Wie und mit welchen Methoden kann die Soziale Arbeit mit Suchterkrankungen umgehen? Eine Antwort auf diese Frage bietet der sogenannte systemische Ansatz, auch Systemtherapie genannt.
Innerhalb dieser Hausarbeit soll ein kurzer thematischer Einblick zum systemischen Ansatz ermöglicht werden, der die Grundzüge dieses Konzepts leicht verständlich herausstellt. Diese Erkenntnisse werden dann konkret auf das Beispiel des Alkoholkonsums übertragen, um etwaige Schlussfolgerungen zu ziehen.
INHALT
Einleitung
1. Systemische Beratung
1.1 Kybernetik 1.Ordnung
1.2 Kybernetik 2.Ordnung
2. Alkoholabhängigkeit
3. Herleitung der wissenschaftlichen Fragestellung
4. Systemische Beratung bei Alkoholabhängigkeit
4.1 Möglichkeiten in der Praxis
5. Rückbezug in Anbetracht der Fragestellung
Fazit
Literaturverzeichnis
EINLEITUNG
Schätzungsweise 74000 Menschen sterben jährlich direkt oder indirekt an den Folgen von Alkoholkonsum (DHS, Jahrbuch Sucht 2018)
Wie begegnet man einer Suchterkrankung, indessen Zentrum eine Droge steht, die seit Jahrhunderten aus dem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken ist?
Der systemische Ansatz in der Sozialen Arbeit bietet weitreichende Methoden und Lösungsansätze. Mittels ungewöhnlicher Betrachtungsweisen über den Mensch als Individuum und das soziale Umfeld, ist die Systemtherapie mittlerweile nicht mehr aus psychotherapeutischen, pädagogischen und sozialen Beratungsansätzen wegzudenken (vgl. Klein, Schmidt 2017 S.39f.).
Als Hauptthese des modernen Systemansatzes ist die Unmöglichkeit einer objektiven Betrachtungsweise herauszustellen. Jede Person wird sowohl durch äußere als auch durch innenliegende Systeme in seinem Handeln und Denken geleitet. Auf Basis dieses Grundsatzes verlagert der systemische Ansatz individuelle Problemlagen auf einzelne Systeme. Die Entwicklung von der grundlegenden Systembetrachtung bis hin zur Ausschließung von Neutralität kennzeichnen den Übergang von der Kybernetik I.Ordnung bis hin zur Kybernetik 2.Ordnung - den Grundsätzen der Systemtherapie (vgl. Helle 2019, S.98f.)
Prägnante Merkmale sind der Respekt und die Nähe zu dem Klienten/der Klientin. Nur in sehr wenigen anderen Methoden der sozialen Arbeit wird so viel Wert auf Wünsche und Bedürfnisse des/der Erkrankten gelegt. Beide Parteien sind umfassend gleichgestellt, eine Hoheit auf Seiten des/der Behandelnden ist ausgeschlossen (vgl. Schiepek, Noichl, Tischer, Honermann, Elbing 2001, S.243f.)
Die bereitstehenden „Werkzeuge“ im systemischen Ansatz sind in ihrer Vielzahl und Unterschiedlichkeit bemerkenswert und stellen große Forderungen an den/die Sozi- alarbeiter*in. Es gilt zu diskutieren inwiefern diese ressourcenorientierten Ansätze, welche nicht die Störung, sondern das System in den Mittelpunkt stellen nun im Falle einer Alkoholerkrankung ihre vorhandenen Kompetenzen sinnvoll nutzen können.
1. S YSTEMISCHE B ERATUNG
„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ - (Aristoteles)
Dieses Zitat des berühmten griechischen Philosophen beschreibt die Grundsätze der systemischen Beratung auf elementare Weise. Bestehend aus der allgemeinen Systemtheorie sowie der Kybernetik sozialer Gebilde entwickelte sich die systemische Familientherapie. Im Hinblick auf bereits erworbene Erkenntnisse der 60er und 70er Jahre entstand eine neue „Sichtweise menschlicher Beziehungen“ (Schmidtobreick 1992, S.14), welche die Familie als „System“ begreift (vgl. ebd., S.14).
Ausschlaggebend ist das Verständnis eines Problems im umgebenden Kontext. Eine Störung wird nicht weiterhin strikt innerhalb eines Individuums betrachtet, sondern im sozialen Umfeld und insbesondere innerhalb der Familie gesehen. Dieser Übergang von der Einzelperson zur „Indexperson“ (Helle 2019, S.96), welche auf ihr umliegendes System reagiert, bildet die Grundlage der systemischen Beratung (vgl. ebd. S.95f.).
Zunächst wurden Familientherapie und Systemische Therapie gekoppelt betrachtet, woraus sich im Laufe der 1980er-Jahre eine Abgrenzung entwickelte. Das systemische Konzept war nicht länger auf die Familie oder das soziale Umfeld (Kybernetik I.Ordnung) beschränkt, sondern verstand sich darauf „(..Jdieses systemische Denken auch auf das einzelne Individuum (...)“ zu übertragen (Kybernetik 2.Ordnung), wie Helle (2019, S.97) herausstellt.
