Im Schriftspracherwerb werden unter anderem die Themen Lesen, Lesekompetenz sowie die Förderung des Lesens und der Lesekompetenz behandelt. In dieser Arbeit geht es um die Lesekompetenzförderung. Die Lesekompetenz stellt in der heutigen Welt eine der Schlüsselkompetenzen dar, über die ein Individuum verfügen muss, um am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilzuhaben. Als "universelles Kulturwerkzeug" dient die Lesefähigkeit dabei der Erschließung von Wissen, Informationen, kulturellen Inhalten und Wertvorstellungen und wird daher als eine zentrale Bedingung für schulischen und beruflichen Erfolg sowie lebenslanges Lernen angesehen. Befunde der PISA-Studie 2000 zeigen jedoch nur allzu deutlich, dass die Lesekompetenz 15-jähriger deutscher SchülerInnen weit hinter dem Durchschnitt der OECD-Länder zurückliegt. Auch Ergebnisse der IGLU verweisen, bei mehr als einem Drittel der deutschen GrundschülerInnen der vierten Klasse, auf schwache Leseleistungen und machen unverkennbar auf den dringenden Bedarf entsprechender Fördermaßnahmen hinsichtlich dieser grundlegenden Kompetenz aufmerksam.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung - Lesen lernen und Lesekompetenz
2. Begriffsbestimmung: Lesen und Lesekompetenz
2.1 Lesen
2.2 Lesekompetenz
2.3 Der Leseprozess und seine Schwierigkeiten: Identifizierung von Problemen
2.4 Weitere Einflussfaktoren auf den Leseprozess und die Lesekompetenz
3. Lesefördermaßnahmen
3.1 Lesemotivation
3.2 Maßnahmen zur Förderung der Lesemotivation
3.2.1 „Zum Lesen Verlocken" am Beispiel der Klassenlektüre
3.2.2 Vorlesen und eigene Bücher vorstellen
3.2.3 Offene Formen der Leseförderung
4. Abkürzungsverzeichnis
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung - Lesen lernen und Lesekompetenz
Die Lesekompetenz stellt in der heutigen Welt eine der Schlüsselkompetenzen dar, über die ein Individuum verfügen muss, um am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilzuhaben. Als „universelles Kulturwerkzeug“ dient die Lesefähigkeit dabei der Erschließung von Wissen, Informationen, kulturellen Inhalten und Wertvorstellungen und wird daher als eine zentrale Bedingung für schulischen und beruflichen Erfolg sowie lebenslanges Lernen angesehen (Schiefele, Artelt, Schneider & Stanat, 2004). Befunde der PISA- Studie 2000 zeigen jedoch nur allzu deutlich, dass die Lesekompetenz 15-jähriger deutscher SchülerInnen1 weit hinter dem Durchschnitt der OECD-Länder zurückliegt (BMBF, 2007). Auch Ergebnisse der IGLU verweisen, bei mehr als einem Drittel der deutschen GrundschülerInnen der vierten Klasse, auf schwache Leseleistungen und machen unverkennbar auf den dringenden Bedarf entsprechender Fördermaßnahmen hinsichtlich dieser grundlegenden Kompetenz aufmerksam. Bevor nun im Folgenden auf die Förderung der Lesekompetenz durch geeignete Lesefördermaßnahmen und Leseübungen eingegangen wird, muss zuvor geklärt werden, von welchen Komponenten die Lesekompetenz abhängig ist und was genau unter dem Vorgang des Lesens zu verstehen ist. Dabei soll insbesondere auf den Leseprozess (Lesevorgang) und dessen Einflussfaktoren eingegangen werden, um mögliche Ansatzpunkte einer gezielten Leseförderung zu identifizieren
2. Begriffsbestimmung: Lesen und Lesekompetenz
2.1 Lesen
Lesen stellt eine aktive kognitive Konstruktionsleistung des Lesers dar, bei welcher die im Text enthaltenen Inhalte aktiv mit dem Vor- und Weltwissen in Verbindung gesetzt werden (BMBF 2007). Entsprechend gestaltet sich das „Lesen [...] [als] ein komplexer Vorgang aus mehreren flexiblen und kontextabhängigen Teilprozessen auf der Wort-, Satz- und Textebene“ (BMBF 2007, S. 11). Die auf den einzelnen Ebenen stattfindenden Lesevorgänge, auch Leseprozesse genannt, gehen entsprechend mit zunehmend komplexeren Kompetenzanforderungen an den Leser einher. Zu den Lesevorgängen der „unteren Ebene“ (Wortebene) zählen dabei das Erkennen von Buchstaben und Wörtern sowie die Erfassung von Wortbedeutungen, während auf der „mittleren Ebene“ (Satzebene) bereits semantische und syntaktische Beziehungen von Wortfolgen und zwischen Sätzen hergestellt werden (Schründer-Lenzen, 2009). Auf der „höheren Ebene" (Textebene) werden satzübergreifend Bedeutungseinheiten zusammengefasst, um den Aufbau einer „kohärenten mentalen Repräsentation der Bedeutung des Textes" (BMBF 2007) zu vollziehen. Dabei finden aktive Konstruktionsleistungen des Lesers statt, bei welcher die im Text gegebenen Inhalte aktiv mit dem individuell vorhandenen Vor- und Weltwissen verknüpft werden (Schründer-Lenzen 2009). Unter Lesen ist demnach nicht nur die Lesefertigkeit in Form von basalen technischen Fertigkeiten, wie etwa dem Rekodieren (Umsetzen von Graphemen in Phoneme) zu verstehen, sondern auch das Leseverständnis als „Sinnerfassung eines sprachlichen Inhalts, der durch Schriftzeichen fixiert ist" (Schenk, 1999, S. 14) aufzufassen. Schründer-Lenzen (2009) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei Lesemodelle. Zum einen das textgeleitete Lesemodell (bottom-up), was hauptsächlich von basalen Verarbeitungsmechanismen beziehungsweise Lesetechniken (Bsp. Rekodieren) bestimmt wird und zum anderen das wissensgeleitete Lesemodell (top-down), bei welchem bereits kontextspezifisches Vorwissen zum Entschlüsseln von Wortbedeutungen herangezogen wird (Schründer-Lenzen, 2006). Nun laufen diese beiden Vorgänge nicht zeitlich versetzt hintereinander ab, sondern es ist vielmehr so, dass beide Lesevorgänge/-modelle auf allen Ebenen des Leseprozesses (Wort-, Satz-, Textebene) zeitlich parallel stattfinden (= Interaktionistischer Ansatz) (Schründer-Lenzen, 2006, S. 88). Dies lässt sich am Besten mit Hilfe eines Beispiels verdeutlichen. So kann etwa die korrekte Aussprache und die Bedeutung der Wörter ,Montage‘, ,rasten‘ oder ,übersetzen‘ erst aus dem Sinnzusammenhang des Satzes oder Textes entnommen werden. Das ,richtige Erlesen‘ dieser Wörter setzt demnach voraus, dass beide Lesevorgänge, also, sowohl die basalen Verarbeitungsmechanismen (Rekodieren), als auch die Sinnentnahme dieser Wörter im Zusammenhang mit dem Kontext- bzw. Vorwissen, parallel ablaufen (Schenk, 1999 und Schründer-Lenzen, 2006).
2.2 Lesekompetenz
Wie soeben deutlich wurde, handelt es sich beim Lesen um einen sehr komplexen Vorgang, der dem Leser verschiedene Fähigkeiten und Fertigkeiten abverlangt. „Lesekompetenz/Reading Literacy ist die Fähigkeit geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen" (PISA 2000). Demzufolge ist Lesekompetenz Grundvoraussetzung, um am gesellschaftlichen Leben aktiv teilhaben und die eigenen Fähigkeiten im Sinn des lebenslangen Lernens weiterentwickeln zu können. Unter Lesekompetenz werden diesbezüglich insbesondere die leserelevanten kognitiven Fähigkeiten, wie das automatisierte Beherrschen der Lesetechniken und die Sinnerfassung, verstanden. Entsprechend des allgemeinen Kompetenzbegriffes müssen in dieser Hinsicht jedoch auch das fachbezogene Gedächtnis und ein umfangreiches (Vor-)Wissen aufgeführt werden. Allerdings ist der Begriff der Lesekompetenz nicht allein auf die kognitiven Fähigkeiten herunterzubrechen. Auch motivationale (Bsp. Einstellungen, Haltungen) und handlungsbezogene Merkmale, wie beispielsweise die Aufmerksamkeit, sind dem Begriff der Kompetenz zuzurechnen und dürfen auch hinsichtlich einer Definition der Lesekompetenz nicht vernachlässigt werden (BMBF 2007). Im Zusammenhang mit den motivationalen und handlungsbezogenen Merkmalen der Lesekompetenz weisen Groeben und Hurrelmann außerdem auf die hohe Bedeutung von Sozialisationsprozessen hin. Denn erst durch Interaktionsprozesse in/mit Familie, Schule und Peers entwickeln sich interindividuelle Einstellungen, Haltungen