In dieser Arbeit soll mit der Analyse des staatlichen Zerfalls der Republik Haiti eine Fallstudie zur Theorie der fragilen Staatlichkeit durchgeführt werden. Im Rahmen der empirisch-analytischen Vorgehensweise soll sich an der Frage orientiert werden, ob die Republik Haiti in Anbetracht der Ereignisse der letzten Jahre als ein gescheiterter Staat bezeichnet werden kann. Dazu bedarf es der Erarbeitung einzelner Indikatoren, anhand derer der staatliche Zerfall von Staaten gemessen werden kann. Um den formellen Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, soll bei der Beantwortung der Forschungsfrage das Modell fragiler Staaten vom deutschen Friedens- und Konfliktforscher Ulrich Schneckener als Bewertungsgrundlage dienen. Das Ziel der Arbeit ist es, die Eignung der Theorie Schneckeners am haitianischen Fallbeispiel zu überprüfen, sowie Klarheit bezüglich des Grads der fragilen Staatlichkeit von Haiti zu schaffen.
Zu diesem Zweck wird im zweiten Kapitel zunächst der theoretisch-analytische Rahmen dargestellt und der in dieser Arbeit verwendete Staatsbegriff erläutert, sowie das Konzept fragiler Staatlichkeit mit Fokussierung auf die Typologisierung von Schneckener ausgeführt. Kapitel 3 widmet sich der grundlegenden Beschreibung der Geschichte des haitianischen Staates, seines politischen Systems und der Skizzierung verschiedener Ursachen für den Staatszerfall Haitis. Darauf aufbauend wird im vierten Kapitel schließlich mit Hilfe quantitativer Daten, wie verschiedener Indexe und Kennzahlen, die in Kapitel 2 erarbeiteten Indikatoren Schneckeners zur genauen Bestimmung des Grades der fragilen Staatlichkeit von Haitis genutzt, was im Idealfall in einer wissenschaftlich belegten Beantwortung der Forschungsfrage münden wird.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theorie gescheiterter Staaten
2.1 Der Staatsbegriff
2.2 Fragile Staatlichkeit
2.3 Typologie nach Schneckener
3. Der haitianische Staat
3.1 Historischer Überblick
3.2 Politisches System
3.3 Ursachen des haitianischen Staatszerfalls
4. Der haitianische Staatszerfall
4.1 Sicherheitsfunktion
4.2 Wohlfahrtsfunktion
4.3 Legitimitäts- und Rechtsstaatsfunktion
5. Schlussteil
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Ohne nennenswerten Widerstand der Sicherheitskräfte drang ein 28-köpfiges Mordkommando in der Nacht vom 6. auf den 7. Juli 2021 in das Privathaus des haitianischen Staatsoberhauptes Jovenel Moïse in einem Vorort der Hauptstadt Port-au-Prince ein, ermordete den Präsidenten mit mehreren Schüssen, verwundete seine Frau schwer und floh unerkannt.1 Was wie eine Nachricht klingt, die aus einem Hollywood-Thriller stammt, ist die harte Realität Haitis. Nur knapp fünf Wochen nach der Exekution des Präsidenten wurde der Karibikstaat, der schon in 2010 Opfer eines verheerenden Erdbebens mit hunderttausenden Toten wurde, welches besonderes Aufsehen in der Welt erregte und umfassende internationale Hilfsmaßnahmen hervorrief, am 14. August 2021 erneut von einem heftigen Erdbeben erschüttert, durch das 2000 Menschen ums Leben kamen und 160.000 Familien ihr Zuhause verloren.2 Seitdem kommt es in den betroffenen Gebieten durch die allgegenwärtigen kriminellen Gruppen zu Straßensperren und Überfällen auf Hilfskonvois, sowie vereinzelten Entführungen von ärztlichem Personal, wodurch die Hilfsmaßnahmen im Land aktuell stark beeinträchtigt werden.3
Schon vor dem jüngsten Erdbeben und der Ermordung des Präsidenten kämpften sich die Einwohnerinnen und Einwohner der Inselrepublik durch eine seit Jahren andauernde politische Krise. Bereits seit Mitte 2018 kommt es im Rahmen dieser in Haiti immer wieder zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen: „Die tief verwurzelte Ineffizienz und Instabilität der politischen Institutionen sowie ständige Naturkatastrophen, wie Erdbeben, Wirbelstürme und Dürreperioden, verhindern dabei das Durchbrechen des Teufelskreises aus Armut, zivilen Unruhen und Gewalt.“4 Im Fragile States Index 2021 (ehemals Failed States Index) belegt Haiti mit einem Wert von 97,5 Punkten zwar „nur“ den 13. Platz, allerdings liegt es damit äußerst knapp unter der Schwelle von 100, ab der hoher Alarm für die betroffenen Ländern gilt (wie für Afghanistan oder den Sudan).5 Dazu wurde der Report schon im Mai veröffentlicht und konnte bei der Berechnung des Wertes die jüngsten Ereignisse folglich nicht berücksichtigen. Für viele politische Beobachterinnen und Beobachter stellt sich daher aktuell die Frage: befindet sich Haiti auf dem Weg zu einem gescheiterten Staat, einem sogenannten „Failed State“?
