Die besten Gedanken kommen nicht zwangsläufig von den bekanntesten Autoren – das ist eine literaturgeschichtliche Tatsache. Es mag also nicht weiter verwundern, dass es in dieser Arbeit um den „großen Unbekannten“ Siegmund Kleinl geht. „Großer Unbekannter“, das ist ein Ausdruck, der vor allem in der Charles Sealsfield-Forschung gebräuchlich ist. Die wahre Identität von Sealsfield war zeit seines Lebens ein Mysterium, sein kritisches Anti-Metternich-Pamphlet Austria as it is veröffentlichte er anonym. Siegmund Kleinl hingegen ist alles andere als namenlos, er ist in der burgenländischen Literaturszene eine Karyatide, aber im Vergleich zum literarischen Kanon – und damit auch im Vergleich zu den Themen, die sonst in Abschlussarbeiten behandelt werden – ist Kleinl eben ein „großer Unbekannter“.
Diese Arbeit möchte keine „Werbung“ für burgenländische Literatur betreiben, versteht sich aber sehr wohl als Beitrag zur wissenschaftlichen Erfassung der burgenländischen Gegenwartsliteratur – in der germanistischen Forschung derzeit eher noch eine Grauzone; so ist dies nicht nur die erste wissenschaftliche Annäherung an Siegmund Kleinl, sondern auch die erste an einen nach 1950 geborenen burgenländischen Autor. Im Zuge dessen möchte die Arbeit beweisen, dass auch jenseits der literarisch großen Namen hochwertige Literatur entsteht: der (universitären) Öffentlichkeit wird hier ein neuer, hochinteressanter Autor vorgestellt, sein umfangreiches Werk wird an ausgewählten Texten literaturwissenschaftlich analysiert. Die Arbeit soll zeigen, dass Siegmund Kleinl keineswegs „im luftleeren Raum“ schreibt und seine Texte nicht nur für sich selbst stehen, sondern dass sich verschiedene Bezüge zur literarischen Tradition ergeben – wenn sich Kleinl auch keiner Denkschule widerspruchsfrei zuordnen lässt.
Es wird also nicht ein einzelner Aspekt von Siegmund Kleinls Werk näher analysiert, sondern – da es ja noch keine wissenschaftliche Arbeit gibt, auf der die vorliegende aufbauen könnte – der Autor monographisch und ganzheitlich erfasst.
Inhaltsverzeichnis
1. Vorwort
2. Biographisches
2.1. Lebensgeschichte
2.2. Veröffentlichungen
3. TextKörper – Kleinls Poetik
3.1. Textanalyse
3.1.1. Das Erzählen als Gehen
3.1.2. Autonomie des Erzählens und Abkehr von Mimesis
3.1.3. Sprachliche „Entgrenzung“
3.1.4. Organisches Verständnis vom Erzählen
3.1.5. Die „Male“
3.2. Apotheose und Rehabilitierung des Erzählens
3.2.1. Topos der Scheherazade, Intertextualität und Metafiktion
3.2.2. Schreiben gegen den Tod der Literatur
3.2.3. Konkrete Einflüsse auf TextKörper
3.3. Semantische Ebene und Bedeutungsebene
3.3.1. Kleinls Stil als Resultat der Poetik
3.3.2. Kein einheitlicher Sinn, der Leser in Bewegung
3.4. Exkurs I: Kleinl und Derrida
3.5. Exkurs II: Kleinl als Rezeptionsästhet
3.6. Exkurs III: TextKörper im Spiegel der Essaytheorie
3.7. Zusammenfassung
4. Kleinls literarisches Schaffen im Kontext seiner Poetik
4.1. Tugend. Szenische Anspielungen
