ohne hierbei zu tief in die Auseinandersetzung mit dem Werk zu gehen. Daran anschließend werde ich die Verschiebung hin zur erkenntnisanthropologischen Phase nachvollziehen.
Der ideologiekritische Gehalt von Strukturwandel der Öffentlichkeit kann darin gesehen werden, dass Habermas die ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Verschiebungen der Öffentlichkeitsfunktionen daraufhin untersucht, inwiefern die Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert primär eine herrschaftsrechtfertigende Funktion einnimmt - und sich damit zugleich von einer kritischen Funktion verabschiedet hat. Diesen Strukturwandel skizziert Habermas genealogisch. Die Ideologiekritik beginnt im Werk mit einer nicht ideologischen Form bürgerlicher Öffentlichkeit.
Den Idealtypus einer bürgerlichen Öffentlichkeit sieht Habermas in den Salons und Kaffeehäusern des 17. Jahrhunderts entstehen, als Vehikel eines Verständigungs- und Emanzipationsprozesses des sich vom Feudalismus abkehrenden Bürgertums. Die bürgerliche Öffentlichkeit identifiziert Habermas als den Bereich innerhalb der Privatsphäre, in welchem die Privatleute sich zusammenfinden, räsonieren, und in Distanz zum Staat eigene Urteile fällen. Das für Habermas entscheidende Argument, um diese frühe Form bürgerlicher Öffentlichkeit als nicht ideologisch zu bezeichnen, ist, dass zu diesem Zeitpunkt eine noch nicht industrialisierte Marktwirtschaft zumindest potentiell wirklich die Möglichkeit bereithielt, jeden Menschen zugleich zum Eigentümer zu machen.12 Insofern man von der historischen Tendenz ausging, dass die Entwicklung der Marktwirtschaft alle Menschen auf eine gleiche ökonomische Basis heben würde, konnten die Privatinteressen eines Bürgertums universelle Geltung beanspruchen.13 Die Grundlage einer nicht-ideologischen bürgerlichen Öffentlichkeit war die Einheit von citoyen und homme.
Den Umschlag der bürgerlichen Öffentlichkeit zu einer ideologischen Kategorie markiert Habermas erst an der Aufspaltung sozialer Klassen innerhalb des dritten Standes. Hier wird deutlich, wie stark Habermas - Marx folgend - an einer materialistischen Argumentation interessiert war, freilich mit Fokus auf die kulturellen, sozialen und politischen Auswirkungen und Widersprüche. Ideologisch wird die bürgerliche Öffentlichkeit bei Habermas in dem Moment, in welchem die Herstellung einer besitzlosen Klasse zum ökonomischen Prinzip gehört und damit die Voraussetzungen einer bürgerlichen Öffentlichkeit unterminiert. Der Inhalt des Räsonnements ist jetzt nicht länger allgemeine Räson, sondern vielmehr ein bestimmtes Klasseninteresse, dass allerdings durch die Vermittlung im öffentlichen Räsonnement sich den Schein von Allgemeinheit erheischt.14 Exakt an diesem Punkt, so Habermas, wird die Öffentlichkeit zur Ideologie: Ihr Vernunftanspruch verschleiert die dahinterliegenden partiellen Interessen. Mithilfe des Anscheins der Allgemeinheit kann die bürgerliche Öffentlichkeit Rechtfertigungsmuster generieren, die dem Anspruch nach auf Rationalität basieren, somit aber ihren partiellen Status überdecken. Diese Produktion von pseudorationalen Rechtfertigungsstrukturen entspricht den Anforderungen des Ideologiebegriffs, wie er zumindest innerhalb der kritischen Theorie Verwendung findet.15