und Rezeptionsfähigkeiten, die maßgeblich zur Ausbildung von Lesekompetenz beitragen (BMBF 2007). Kurzum: Lesekompetenz wird von Fähigkeit, (Vor-) Wissen, Verstehen, Können, Handeln, Erfahrung und Motivation bestimmt und in diesem Sinne als „eine Disposition, die Personen befähigt, bestimmte Arten von text- und lesebezogenen Anforderungen erfolgreich zu bewältigen“ verstanden (BMBF 2007). Gemäß IGLU 2006 lassen sich dabei für SchülerInnen der Grundschule Basiskompetenzen auf fünf Lesekompetenzstufen ermitteln, die im Folgenden, u.a. auch unter 2.2 im Zusammenhang mit dem Leseprozess, etwas näher ausgeführt werden (Bos et al. 2007). SchülerInnen der Lesekompetenzstufe I beherrschen nach diesen Angaben das Dekodieren und Vorlesen von Wörtern und Sätzen, wozu laut IGLU in Deutschland alle SchülerInnen am Ende der 4. Klasse im Stande sind (Bos et al. 2007). SchülerInnen der Lesekompetenzstufe II lesen und verstehen bereits Texte in altersangemessener Sprache und Schwierigkeit und können außerdem „explizit angegebene Einzelinformationen in Texten identifizieren“ (finden und wiedergeben) (Bos et al., 2007). SchülerInnen der Lesekompetenzstufe III verfügen im Normalfall über die Fähigkeiten der beiden unteren Kompetenzstufen und können darüber hinaus „relevante Einzelheiten und Informationen im Text auffinden und miteinander in Bezug setzen“ (Bos et al., 2007, S. 100). Darunter fallen das Verstehen der Handlung und des textübergreifenden Gesamtzusammenhanges, das Ziehen von Schlussfolgerungen und das Verbinden mehrerer Informationen verschiedener Textteile. Sie können Schlussfolgerungen bezüglich der Eigenschaften, Motivation und Gefühle von Hauptfiguren ziehen und strukturgebende Elemente, wie Überschriften und Bilder, zur Auffindung von Informationen nutzen (Bos et al., 2007). Auf der Lesekompetenzstufe IV können die SchülerInnen „zentrale Handlungsabläufe auffinden“ sowie „die Hauptgedanken des Textes erfassen und erläutern“ (Bos et al. 2007, S. 102). Dazu gehören das Erkennen und Wiedergeben wichtiger Details an unterschiedlichen Textstellen und unter Ausgrenzung irrelevanter oder konkurrierender Informationen. Aber auch das Herstellen von Verknüpfungen und das Ziehen von Schlüssen unter Aufzeigen entsprechender Textbelege (Bos et al. 2007). Sie sind außerdem in der Lage bestimmte Textmerkmale und Textelemente zu identifizieren, strukturelle Merkmale zu nutzen und sich mit Hilfe dieser zu orientieren. Weiterhin können LeserInnen dieser Kompetenzstufe grundlegende Gedanken und den Sinn des Textes erkennen sowie Informationen (und Gedanken) über den gesamten Text verfolgen, einordnen und interpretieren (Bos et al. 2007). Die höchste Lesekompetenzstufe V verlangt das Verstehen von Informationen und Beziehungen auf abstrakter Ebene. Die Schülerinnen verfügen über die Kompetenz, Informationen aus dem Text zu verallgemeinern und eine Beziehung zu eigenen Erfahrungen und Vorwissen herzustellen. Es sollte ihnen dadurch auch möglich sein, den tieferen Sinn und Gehalt von Textaussagen zu interpretieren, Handlungsentscheidungen und Präferenzen zu begründen und aufzuzeigen, dass sie die Funktion von strukturellen Elementen verstehen (Bos et al. 2007). Als lesekompetent gelten entsprechend dieser Anforderungen Schülerinnen, die den „Texten Informationen entnehmen, sie miteinander in Beziehung setzen [...] [und] das Gelesene auch interpretieren und bewerten können" (Bartnitzky, Brügelmann, Hecker, Heinzel, Schönknecht & Speck-Hamdan. 2009, S. 460). Damit sich SchülerInnen zu kompetenten Lesern entwickeln können, müssen sie die komplexen Anforderungen, die ihnen im Laufe des Leselernprozesses gestellt werden, bewältigen. Nicht selten werden sie dabei mit unterschiedlichen Schwierigkeiten konfrontiert die es, mit der entsprechenden Unterstützung der Lehrkraft, zu überwinden gilt.