4.1.1. Kleinls Vorwort
4.1.2. Kleinls Nachwort
4.1.3. Textanalyse
4.1.3.1. Akt I
4.1.3.2. Akt II
4.1.3.3. Akt III
4.1.3.4. Akt IV
4.1.3.5. Akt V
4.1.3.6. Akt VI
4.1.3.7. Akt VII
4.1.4. Die Makrostruktur des Texts
4.1.5. Exkurs: Siegmund Kleinl im literarischen Feld und mit „Einflussangst“
4.1.6. Zusammenfassung
4.2. DorfMale. Ein Umsinnen
4.2.1. Kleinl über Kleinl
4.2.2. Aufbau des Texts
4.2.3. Analyse ausgewählter Kapitel
4.2.3.1. Erste Liebe. VerSuche
4.2.3.2. Schule 2. Fiktiefen. Ein Essei
4.2.3.3. Weinfest. SprachTaumel
4.2.4. Exkurs I: DorfMale und die Erzähltheorie
4.2.5. Exkurs II: Ansicht des Lektors / Lesers
4.2.6. Zusammenfassung
4.3. EineWelt. Mit Teilungen
4.3.1. Textanalyse
4.3.2. Exkurs I: Der E-Mail Roman als Weiterentwicklung des Briefromans
4.3.3. Exkurs II: Das Tagebuch des „Trebor“
4.3.4. Zusammenfassung
5. Die Welt des Siegmund Kleinl
5.1. Interview mit dem Autor
5.2. Abbildungsteil
6. Nachwort
6.1. Fazit
6.2. Forschungsperspektiven
7. Verzeichnis der zitierten Quellen
7.1. Primärtexte
7.2. Realien
7.3. Zitierte Texte
7.4. Internetquellen
7.5. Abbildungsnachweis
1. Vorwort
Die besten Gedanken kommen nicht zwangsläufig von den bekanntesten Autoren – das ist eine literaturgeschichtliche Tatsache.[1] Es mag also nicht weiter verwundern, dass es in dieser Arbeit um den „großen Unbekannten“ Siegmund Kleinl geht. „Großer Unbekannter“, das ist ein Ausdruck, der vor allem in der Charles Sealsfield-Forschung gebräuchlich ist. Die wahre Identität von Sealsfield war zeit seines Lebens ein Mysterium, sein kritisches Anti-Metternich-Pamphlet Austria as it is veröffentlichte er anonym.[2] Siegmund Kleinl hingegen ist alles andere als namenlos, er ist in der burgenländischen Literaturszene eine Karyatide, aber im Vergleich zum literarischen Kanon – und damit auch im Vergleich zu den Themen, die sonst in Abschlussarbeiten behandelt werden – ist Kleinl eben ein „großer Unbekannter“.
Diese Arbeit möchte keine „Werbung“ für burgenländische Literatur betreiben, versteht sich aber sehr wohl als Beitrag zur wissenschaftlichen Erfassung der burgenländischen Gegenwartsliteratur – in der germanistischen Forschung derzeit eher noch eine Grauzone; so ist dies nicht nur die erste wissenschaftliche Annäherung an Siegmund Kleinl, sondern auch die erste an einen nach 1950 geborenen burgenländischen Autor.[3] Im Zuge dessen möchte die Arbeit beweisen, dass auch jenseits der literarisch großen Namen hochwertige Literatur entsteht: der (universitären) Öffentlichkeit wird hier ein neuer, hochinteressanter Autor vorgestellt, sein umfangreiches Werk wird an ausgewählten Texten literaturwissenschaftlich analysiert. Die Arbeit soll zeigen, dass Siegmund Kleinl keineswegs „im luftleeren Raum“ schreibt und seine Texte nicht nur für sich selbst stehen, sondern dass sich verschiedene Bezüge zur literarischen Tradition ergeben – wenn sich Kleinl auch keiner Denkschule widerspruchsfrei zuordnen lässt.