Es gibt zwar „bislang keine umfassende, befriedigende Theorie von fragiler Staatlichkeit - dafür ist das Forschungsfeld auch noch zu jung“.6 Dennoch lassen sich gescheiterte Staaten dadurch kennzeichnen, in scheinbar endlosen Zyklen aus „Gewalt, wirtschaftlichen Zusammenbruchs und ungeeigneter Regierungen, die außerstande sind, das Leiden des Volkes zu lindern,“7 gefangen zu sein. Der Staatszerfall hat dabei einen negativen Einfluss auf die Sicherheit seiner Nachbarstaaten, da auf regionaler Ebene interagiert wird und sich so Probleme ausbreiten.8 Folglich stellen Failed States ein Entwicklungsproblem dar und werden „als eine zentrale Bedrohung der internationalen Sicherheit bezeichnet, die die globale Politikgestaltung untergräbt und die regionale Instabilität vergrößert.“9 Unter diesem Aspekt ist die Untersuchung des Zerfallsprozesses von Staaten von großem Interesse für die Politikwissenschaft.
In dieser Arbeit soll mit der Analyse des staatlichen Zerfalls der Republik Haiti eine Fallstudie zur Theorie der fragilen Staatlichkeit durchgeführt werden. Im Rahmen der empirisch-analytischen Vorgehensweise soll sich an der Frage orientiert werden, ob die Republik Haiti in Anbetracht der Ereignisse der letzten Jahre als ein gescheiterter Staat bezeichnet werden kann. Dazu bedarf es der Erarbeitung einzelner Indikatoren, anhand derer der staatliche Zerfall von Staaten gemessen werden kann. Um den formellen Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, soll bei der Beantwortung der Forschungsfrage das Modell fragiler Staaten vom deutschen Friedens- und Konfliktforscher Ulrich Schneckener als Bewertungsgrundlage dienen. Das Ziel der Arbeit ist es, die Eignung der Theorie Schneckeners am haitianischen Fallbeispiel zu überprüfen, sowie Klarheit bezüglich des Grads der fragilen Staatlichkeit von Haiti zu schaffen.
Zu diesem Zweck wird im zweiten Kapitel zunächst der theoretisch-analytische Rahmen dargestellt und der in dieser Arbeit verwendete Staatsbegriff erläutert, sowie das Konzept fragiler Staatlichkeit mit Fokussierung auf die Typologisierung von Schneckener ausgeführt. Kapitel 3 widmet sich der grundlegenden Beschreibung der Geschichte des haitianischen Staates, seines politischen Systems und der Skizzierung verschiedener Ursachen für den Staatszerfall Haitis. Darauf aufbauend wird im vierten Kapitel schließlich mit Hilfe quantitativer Daten, wie verschiedener Indexe und Kennzahlen, die in Kapitel 2 erarbeiteten Indikatoren Schneckeners zur genauen Bestimmung des Grades der fragilen Staatlichkeit von Haitis genutzt, was im Idealfall in einer wissenschaftlich belegten Beantwortung der Forschungsfrage münden wird.