Als mit der Ideologiekritik der kritischen Theorie verwandt sehen auch Iser und Strecker Habermas‘ Stoßrichtung in Strukturwandel der Öffentlichkeit. In Anknüpfung an die Theorien von Horkheimer und Adorno gehe Habermas in seiner Frühphase noch „weitgehend traditionell vor“16, schreiben sie. Ich möchte allerdings argumentieren, dass Iser und Strecker Habermas‘ Ideologiekritik in seiner frühen Phase nicht richtig greifen, wenn sie diese als ,kritisches‘ Extrapolieren der Differenz von Idee und Wirklichkeit deuten.17 Ideologiekritik im Sinne der kritischen Theorie bezieht sich vielmehr auf die Offenlegung von Rechtfertigungsstrukturen, welche reale Widersprüche überdecken. Dieser bedient Habermas sich in seinen frühen Werken noch. Es geht weniger um normative Ideen, die nicht oder zu wenig verwirklicht wurden, sondern um (falsche) geistige Produktionen, deren Aufrechterhaltung notwendig ist, um gesellschaftliche und politische Organisationsweisen zu perpetuieren. Daher beschreibt die kritische Theorie die Ideologie nicht nur als falsch, sondern zugleich gesellschaftlich notwendig im Zustand einer „praktisch erfahrenen Ver- kehrtheit“.18 Ideologie sei das „falsche Bewusstsein einer falschen Welt“, schreibt Habermas 1963 noch.19 Die Zurückverfolgung ihrer Notwendigkeit in die materielle und ökonomische Basis der Gesellschaft sah Habermas zu diesem Zeitpunkt als zentrale Aufgabe der Ideologiekritik.20 Erst aus der Perspektive der Ideologiekritik ergibt sich die Konsequenz, politisch in die materielle Basis der Gesellschaft einzugreifen. Das ist der politische Gehalt dieser marxistischen Ideologiekritik. Auch Iser und Strecker schreiben dies dem frühen Habermas zu, obgleich sich diese Konsequenz aus ihrem Verständnis der Ideologiekritik schwerlich ableiten ließe. Zumindest der frühe Habermas sieht diese Konsequenz aber noch deutlich, wenn er argumentiert, dass die Umsetzung demokratischer Strukturen beim Festhalten an der Form des Privateigentums kaum möglich sei.21
Ab Mitte der 1960er Jahre und noch stärker zu Beginn der 1970er Jahre wird sich Habermas von dieser ideologiekritischen Argumentationsstruktur zunehmend entfernen. Es lässt sich ausreichend spekulieren, welche Ereignisse hierzu Anlass gaben. Einige Argumente, die Habermas später selbst nennen wird, sind: die Abwesenheit eines Proletariats als revolutionäres Subjekt, die ernüchternde Reflexion der Geschehnisse im Nationalsozialismus und die für ihn ebenfalls ernüchternden Geschehnisse während der Studentenbewegung.22 Philosophisch jedenfalls lässt sich eine deutliche Verschiebung von einer primär negativen Theorie - wie sie im Einklang etwa mit Adorno stand - hin zu einer positiven Theorieformung feststellen. Nicht länger wollte Habermas mithilfe von Ideologiekritik der Gegenwart ihre Versäumnisse und Unzulänglichkeiten diagnostizieren, sondern die real vorhandenen Potentiale aufspüren, auf welche sich eine progressive Geschichtsschreibung aufbauen ließe. Damit ändert sich freilich auch die Zielsetzung der Theorie. In seiner Revision von 1990 schreibt Habermas über die Differenz seiner Habilitation zu seiner Theorie des kommunikativen Handelns: „Ziel ist nicht mehr schlechthin die ,Aufhebung‘ eines kapitalistisch verselbstständigten Wirtschafts- und eines bürokratisch verselbstständigten Herrschaftssystems, sondern die demokratische Eindämmung der kolonialisierenden Übergriffe der Systemimperative auf lebensweltliche Bereiche.“23 Zwischen diesen Positionen können die Überlegungen im Werk Erkenntnis und Interesse von 1968 als Brücke gesehen werden: Als Versuch, Distanz zur negativen Philosophie der kritischen Theorie aufzubauen und an ihrer Stelle eine positive Erkenntnisanthropologie zu installieren. Erste Grundsteine legt Habermas dafür bereits in seiner Antrittsvorlesung von 1965 mit selbigem Titel.