Es wird also nicht ein einzelner Aspekt von Siegmund Kleinls Werk näher analysiert, sondern – da es ja noch keine wissenschaftliche Arbeit gibt, auf der die vorliegende aufbauen könnte – der Autor monographisch und ganzheitlich erfasst. Monographisch arbeiten heißt aber nicht, den Überblick außer Acht zu lassen, und deshalb hält sich die Arbeit an folgende Gliederung:[4]
- Kapitel 2 befasst sich mit den Veröffentlichungen und mit der Biographie Siegmund Kleinls. Seine Lebensgeschichte ist nicht nur deshalb interessant, weil sie uns den Autor näher vorstellt, sondern auch, weil alle Texte Siegmund Kleinls bis zu einem gewissen Grad autobiographisch konnotiert sind.
- Kapitel 3 erklärt, warum das so ist, und versucht noch eine Reihe anderer literaturtheoretischer Fragen an das Werk Siegmund Kleinls zu beantworten: im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht nämlich Kleinls Essay TextKörper, der als seine Poetik betrachtet werden kann. Dieser Text und die darin vorkommenden Motive werden vorgestellt und analysiert, und vor allem anhand dreier Exkurse wird der Vergleich von Kleinls theoretischen Positionen mit traditionellen Denkschulen erprobt, wie etwa der Dekonstruktion, der Rezeptionsästhetik und der Essaytheorie.
- Kapitel 4 geht in medias res und führt Kleinls Theorien über das Schreiben seinen Werken zu. Analysiert werden drei Texte von Siegmund Kleinl, nämlich der dramatische Text Tugend. Szenische Anspielungen (erschienen 1992), der Roman DorfMale. Ein Umsinnen (1998) und der E-Mail-Roman EineWelt. Mit Teilungen (2002). Die Analyse der Werke erfolgt – wie die Überschrift des Kapitels schon andeutet – immer im Kontext von Kleinls Poetik TextKörper. Dabei soll erkenntlich gemacht werden, dass gewisse Prinzipien seines Schreibens, wenn auch variiert, in allen Texten von Siegmund Kleinl wiederkehren. In Exkursen werden einige theoretische Ansätze auf die Werke angewandt, um sie zu kontextualisieren; so wird etwa DorfMale im Hinblick auf seine erzähltheoretische Beschaffenheit analysiert, und im E-Mail-Roman EineWelt werden die Elemente des klassischen Briefromans herausgearbeitet.
- Kapitel 5 ist der eher „journalistische“ Teil dieser Arbeit. Es besteht aus einem umfangreichen Interview mit Siegmund Kleinl, in dem der Autor Einblicke in sein Leben, Denken und Schreiben gewährt, und einem Abbildungsteil, der den Autor und sein künstlerisches Umfeld ad oculos führt.
- Kapitel 6 versucht, die gewonnenen Erkenntnisse zusammenzufassen und Ansätze für eine weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit Siegmund Kleinl zu liefern.
Es gibt in der Arbeit viele Querverweise, das wird vor allem im vierten Kapitel deutlich werden, das Kleinls Literatur mit seiner Poetik korrelieren lässt – vieles wird mehrmals gesagt, das mag auf den ersten Blick redundant erscheinen, ist aber gewollt und illustriert, wie vernetzt Siegmund Kleinls Werk in sich ist. Und „Netz“ oder „Gewebe“, das ist ja bekanntlich die deutsche Bedeutung des lateinischen Wortes „textus“.