2. Theorie gescheiterter Staaten
2.1 Der Staatsbegriff
Was kennzeichnet überhaupt einen modernen Staat? Im Völkerrecht werden Staaten gewohnheitsrechtlich durch die Drei-Elementen-Lehre der Montevideo-Konvention von 1933 als Gebilde definiert, die die Kriterien der uneingeschränkten Staatsgewalt über ein vorhandenes Staatsvolk in einem territorial festgelegtem Staatsgebiet erfüllen, was impliziert, dass die moderne Staatengemeinschaft „gleichermaßen Demokratien und Diktaturen, Supermächte und Zwergstaaten, Industrienationen und am Rande des Existenzminimums lebende Entwicklungsländer“10 umfasst. In der politikwissenschaftlichen Debatte hingegen gibt es zur Staatlichkeit eine immense Anzahl der unterschiedlichsten theoretischen Ansätze, weshalb es für die genau wissenschaftliche Bearbeitung des Themas des Staatszerfalls von fundamentaler Bedeutung ist, „zuvor zu klären, was mit dem Staat gemeint ist.“11
Das Zeitalter moderner Staatensysteme, abgegrenzt von den früheren politischen Gemeinschaften der Polis und der Res publica, wurde mit dem Nationalstaatsprinzip des Westfälischen Frieden von 1648 eingeleitet.12 Seitdem variiert das wissenschaftliche Verständnis moderner Staaten stark, je nach ideologischer Gesinnung der Theoretikerinnen und Theoretiker. Die klassische machiavellische Staatsdefinition, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Max Weber um das Element eines festen Territoriums erweitert wurde, bezog sich zunächst allein auf das Element der Staatsgewalt, während in der in den 1970er Jahren entstandenen Neuen Institutionsökonomik unter dem Staat hingegen vielmehr eine Sammlung von Institutionen zur Klärung eigentumsrechtlicher Angelegenheit verstanden werden und in den marxistischen und gramscischen Theorien die Auffassung dominiert, der Staat sei kein neutraler Vermittler, sondern ein Repräsentant der durch die besitzende Klasse dominierten Koalitionen.13
Da sich in dieser Arbeit mit dem spezifischen Raster fragiler Staatlichkeit von Schneckener auseinandergesetzt werden soll, muss sich die Untersuchung folglich auf den von ihm verwendeten Staatsbegriff beziehen. In der 2006 erschienen Publikation ‚Fragile Staatlichkeit‘ schreibt er, der moderne Staat konstituiere „sich durch den Anspruch einer Zentralgewalt und ihres Apparats auf politisch-institutionelle Kontrolle über ein spezifisches, abgrenzbares Territorium und die dort lebende Bevölkerung.“14 Seine Definition des Staatsbegriffes knüpft also an die drei Montevideo-Kriterien an und unterscheidet zusätzlich die De-facto-Staatlichkeit von der De-jure-Staatlichkeit, für die ein Staat von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt werden muss.15 Ferner versteht Schneckener unter moderner Staatlichkeit auch ein vielfältiges Spektrum politischer Institutionen, „das über den engeren Bereich des Staatsapparats und der Exekutive (inklusive Polizei und Armee) hinausreicht und die Legislative (Parlamente, Parteien), die Judikative (Gerichtswesen) und den gesamten Verwaltungsbereich einschließt.“16
2.2 Fragile Staatlichkeit
„Bei Staatszerfall bzw. fragiler Staatlichkeit geht es um den Verlust bzw. um eine nicht erreichte Kontroll-, Handlungs- und Steuerungsfähigkeit staatlicher Institutionen in zentralen Aufgabenbereichen.“17 Von modernen Staaten wird erwartet, dass sie diese elementaren Funktionen zur Sicherheit des Volkes und der internationalen Ordnung erfüllen können.18 Staaten, die diese gesellschaftlichen Ansprüche nicht mehr oder von Beginn an nicht erfüllen können, werden in der Politikwissenschaft deshalb auch als fragile oder gescheiterte Staaten bezeichnet. Failed States wurden zum ersten Mal in einem 1992 in der Fachzeitschrift ‚Foreign Policy‘ erschienenem Artikel von Gerald Helman und Steven Ratner beschrieben und waren in diesem grundlegendem Entwurf des Zerfalls moderner Staaten zunächst „durch Bürgerkrieg, Versagen der Regierung und wirtschaftlichen Zusammenbruchs gekennzeichnet.“19