2.2 Erkenntnisanthropologie
„Marx hat sich die erkenntniskritische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Geschichtsphilosophie in politischer Absicht niemals explizit gestellt“24, bemerkt Habermas 1963. Mit Erkenntnis und Interesse nimmt sich Habermas dieser Aufgabe an. Zunehmend lässt er in den folgenden Jahren von den ideologiekritischen Prämissen im klassisch marxistischen Sinne ab und macht sich daran, das Streben nach Emanzipation in „unhintergehbaren Aspekten der menschlichen Lebensform “25, oder anders gesprochen: in positiven Setzungen der Anthropologie, auszumachen. Sie kommen für Habermas im Rahmen des Positivismusstreits zum Tragen: Seine Wiederaufnahme der Vernunftkritik, die Adorno und Horkheimer mit der Dialektik der Aufklärung angestoßen hatten, rahmt Habermas als eine ideologische Abtrennung der Erkenntnis von den leitenden Interessen, die der Theorie einen „objektivistischen Schein“ gibt.26 Unter dem Ideal der Werturteilsfreiheit und Neutralität, so die These, hätten sich die modernen Wissenschaften seit Kant, Hegel und Marx vermeintlich frei gemacht von allen Zutaten der Subjektivität und verfallen somit einem „positivistischen Selbstverständnis“.27 Habermas unterscheidet in diesem Zuge drei Wissenschaftstypen, die, würden sie „relativ zum mitgesetzten Bezugssystem verstanden werden“, den Blick freigeben, auf ihre drei erkenntnisleitenden Interessen.28 Demnach versteht Habermas die empirisch-analytischen Wissenschaften von einem technischen Erkenntnisinteresse, das auf die Verwertbarkeit zielt, die historisch-hermeneutischen Wissenschaften von einem praktischen Erkenntnisinteresse, mit dem Ziel der Verständigung, und die kritischen orientieren Wissenschaften von einem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse, das auf die Befreiung der Subjekte dringt, angetrieben.29 Diese drei leitende Interessen, die sich Habermas zufolge im Medium der Arbeit, Sprache und Herrschaft verwirklichen, setzt er - in deutlichen Differenz zur kritischen Theorie der ersten Generation - als unveränderliche Anlagen des menschlichen Wesens: „Die Erkenntnisinteressen sind weder erkenntnispsychologisch noch wissenssoziologisch oder im engeren Sinne ideologiekritisch von Bedeutung; denn sie sind invariant.“30
Dem letzten dieser drei Erkenntnisinteressen, etwa in Form einer kritischen Sozialwissenschaft, kommt in Habermas‘ Modell eine gesonderte Rolle zu: Es „bemüht sich [...], zu prüfen, wann die theoretischen Aussagen invariante Gesetzmäßigkeiten des sozialen Handelns überhaupt und wann sie ideologisch festgefrorene, im Prinzip aber veränderliche Abhängigkeitsverhältnisse erfas- sen.“31 Das Ziel dieser Operation ist für Habermas eine methodologische Selbstreflexion der Wissenschaften, welche durch das emanzipatorische Erkenntnisinteresse bestimmt wird. Denn die Verleugnung der Reflexion auf die hinter der Erkenntnis stehenden Interessen sei eben das Wesen des Positivismus, so Habermas.32 Die Selbstreflexion wiederum, die Habermas als in den Wissenschaften selbstwirksame Kraft rehabilitieren will, ist gegen diese positivistische Reflexionssperre das Mittel der Wahl. Wenn Habermas in seinem Werk Erkenntnis und Interesse also eine „Analyse des Entstehungszusammenhangs der positivistischen Doktrin“33 mit Blick auf die Argumentationsgeschichte von Kant, Hegel und Marx über Comte und Mach vornimmt, muss diese gleichzeitig als Geschichte der Verschüttung der Selbstreflexion, die dem Positivismus den Weg ebnet, verstanden werden. Die Rehabilitierung der Selbstreflexion sieht Habermas im Ansatz durch Pierce und Dilthey gewährleistet und durch Freuds Psychoanalyse schließlich erstmals als eine Wissenschaft begründet, die methodologisch Gebrauch von ihr macht (obwohl ihr Erfinder nach Habermas‘ Auffassung ebenfalls einem positivistischen Missverständnis verfällt).