2. Biographisches
2.1. Lebensgeschichte
Am Anfang steht die Biographie Siegmund Kleinls; über sein Leben gibt der Autor einerseits in seinen Texten Auskunft, die allesamt autobiographisch grundiert sind, wie aus der Analyse noch hervorgehen wird. Andererseits finden sich relativ detaillierte biographische Angaben im Typoskript zu Siegmund Kleinls Erzählung Gabriel Sigma, die Kleinl voraussichtlich 2007 veröffentlichen wird.[5] So schreibt Kleinl in diesem Typoskript:
Es war gerade Weinlese, der 26. September 1956, ein Frühherbsttag, als er, der ich bin, geboren wurde, in Schützen am Gebirge, einem Dorf im Burgenland, Sohn eines Weinbauern, der gerne Wein trinkt, aber nicht produziert. Er produziert Texte […], Preis-Gedichte, die niemanden preisen, aber mit Preisen bedacht wurden, Prosa in eigenwilliger Sprachform und Formensprache. Einmal mit dem Schreiben begonnen, schon in der Kindheit – die ersten Geschichten und Gedichte entstanden, als ich neun war – kann ich nicht mehr aufhören, muss weiter schreiben, immer neue Texte, von dem, was ist und kommen wird.[6]
Das Dorf Schützen am (Leitha-)Gebirge liegt im nördlichen Burgenland, etwa auf halber Distanz zwischen Eisenstadt und dem Neusiedler See. Als Zehnjähriger verließ Siegmund Kleinl das Dorf und ging nach Mattersburg ins Internat des humanistischen Gymnasiums Mattersburg, dann zog er nach Wien; erst nach seinem Studium kehrte Kleinl, im Alter von fast dreißig Jahren, in sein Heimatdorf Schützen zurück. Dieses neue Erfahren der Heimat als Erwachsener verarbeitete Kleinl 1998 in seinem großen Roman DorfMale. Die Preise, die Siegmund Kleinl im obigen Zitat erwähnt, sind unter anderem der Theodor Kery-Preis für Literatur und Publizistik (2003) und ein Preis beim Literaturwettbewerb „Vinum et litterae“ (2004). Weiters spricht Kleinl im Zitat seine in der Tat außergewöhnliche „Sprachform und Formensprache“ an, mit der wir uns, vor allem im nächsten Kapitel, noch näher beschäftigen wollen. Über seine ersten Lektüre-Erfahrungen schreibt Kleinl im Typoskript zu Gabriel Sigma:
In meinem Elternhaus gab es keine Bibliothek, nicht einmal ein Buch, doch, eines, es hieß „Siegmund und Margareth“ und war, glaube ich, die Geschichte einer großen Lebensliebe. Ich habe es nie gelesen, weil ich schon früh, sobald ich lesen konnte, andere Bücher bekam: „Die Sternenmühle“ von Christine Busta, die Märchen der Brüder Grimm, Volkssagen, die Volksbücher von Till Eulenspiegel und den Schildbürgern, über die ich in den Literaturstunden der 7. Klasse meiner Schule unlängst erst gesprochen habe.[7]
Siegmund Kleinl kommt hier auf seinen Lehrberuf zu sprechen; nachdem er 1975 in Mattersburg maturiert hatte, studierte er in Wien Germanistik und Theologie. Während seiner Schul- und Studienzeit erwarb Kleinl profunde Kenntnisse in Latein, Altgriechisch und Hebräisch – diese Kenntnisse äußern sich in vielen seiner Texte, beispielsweise durch Wortspiele oder Mehrdeutigkeiten auf etymologischer Ebene. Siegmund Kleinls Lehrberuf spielt auch in seiner Literatur eine Rolle, die Schule ist ein Topos, der in zahlreichen Texten vorkommt, und auch die Figur des Schülers oder der Schülerin begegnet dem Leser häufig.[8] Siegmund Kleinl unterrichtet Deutsch und Religion am Gymnasium der Diözese in Eisenstadt und Literaturwissenschaft an der Pädagogischen Akademie Burgenland.