Weltbekannt wurde das Konzept in 2002 durch ein US-amerikanisches Strategiepapier der nationalen Sicherheit, in dem die Bush-Administration im Kontext der Terroranschläge vom 11. September 2001 und des einen Monat später begonnenen Afghanistan-Krieges erklärte, dass „die Vereinigten Staaten heute weniger durch erobernde Staaten bedroht werden als durch schwache und scheiternde Staaten.“20 Seitdem werden schwache (weak), zerfallende (failing), gescheiterte (failed) oder kollabierte (collapsed) Staaten differenziert – „allgemeiner formuliert: Formen fragiler Staatlichkeit.“21 Diese und noch einige andere Begriffe werden in der politikwissenschaftlichen Debatte sehr uneinheitlich gebraucht und variieren je nach Theorie, beschreiben aber alle einen gewissen Grad an staatlichem Zerfall. Für Lambach stellen sie ein Kontinuum fragiler Staatlichkeit für moderne Staaten dar, an dessen positivem Ende er den konsolidierten und starken Staat sieht und an dessen negativem Ende den kollabierten oder gescheiterten Staat.22
Robert Irwin Rotberg brachte im Jahr 2002 als erster die Idee vor, staatlichen Zerfall anhand mehrdimensionaler Indikatoren, wie dem Wachstum politischer und krimineller Gewalt oder dem Kontrollverlust über das Staatsterritorium, zu bewerten und Staaten dementsprechend als stark (strong), schwach (weak), zerfallend (failing) oder gescheitert (failed) zu kategorisieren.23 Als Beispiele gescheiterter Staaten nennt er damals Afghanistan, Sierra Leone und Somalia.24 „Der von Rotberg entwickelte Grundgedanke ist, dass kein alleiniger Indikator sichere Beweise liefert kann, dass ein starker Staat zu einem schwachen wird oder ein schwacher Staat zu zerfallen beginnt.“25 Mit dem erstmals in 2004 veröffentlichtem FSI gibt es mittlerweile einen jährlich berechneten Index zur fragilen Staatlichkeit, der an Rotbergs Grundgedanken anknüpft und auf Basis von 12 politischen, ökonomischen, sozialen und Kohäsionsindikatoren (und über 100 Subindikatoren) für 179 Staaten der Welt ein Ranking erstellt.26
2.3 Typologie nach Schneckener
Schneckener differenziert die Staatenwelt grundsätzlich in westfälisch und post-westfälisch (starke/konsolidierte Staaten), sowie prä-westfälisch (schwache, zerfallende/versagende und gescheiterte/kollabierte Staaten): „Während bei der westfälischen Konstellation Sicherheitspolitik primär eine Domäne des Nationalstaats ist und bleibt, verweist Prä-Westfälia auf die Privatisierung und Entstaatlichung von Sicherheit, verbunden mit dem Verlust an staatlicher Kontroll- und Handlungsfähigkeit.“27 Post-westfälische Staaten (die westlichen Industrienationen) hingegen sind „durch Tendenzen zur Internationalisierung und Multilateralisierung von Sicherheit geprägt,“28 bei denen staatliche Akteure zugunsten supranationaler Kooperation Souveränitätseinschränkungen in Kauf nehmen. Wie Rotberg unterscheidet Schneckener neben den konsolidierten Staaten drei Typen fragiler Staatlichkeit, die er auch als prä-westfälische Herausforderung bezeichnet und die bei ihm vor allem dadurch gekennzeichnet sind, „dass staatliche Institutionen ihre Steuerungsfähigkeit in zentralen Aufgabenbereichen verloren haben oder aber nur unzureichend entwickeln konnten.“29
Aus diesen zentralen Aufgabenbereichen werden von ihm a) Sicherheit, b) Wohlfahrt und c) Legitimität/Rechtsstaatlichkeit als die Kernfunktionen moderner Staatlichkeit definiert, zu deren Indikatoren unter anderem „a) die staatliche Kontrolle der Gewaltmittel, b) die Bereitstellung von Gesundheits- und Bildungsinfrastruktur und c) Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Partizipation in der politischen Entscheidungsfindung“30 gehören. Im Modell von Schneckener wird der Grad fragiler Staatlichkeit durch den Zerfall dieser drei elementarer Staatsfunktionen bewertet, welcher sich dabei „anhand qualitativer und quantitativer Daten (z.B. Human Development Index, World Bank Governance Indicators, Freedom House Index) messen lässt.“31