2.3 Der Leseprozess und seine Schwierigkeiten: Identifizierung von Problemen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Detailaspekte des Leseprozesses auf der Worterkennungsebene (Quelle: Schründer-Lenzen, 2006, S. 89)
Der Leseprozess ist ein sehr komplexer Vorgang, der auf verschiedenen kognitiven Leistungen beruht und in dessen Verlauf unterschiedliche Leseprobleme auftreten können. Bevor die Lehrkraft jedoch Maßnahmen zur Leseförderung ergreifen kann ist es unerlässlich auftretende Probleme zu identifizieren und zu lokalisieren, an welcher Stelle des Leseprozesses Schwierigkeiten auftreten. Aus diesem Grund soll an dieser Stelle nochmals genauer auf die Teilkomponenten des Leseprozesses eingegangen werden. Wie zuvor erwähnt, finden auf der Wortebene des Leseprozesses vornehmlich visuelle Vorgänge als Identifikationsleistungen von Buchstaben und Wörtern statt, indem der optisch wahrgenommene Buchstabe in interne phonologische Repräsentationen überführt wird (Graphem-Phonem-Zuordnung). Diese müssen dabei jeweils solange im Kurzzeitgedächtnis (KZG) verweilen, bis durch parallel ablaufende Suchprozesse im ,inneren Lexikon‘ (LZG) die Wortbedeutung entschlüsselt worden ist und das Wort „erlesen" werden kann. Um diese Leistung auf Wortebene vollziehen zu können, müssen vom Leser verschiedene Teilphasen (vgl. Abb. 1) durchlaufen werden, die sich durch entsprechendes Leseverhalten äußern (Schründer-Lenzen, 2009). Das genaue Wahrnehmen dieser Teilprozesse seitens der Lehrkraft ermöglichen das Identifizieren von auftretenden Leseschwierigkeiten und können somit Ansatzpunkte entsprechender Interventionsmaßnahmen (gezielte Leseförderung und Übung) liefern (Schründer-Lenzen, 2009). In dieser Phase des Leseprozesses kommt es zudem häufig vor, dass die Leseleistung nur über das Rekodieren, in Form bloßer Übersetzungsleistung, vollzogen wird und dabei nicht auf das Verstehen des Ausgesprochenen geachtet wird. Formal-korrektes Lesen geht in diesem Fall nicht unbedingt mit einer Sinnerfassung einher. Es sollte daher bereits von Anfang an eine Kontrolle der Sinnerfassung erfolgen (Bsp.: Fragen beantworten und in eigenen Worten wiedergeben) (Schründer-Lenzen, 2009). Auf der nächsten Stufe des Leseprozesses findet bereits das sinnerfassende Lesen (Dekodieren) statt. Um diesen Leseprozess vollziehen zu können, müssen Wörter oder auch Wortsequenzen (Silben, Morpheme, Endungen, Signalgruppen) wiedererkannt werden, indem die phonologische Repräsentation dieser Wörter/ Sequenzen in Form einer Bedeutungszuweisung (Sinneinheit) (im LZG) abgespeichert wurden. Dies geschieht durch genügend Wiederholung/Übung und das Zuweisen von Bedeutungen/Sinn. Durch genügend Leseerfahrung eignet sich der geübte Leser also einen „Sichtwortschatz“ (= inneres Lexikon) an, der es ihm ermöglicht die korrekte Wortbedeutung sowie weitere Informationen zum Wort (Aussprache oder Funktion des Wortes im Satzkontext) abzurufen. Entsprechend hängt die Effizienz des Leseprozesses auf dieser Stufe in erster Linie von einem automatisierten Zugriff auf das „innere Lexikon“ ab. Gerade für den Leseanfänger ist daher der Aufbau eines ,inneren Lexikons‘ (= Sichtwortschatz) unerlässlich (Bsp. „Häufigkeitswörter“). Die Lehrkraft sollte daher darauf achten, dass der Leser das Einzelwort bewusst wahrnimmt und dieses mit einer Bedeutung versieht, so dass es als visuell-phonologisch-semantischer Code abgespeichert werden kann und in Zukunft als mentales Schemata für einen automatisierten Zugriff zur Verfügung steht (siehe dazu auch Abb. 2) (Schründer-Lenzen, 2009). Nach dem Zwei-WegeModell des Worterkennens von Scherer-Neumann unterscheiden sich in genau diesem Punkt die geübten Leser von den Leseanfängern. Geübte Leser beschreiten über den unmittelbaren Zugriff auf das innere Lexikon (gespeicherte Information im semantischen Langzeitgedächtnis) den „direkten Weg“ des Worterkennens, während Leseanfänger