1991 begann ein künstlerisch wichtiger Abschnitt in Siegmund Kleinls Leben: gemeinsam mit dem bildenden Künstler und Zeichenlehrer Johannes Haider, den Kleinl an seiner Schule kennen lernte, wurde der Kunst- und Literaturverlag NN-fabrik gegründet (NN = „nomen nescio“, also „ich kenne den Namen nicht“; mittlerweile trägt der Verlag den Untertitel art.diktyon, also etwa „Kunst.Netz“).[9] Die NN-fabrik knüpfte in den 90er Jahren Kontakte zu Künstlern aus ganz Europa, darunter waren sowohl bildende Künstler (beispielsweise der Deutsche Thomas Baumgärtel, bekannt als „Bananensprayer“), als auch Aktionisten (etwa der Slowake Pavel Schmidt, der im Rahmen von Happenings Skulpturen sprengt und aus den Trümmern neue Bauwerke schafft), und in literarischer Hinsicht vor allem avantgardistische Autoren aus Berlin (zum Beispiel Ulrich Schlotmann und ralf b. korte). Aus dieser so genannten „Achse NN-Berlin“ ging die fünfbändige Anthologie o.T. hervor, die von Kleinl mitherausgegeben wurde und ab 1995 im Verlag NN-fabrik erschien. o.T. enthält experimentelle, deutschsprachige Gegenwartsprosa, und Siegmund Kleinl ist in allen 5 Bänden mit Texten vertreten. Für die vorliegende Arbeit ist vor allem Kleinls Essay TextKörper im ersten Band der Anthologie unerlässlich – dieser Text ist nämlich ein „literarisches Glaubensbekenntnis“ Kleinls und kann als seine Poetik gesehen werden. TextKörper gelangt im nächsten Kapitel zur Analyse.
Auch für Kleinls Selbstdefinition als Schriftsteller war die Gründung der NN-fabrik relevant – Kleinl trat mit anderen Künstlern in Kontakt und hatte durch den Verlag NN-fabrik die Möglichkeit, eigene Texte selbstständig zu veröffentlichen. Diese Erfahrungen schildert Kleinl im dramatischen Text Tugend. Szenische Anspielungen, der 1992 im Verlag NN-fabrik erschien und in Kapitel 4.1. dieser Arbeit näher behandelt wird. Für die NN-fabrik arbeitet Siegmund Kleinl nicht nur als Autor, sondern auch als Lektor und ist verantwortlich für die Sparte Literatur. Darüber hinaus fertigt Kleinl seit 1997 selbst druckgraphische Arbeiten an (vor allem Radierungen); mit dem Standortwechsel der NN-fabrik von Siegendorf nach Oslip im Jahr 2000 intensivierte Kleinl seine Produktion im Bereich der bildenden Kunst. Er hat seither an mehreren Gruppenausstellungen teilgenommen, hatte aber auch schon Einzelausstellungen. Kleinls graphische Arbeiten entstehen, wie es auf der NN-Homepage heißt, „im Schnittpunkt von Literatur und Kunst“, und in der Tat weisen seine graphischen Blätter stets schriftliche beziehungsweise handschriftliche Elemente auf.[10]
Die Überschneidung von Literatur und bildender Kunst praktizierte Kleinl auch in seinem letzten Projekt: der burgenländische Künstler Wolfgang Horwath schuf Radierungen zu Kleinls Gedichtband Male. Poetische Tastatouren, die – gemeinsam mit Kleinls Textgrundlage – in Sonderexemplaren im Verlag NN-fabrik veröffentlicht wurden. Kleinl schrieb wiederum Gedichte zu Horwaths Radierungen; diese Gedichte sind in Kleinls essayistischer Horwath-Biographie Skripturen des Unbequemen. Der Künstler Wolfgang Horwath enthalten, die anlässlich der Finissage von Horwaths Ausstellung Hommage an das Unbequeme am 28. August 2006 in der Burgenländischen Landesgalerie in Eisenstadt präsentiert wurde.