Als konsolidiert bzw. stark (z.B. Deutschland, USA, Australien) gelten für Schneckener folglich diejenigen Staaten, die alle dieser Kernfunktionen über einen längeren Zeitraum erfüllen. Schwache (weak) Staaten (z.B. Kenia, Venezuela oder Kirgistan) verfügen zwar in der Regel noch „über eine gewisse Stabilität, da sie in der Lage seien, das Gewaltmonopol – teilweise unter Anwendung drakonischer Maßnahmen -auszuüben, sie wiesen jedoch erhebliche Defizite bei Fragen der politischen Ordnung auf und seien zumeist nur in der Lage, staatliche Dienstleistungen für alle zu gewährleisten.“32 Bei zerfallenden Staaten (z.B. Sri Lanka, Kolumbien oder Georgien) „ist die Sicherheitsfunktion im Unterschied zu den zuvor beschriebenen Typen stark eingeschränkt, Wohlfahrts- und/oder Legitimitäts- und Rechtsstaatsfunktion sind aber zumindest noch in Teilen vorhanden.“33 Und die vierte und letzte Kategorie der gescheiterten/zerfallenden/kollabierten Staaten zeichnen sich nach Ansicht Schneckeners dadurch aus, dass „keine der drei Funktionen noch in nennenswerter Weise vorhanden [ist], do dass man von einem völligen Zusammenbruch oder Kollaps von Staatlichkeit sprechen kann.“34
Schneckener betont, dass seine Theorie der sukzessiv abnehmenden Stabilität eines Landes nicht als Stadienmodell misszuverstehen sei, und entwickelt „somit ein nicht-lineares und prinzipiell komplexeres Modell als die anderen Autoren.“35 Dementsprechend können schwache Staaten ohne Zwischenschritt direkt zu einem gescheiterten Staat werden und umgekehrt. Fragile Staatlichkeit stellt für Schneckener folglich keinen endgültigen Zustand dar (im Gegensatz zu Rotberg, „nach dessen Ansicht das Scheitern das Endstadium des Staatszerfalles ist“36), denn selbst gescheiterte Staaten scheinen sich durch gezielte „Politiken und Ressourcen, die kritische Herausforderungen angehen,“37 wieder erholen zu können. Ein weiterer Vorteil dieser Typologisierung ist die Einbeziehung der Dimension der Rechtsstaatlichkeit, durch die sich auch autoritäre Staaten in die Kategorien fragiler Staatlichkeit einordnen lassen, die ohne die rechtsstaatliche Dimension aufgrund ihres besonders ausgeprägtem staatlichen Gewaltmonopols eigentlich als konsolidierte Staaten einzuordnen wären.38
3. Der haitianische Staat
3.1 Historischer Überblick
Die Geschichte des heutigen Staates Haiti beginnt im ersten Jahrtausend nach Christus mit der Besiedlung durch das aus Südamerika stammende indigene Volk der Taíno Arawak, die der Insel der heutigen haitianischen und dominikanischen Republiken den Namen Ayiti gaben.39 Das ursprüngliche Leben der etwa eine halbe Million Menschen umfassenden prä-kolumbischen Bevölkerung, die in kleinen durch weibliche und männliche Chiefs regierten Dörfern entlang der Küste und Flüsse lebte, zeichnete sich durch eine reiche, auf Kooperation und nachhaltiger Landwirtschaft basierende Kultur aus, in der es genügend Nahrung und Beschäftigung für alle gab.40 Ein jähes Ende fand dieses einfache (aber gute) Leben durch die Ankunft der Kolonialisten und der damit begonnenen Unterwerfung der indigenen Völker.
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1 Vgl. Demmer, Anne (12.07.2021). Präsidentenmord in Haiti: „Söldner drangen in mein Haus ein“. Tagesschau: ARD-Studio Mexiko-Stadt. https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/haiti-ermordung-praesident-101.html abgerufen 04.09.2021.
2 Vgl. Böttcher, Xenia (04.09.2021). Hilfe in Not: Haiti nach dem Erdbeben. DW: Reporter vor Ort. https://p.dw.com/p/3zuXu abgerufen 04.09.2021.
3 Vgl. Brühwiller, Tjerk (24.08.2021). Nach Erdbeben in Haiti – Hilfskonvois überfallen, Ärzte entführt. FAZ: São Paulo Korrespondent. https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/ungluecke/haiti-hilfe-fuer-erdbebenopfer-wird-durch-banden-beeintraechtigt-17499361.html abgerufen 04.09.2021.
4 Knoblauch, Wolfgang (2021). Haiti. Bundeszentrale für politische Bildung: Dossier Innerstaatliche Konflikte. S.3. https://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/328218/haiti abgerufen 04.09.2021.
5 Vgl. Fiertz, Natalie/Nasri, Patricia Taft et al. (2021). Fragile States Index Annual Report. Fund for Peace. S.49. https://fragilestatesindex.org/wp-content/uploads/2021/05/fsi2021-report.pdf abgerufen 04.09.2021.
6 Lambach, Daniel (2012). Fragile Staatlichkeit: Begriffe, Theorien und politische Diskurse, in: Brand, Alexander/Meyer, Günter/Muno, Wolfgang (Hrsg./2012). Staatlichkeit in der dritten Welt - fragile und gescheiterte Staaten als Entwicklungsproblem. Monsheim: VMK-Druckerei. S.33-62; hier: S.36.