[...]
1 Vgl. Iser, Mattias/Strecker, David (2010): Jürgen Habermas. Zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag. , S.58.
2 Vgl. Habermas, Jürgen (1963): Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973., S.411f (im Folgenden als TP aufgeführt).; sowie Habermas, Jürgen: (2000): Nach dreißig Jahren: Bemerkungen zu Erkenntnis und Interesse, in: Müller-Doohm: Das Interesse der Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 12.
3 Iser/Strecker 2010, S.67.
4 Vgl. Habermas: Erkenntnis und Interesse, in: ders. Technik und Wissenschaft als Ideologie, Suhrkamp: Frankfurt 1965, S.164 (das Werk wird im Folgenden als TW aufgeführt).
5 Iser/Strecker, 2010, S.63.
6 Habermas, Jürgen (1968): Erkenntnis und Interesse, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1975, S.416 (Nachwort von 1973) (im Folgenden als EI aufgeführt).
7 EI, S.413 (Nachwort von 1973).
8 Die These, Habermas habe sich später auch von der kommunikationstheoretischen Perspektive wieder getrennt, kann in dieser Hausarbeit keine Berücksichtigung finden.
9 Iser/Strecker, 2010, S.10.
10 Auch die Antrittsvorlesung Erkenntnis und Interesse wurde vorab durch Horkheimer für gelungen befunden. Siehe Horkheimer an Habermas, Briefwechsel vom 10.08.1965. Weitere Zustimmung Horkheimers für die Arbeiten von Habermas drückt dieser auch später noch aus, siehe exemplarisch Horkheimer an Habermas, Briefwechsel vom 15.01.1969.
11 Vgl. Adorno, Theodor W. (1969): Kritik, in Rolf Tiedemann (Hrsg.) Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977., S.788.
12 Habermas, Jürgen (1962): Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2018, S.188 f. (im Folgenden als SÖ aufgeführt).
13 Es ist im Grunde selbstverständlich, dass Habermas hier nicht von einer sozialen Realität ausging. Offensichtlich war eine ökonomische Gleichheit in den westeuropäischen Gesellschaften nicht hergestellt. Nichtsdestotrotz wurde Habermas mehrfach vorgeworfen, hier eine unzulässige Verklärung frühbürgerlicher Gesellschaften vorzunehmen (statt vieler vgl. Nancy Fraser, 1990). Vor dem Hintergrund ist zu betonen, dass Habermas hier die Validität historischer Tendenzen untersucht.
14 Vgl. SÖ, S.159
15 Vgl. Biskamp, Florian (2019): Ideologiekritik als Kritik systematisch verzerrter Kommunikationsbedingungen: Zum ideologiekritischen Potenzial der Habermas'schen Theorie, in (2019): Krüger, Uwe/Sevignani, Sebastian (Hrsg.): Ideologie, Kritik, Öffentlichkeit, Leipzig, S.66-84.
16 Iser/Strecker, 2010, S.58
17 Vgl. Iser/Strecker, 2010, S.59
18 TP, S.222
19 TP, S.267.
20 Vgl. TP, S.265.
21 Vgl. TP, S.229.
22 Zu Letzterem siehe exemplarisch Habermas, Jürgen (1968): Die Scheinrevolution und ihre Kinder - Sechs Thesen über Taktik, Ziele und Situationsanalysen der oppositionellen Jugend, in Osgar Negt et. Al. Die Linke antwortet Jürgen Habermas, Frankfurt am Main. S.5 ff. Eine ausführliche Einordnung findet sich bei Benicke, Jens (2010): Von Adorno zu Mao. Über die schlechte Aufhebung der autoritären Bewegung, Freiburg: ca-ira Verlag, 2013, S.33.
23 SÖ (Vorwort von 1990), S.36.
24 TP, S.270.
25 Iser/Strecker, 2010, S. 63.
26 Vgl. Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: TW, S.156.
27 Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: TW, S.148.
28 Vgl. Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: TW, S.155.
29 Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: TW, S.155f.
30 TP, S.16.
31 Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: TW, S. 156.
32 Vgl. EI, S. 9.
33 EI, S.13.