Siegmund Kleinl lebt nach wie vor in Schützen am Gebirge; über das Leben im Kreise seiner Familie schreibt Kleinl im Typoskript zu Gabriel Sigma:
Die kindliche Vorstellung von der Welt in den Bilderbüchern, die ersten Weltbilder im Kindergarten vor Augen, schaue ich von meiner Bibliothek hinunter in den Garten unseres Hauses, in dem ich seit 25 Jahren mit meiner Frau Maria Theresia lebe. Mittlerweile wohne ich mit drei Frauen in diesem Haus, am Wochenende, wenn meine Töchter Elisabeth und Marlene von ihrem Studium in Wien nach Hause kommen.[11]
2.2. Veröffentlichungen
Folgende Einzelveröffentlichungen liegen bislang von Siegmund Kleinl vor:
- Tugend. Szenische Anspielungen (Verlag NN-fabrik, 1992)
- Märchenbuch Güssing (Verlag Roetzer, 1994)
- DorfMale. Ein Umsinnen (Verlag NN-fabrik, 1998)
- EineWelt. MitTeilungen (Verlag Südwind, 2002)
- Male. Poetische Tastatouren (Verlag NN-fabrik, 2003)
- Skripturen des Unbequemen. Der Künstler Wolfgang Horwath (Verlag lex liszt, 2006)
In der Anthologie o.T. (1995-1998) des Verlages NN-fabrik veröffentlichte Kleinl die Texte TextKörper. Erzählen über Erzählen (Band 1), Wort Kunst Elge (Band 2), Duall (Band 3), Im Dorf am Ball (Band 4) und Dorfstich (Band 5); die letzten beiden Texte sind aus DorfMale entnommen. Außerdem schrieb Siegmund Kleinl in den 90er Jahren mehrere Texte für die Reihe Kunstblatt der NN-fabrik, darunter die autobiographisch konnotierte Erzählung Sigma (1993).
Weiters publizierte Kleinl zahlreiche Prosatexte, Gedichte und Essays in Zeitschriften, etwa in der burgenländischen Literaturzeitschrift wortmühle (Edition Roetzer), in der Anthologie Der dritte Konjunktiv (Haymon-Verlag) und in den Kunstmagazinen Pannonia, Parnass, Nike und Grapheion.[12]
3. TextKörper – Kleinls Poetik
Siegmund Kleinls Poetik und damit der zentrale Text für diese Arbeit ist der Essay TextKörper. Erzählen über Erzählen (1995). Diesen Essay genau zu analysieren, ist vor allem deshalb unerlässlich, weil Kleinls andere Publikationen in unterschiedlichen Weisen auf TextKörper aufbauen und vor dem Hintergrund des Texts daher besser verständlich werden. TextKörper wurde nicht für sich allein veröffentlicht, sondern ist quasi das Vorwort zur fünfbändigen Anthologie o.T., die von 1995 bis 1998 im Verlag NN-fabrik herausgegeben wurde; o.T. steht hauptsächlich für „offensive Texte – operative Texte – okulare Texte“ – dadurch lässt sich bereits die avantgardistische Tendenz der enthaltenen Publikationen erahnen.[13] Siegmund Kleinl ist einer der Herausgeber dieser Anthologie, die Texte darin stammen unter anderem von den deutschen Avantgardisten ralf b. korte und Ulrich Schlotmann sowie den österreichischen Autoren Friedrich Hahn und Ferdinand Schmatz. Auch Franzobel hat einen Text zu o.T. beigesteuert, der 1995 im ersten Band der Anthologie erschien – im selben Jahr wurde Franzobel mit dem Ingeborg Bachmann-Preis ausgezeichnet.
Die im Essay TextKörper enthaltenen Thesen hat Kleinl in Grundzügen bereits während des Entstehens seiner ersten Veröffentlichung, Tugend. Szenische Anspielungen (1992), entwickelt. Im Essay gibt Kleinl gleichermaßen ein literarisches Glaubensbekenntnis ab und entwickelt eigene Begrifflichkeiten, Termini und Topoi seines Schreibens. Diese kehren, wie erkennbar werden wird, in all seinen Werken wieder – wenn auch in unterschiedlichen Formen. TextKörper ist demnach alles andere als ein simples Regelwerk, in dem der Autor Gesetzmäßigkeiten seines Schreibens reflektiert. Es ist vielmehr, und das wird wohl schon anhand der Analyse bald klar werden, ein komplexer, eigenständiger literarischer Text. An vielen Stellen seiner Poetik bezieht sich Kleinl intertextuell auf andere Autoren, Theorien oder Denkschulen und reiht sich damit – teils kritisch, teils affirmativ – in die literaturtheoretische Tradition ein. Um den Fluss der Argumentation und die Sinneinheit nicht zu unterbrechen, ziehe ich es vor, diese Querverweise nicht in einem gesonderten Kapitel zu einem späteren Zeitpunkt aufzuzeigen, sondern direkt an den betreffenden Stellen des Textes darauf hinzuweisen. An manchen Stellen von TextKörper gibt es zwar einen Ich-Erzähler, dieser ist jedoch nicht unbedingt mit der Person Siegmund Kleinl gleichzusetzen.