7 Haims, Marla/Gompert, David et al. (2008). Breaking the Failed-State Cycle. Santa Monica: RAND. S.XI.
8 Vgl. Lambach, Daniel (2008). Staatszerfall und regionale Sicherheit. Baden-Baden: Nomos. S.280-281.
9 Schneckener, Ulrich (2006). States at Risk. Zur Analyse fragiler Staatlichkeit, in: Schneckener, Ulrich (Hrsg./2012). Fragile Staatlichkeit. „States at Risk“ zwischen Stabilität & Scheitern. Baden-Baden: Nomos. S.9-42; hier: S.10.
10 Leidenmühler, Franz (2011). Kollabierter Staat und Völkerrechtsordnung. Zur Aktualität der Westfälischen Ordnung, entwickelt an Fragen des Wegfalls effektiver Staatsgewalt. Graz: Neuer Wissenschaftlicher Verlag. S.148.
11 Lambach (2008). S.18.
12 Vgl. Brand, Alexander/Muno, Wolfgang (2012). Staatlichkeit in der dritten Welt - fragile und gescheiterte Staaten als Entwicklungsproblem, in: Brand, Alexander/Meyer, Günter/Muno, Wolfgang (Hrsg./2012). Staatlichkeit in der dritten Welt - fragile und gescheiterte Staaten als Entwicklungsproblem. Monsheim: VMK-Druckerei. S.7-32; hier: S.9-10.
13 Vgl. Di John, Jonathan (2010). The Concept, Causes and Consequences of Failed States: A Critical Review of the Literature and Agenda for Research with Specific Reference to Sub-Saharan Africa. The European Journal of Development Research, Volume 22/10. S.10-30; hier: S.13. https://link.springer.com/article/10.1057/ejdr.2009.44 abgerufen 09.09.2021.
14 Schneckener (2006). S.17.
15 Vgl. Grosser, Susanne/Hoffmann, Martina (2007). Welche Art von Analysemuster kann bei der Erstellung von Fallstudien zerfallen(d)er Staaten zugrunde gelegt werden? Erlangen: FAU. S.3. https://docplayer.org/33234192-Welche-art-von-analysemuster-kann-bei-der-erstellung-von-fallstudien-zerfallen-d-er-staaten-zugrunde-gelegt-werden.html abgerufen 05.09.2021.
16 Schneckener (2006). S.18.
17 Schneckener, Ulrich (2005). Pro-Westfalia trifft Prä-Westfalia, in: Fischer, Sabine/Jahn, Egbert/Sahm, Astrid (Hrsg./2005). Die Zukunft des Friedens Band 2: Die Friedens- und Konfliktforschung aus der Perspektive der jüngeren Generationen.Wiesbaden: VS Verlag. S.189-212; hier: S.194.
18 Di John (2010). S.11.
19 Lambach (2008). S.49.
20 Woodward, Susan (2017). The Ideology of Failed States. Why Interventions fail. Cambridge: University Press. S.26.
21 Schneckener (2006). S.9.
22 Vgl. Lambach (2012). S.32-33.
23 Vgl. Di John (2010). S.14.
24 Rotberg, Robert Irwin (2002). Failed States in a World of Terror. Foreign Affairs, Volume 81. S.127-140; hier: S.128. https://doi.org/10.2307/20033245 abgerufen 06.09.2021.
25 Di John (2010). S.14.
26 Vgl. Fiertz/Nasri et al. (2021). S.40f.
27 Schneckener (2005). S.193.
28 Ebd.
29 Schneckener (2006). S.21.
30 Lambach (2012). S.35.
31 Schneckener (2005). S.194.
32 Leidenmühler (2011). S.181.
33 Grosser/Hoffmann (2007). S.5.
34 Schneckener (2005). S.197.
35 Lambacht(2008). S.52.
36 Di John (2010). S.13.
37 Haims/Gompert et al. (2008). S.XV.
38 Vgl. Grosser/Hoffmann (2007). S.5f.
39 Vgl. Menkart, Deborah/Sunshine, Catherine (1994). Teaching About Haiti. New York: NECA. S.5. https://www.teachingforchange.org/wp-content/uploads/2012/07/cchaiti.pdf
40 Vgl. United States Library of Congress Federal Research Division (2006). Country Profile: Haiti. S.1. https://www.refworld.org/docid/46f91344d.html abgerufen 07.09.2021.