1.1 Kybernetik 1.Ordnung
Den Grundstein der Kybernetik 1.Ordnung legt die allgemeine Systemtheorie von Ludwig von Bertalanffy. Teile dieser Theorie wurden bei der Betrachtung von Familien wie folgt angewandt: Die Familie wird als „operative Einheit“ (Klein, Schmidt 2017, S.39) begriffen, welche über eine Art Rückkopplungsprozess, von der Umwelt losgelöst, Ordnungsstrukturen aufbaut. Dies kreiert ein Systemverständnis indem die Individuen „untergeordnete Systeme“ (ebd., S.39) innerhalb eines größeren Systems (primäre Organisationseinheit/Familie) einnehmen (vgl. ebd., S.39). Grundsätzlich kann man festhalten, dass die Kybernetik 1.Ordnung den Therapeuten/die Therapeutin als objektiven außenstehenden Beobachter sieht, der durch einen gezielten Eingriff in das System eine Beeinflussung hervorrufen kann (vgl. Helle 2019, S.100). Als prägnantes Merkmal sei „(...) das Bemühen, komplexe und chaotische Systeme zu kontrollieren und zu steuern, so dass sie sich in eine bestimmte vorgegebene Richtung bewegen.“ (Helle 2019, S.100) genannt. Dieser Ansatz überschneidet sich unter anderem mit der strukturellen/strategischen Familientherapie, als auch mit dem frühen Modell der Mailänder Schule und legt den Grundstein für die Überlegungen der Kybernetik 2.Ordnung (vgl. ebd., S.100).
1.2 Kybernetik 2.Ordnung
Innerhalb der modernen Systemtheorie wird das Beobachten als Schlüsselelement angesehen (vgl. Klein, Schmidt 2017, S.51). Im Rahmen eines „Beobachtungs- und Bewertungsprozesses“ (ebd., S.51), müssen Probleme und Störungen, als solche erkannt und differenziert werden (vgl. ebd., S.51).
Die Unterscheidung dieser Störungen kann nach Luhmann in Hinsicht auf biologische, psychische und soziale Systemdynamiken vorgenommen werden (vgl. Klein, Schmidt 2017, S.51). Der Ansatz, in vorhandene Systeme mittels einer Steuerungsmöglichkeit einzugreifen (Kybernetik 1.Ordnung), wird in Relation zur Kybernetik 2.Ordnung als unzureichend angesehen (vgl. Willemse, Ameln 2018, S.15).
Der Beobachter ist fortan fester Bestandteil des Systems und kann aufgrund dessen weder als Außenstehender noch nach Grundsätzen der Objektivität eingreifen (vgl. Helle 2019, S.101). Diese Wechselwirkung zwischen Beobachter und System schließt eine „objektiv fassbare Realität“ (Helle 2019, S.101) endgültig aus.
Die Dynamiken der einzelnen Systeme unterscheiden sich in den Bereichen biologisches Leben & Überleben (biologisches System), kognitiv-emotionale Prozesse (psychisches System) und sinnorientierten kommunikativen Prozessen (soziales System) (vgl. Klein, Schmidt 2017, S.52). Jedes einzelne System bedingt das jeweils andere, mit der Besonderheit das alle autonom agieren. Die untereinander auftretenden „Kopplungsprozesse“ (ebd.,S.52) führen zu gegenseitiger Einflussnahme (vgl. ebd., S.52).
Die folgende Aussage kann als Grundsatz der Kybernetik 2.Ordnung herangezogen werden und bildet die Basis für den weiteren Bezug der modernen Systemtheorie auf Alkoholabhängigkeit: „Die jeweils eingenommene Perspektive des Beobachters entscheidet darüber, was er wahrnimmt“ (Helle 2019,S.101).
2. A LKOHOLABHÄNGIGKEIT
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Alkoholismus wie folgt:
Ein Mensch gilt als alkoholkrank, wenn
„(...) seine Abhängigkeit vom Alkohol einen solchen Grad erreicht hat, dass er deutlich seelische Störungen aufweist oder eine Beeinträchtigung seiner körperlichen und seelischen Gesundheit, seiner mitmenschlichen Beziehungen und seiner sozialen und wirtschaftlichen Funktionen bzw. Vorläufer einer solchen Entwicklung zeigt.“
(Bendien, Wisbauer, 2020)
Ausgehend von dieser Definition können die unterschiedlichen Verlaufsformen des Krankheitsbildes beleuchtet werden. Typisch ist die lange Entstehungszeit, welche in Kombination mit dem Gefühl von Gewohnheit oder dem Bedürfnis nach Ersatzhandlungen, zur Sucht führen kann (vgl. Geishofer 1997, S.4). Die einzelnen Phasen der Übergänge von Alkoholkonsum zu Alkoholismus werden von Geishofer (1997, S.4) als fließend beschrieben.
In der präalkoholischen Phase erfolgt der Wandel von zwanglosen Alkoholkonsum zu Missbrauch. Alkohol wird als Problemlöser und Entlastung angesehen (vgl. Geishofer 1997, S.4). Die Prodromalphase kennzeichnet die Gewöhnung an den Konsum. Beide Phasen bieten noch keine Möglichkeit auf eine spätere Abhängigkeit zu schließen (vgl. ebd. S.4).
Im Laufe der kritischen Phase kommt es unter anderem zu Wahrnehmungsveränderungen, Erinnerungslücken, Kontrollverlust und Persönlichkeitsveränderungen. Das Versprechen von Abstinenz seitens der Erkrankten kollidiert mit der eigenen Machtlosigkeit dem Alkohol gegenüber (vgl. Geishofer 1997, S.4). Dieser Abwehrmechanismus führt zu erheblichem „Selbstbetrug“ (Geishofer 1997, S.4).
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