noch den „indirekten Weg“ über die Phonetische Verarbeitungsstufe (Graphem-Phonem-Korrespondenz) beschreiten (vgl. dazu Abb. 2) (Schründer-Lenzen, 2006). In dieser Phase des Leseprozesses treten gerade bei leseschwächeren SchülerInnen häufiger Leseprobleme aufgrund fehlender Segmentierungsstrategien (kognitives Strategiedefizit) auf, da ihnen das Gefühl für die Wortbildungsregeln der deutschen Sprache fehlen und sie immer wiederkehrende Silben, Morpheme und Signalgruppen nicht als „Organisationsprinzip der Codierung“ erkennen (Schründer-Lenzen, 2006). An dieser Stelle soll daher nochmals betont werden, wie wichtig gerade auch für diese SchülerInnen das Erkennen bereits bekannter Wörter und daher auch der Aufbau eines „inneren Lexikons" ist. Der Aufbau eines Sicht-wortschatzes ist deshalb bereits zu Beginn des Leselernprozesses anzubahnen. Die Lehrkraft sollte jedoch bedenken, dass dies nur dann sinnvoll ist, wenn die SchülerInnen die Lesesynthese bereits vollziehen können. Um die SchülerInnen in der Anfangsphase nicht zu überfordern ist es sinnvoll erst mit einer begrenzten Anzahl von Buchstaben (und daraus kombinierten Signalgruppen, Silben und Wörtern) so lange zu üben, bis die SchülerInnen die Lesesynthese beherrschen (Schründer-Lenzen, 2006). Misserfolgserlebnisse sind an dieser Stelle, wie auch im Verlauf des gesamten Leselernprozesses zu vermeiden, da frühe Leseerfahrungen einen enormen Einfluss auf das lesebezogene Selbstkonzept, die Lesehaltung und die Lesemotivation des Leseanfängers haben und damit den weiteren „Karriereverlauf“ des Schülers als Leser oder Nicht -Leser beeinflussen kann (Rosebrock & Nix, 2011). Auf der dritten Ebene des Leseprozesses rücken nun das Verstehen von Sinnzusammenhängen auf Satz- und Textebene in den Mittelpunkt. In dieser Phase des Leseprozesses reicht die Identifikation von Wörtern nicht mehr aus. Vielmehr müssen Wortfolgen „auf der Grundlage semantischer Relationen aufeinander bezogen [...] und zu sogenannten Prädikat-Argument-Strukturen integriert werden“ (Schründer-Lenzen, 2009, S. 96). Der Leser orientiert sich bei der syntaktischen Analyse dabei nicht nur an der Abfolge der Inhaltswörter, sondern gleichzeitig auch am semantischen Kontext und unter Zuhilfenahme seines gegenstandsbezogenen Vorwissens. Das Ausnutzen des Satzkontextes hilft dem Leser Wörter bzw. Wortfolgen vorherzusagen und erhöht auf diese Weise die Leseleistung. Insbesondere bei leseschwachen SchülerInnen, die keine Textverständnisprobleme aufweisen, kann diese Strategie beim „Erlesen“ von Wörtern unterstützend wirken. Die Lehrkraft sollte daher bei der Textauswahl für leseschwächere SchülerInnen insbesondere darauf achten, dass die Texte gut verständlich (altersangemessen) sind und der Inhalt für den Einzelnen von subjektiver Bedeutung ist (inhaltsspezifisches Vorwissen, Motivation) (Schründer-Lenzen, 2006). Neben Aspekten des allgemeinen Textverständnisses, unter Einbeziehung des Kontextes und des Vorwissens, sind auf der „dritten Ebene“ noch weitere hierarchie-höhere Teilkomponenten des Leseprozesses angesetzt, die für einen handlungsorientierten Textumgang grundlegend sind und als Voraussetzung für kompetentes Lesen gelten. Dazu zählen ein Verständnis für Textstrukturen (formales, inhaltliches Segmentieren von Texten), das Interpretieren (formale, inhaltliche Textbeziehungen verstehen) und die Reflexion über den Text (Metaanalyse: nachdenken über Form, Inhalt, Absicht des Textes) (Schründer-Lenzen, 2006).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Zwei-Wege-Modell des Worterkennens (Quelle: Schründer-Lenzen 2006, S. 93)
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1 Im Verlauf dieser Arbeit werden weibliche Schülerinnen, männliche Schüler sowie diejenigen, die sich der LGBTI- Community zuordnen, in verkürzter Form ,SchülerInnen' genannt. Für andere in verkürzter Form erwähnte Begriffe soll dasselbe gelten.