Kleinls Poetik ist nämlich vor allem eines: Eine Apotheose des Erzählens. Das Erzählen ist die „Hauptfigur“ des Texts, es erscheint in TextKörper als zentrale Bestimmung des Dichters, als glücklich machender (bei Kleinl: „chairotischer“) Lebensinhalt, ja sogar als omnipräsenter Kosmos, der menschliche Züge annehmen kann. Das wird auch im Titel des Essays angedeutet; der „Textkörper“ ist hier nicht nur die Textgestalt auf dem Papier, sondern eben das von Kleinl körperlich und anthropomorph dargestellte Erzählen. Mit welchen Stilmitteln Siegmund Kleinl diese ungewöhnliche Auffassung zu Papier bringt, auf welchen Denktraditionen sie aufbaut und welche Auswirkungen Kleinls poetisches Konzept auf seine Literatur hat, das soll im Folgenden zu erklären versucht werden. Außerdem wollen wir der Frage nachgehen, in welchen literaturtheoretischen Kontext Siegmund Kleinl anhand seiner Poetik eingeordnet werden kann – beziehungsweise ob eine solche Einordnung Kleinls widerspruchsfrei möglich ist.
3.1. Textanalyse
3.1.1. Das Erzählen als Gehen
Bereits der Untertitel des Essays ist doppeldeutig: so bedeutet Erzählen über Erzählen einerseits eine erläuternde Meta-Erzählung, andererseits kann die Präposition „über“ eine Anhäufung des Erzählens meinen und damit zum Ausdruck bringen, dass der Autor gar nicht anders über das Erzählen sprechen kann als eben erzählend.
Diese Theorie wird im Folgenden untermauert; bereits im ersten Satz von TextKörper schreibt Kleinl: „Ein Wort, das zählt, ist ein Wort, das erzählt.“[14] Ein solches erzählendes Wort, so Kleinl, ist „gehen“. Durch das Gehen, glaubt Kleinl, wachse dem Körper eine Kraft zu, „die dann am Ende eines Weges als ergangene Energie auf einen Menschen übergehen und ihn retten kann.“[15] In diesem Zusammenhang nennt Kleinl „große Geher“ aus der Vergangenheit, wie etwa Johann Gottfried Seume, der von 1801 an mehrere lange Fußreisen in weite Teile Europas unternahm; am berühmtesten ist sein literarisch verewigter Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, der von Kleinl erwähnt wird. Weiters führt Kleinl Hölderlin an, der über die Auvergne nach Bordeaux wanderte. Die Wahl dieser Beispiele geht über das bloße Nennen von „literarischen Vorbildern“ hinaus, da beide Dichter (Hölderlin im Besonderen) eher singuläre Figuren sind und sich keiner Epoche eindeutig zuordnen lassen. Kleinl suggeriert dadurch eine eigene, ähnlich singuläre Position (quasi als Schlusspunkt setzt Kleinl am Ende von TextKörper noch eine weitere Hölderlin-Anspielung ein und spannt damit einen Bogen zum Beginn[16] ). Außerdem wird durch das Erwähnen der Dichter im Zusammenhang mit dem Gehen der Konnex zwischen Gehen und Schreiben angedeutet, und das Bild des Gehens wird zur Metapher: das Gehen verlagert sich von der Realität auf die Literatur.
Dieser Konnex wird gleich darauf manifest, wenn es heißt: „Ein solches Gehen ist das Erzählen.“[17] Hier zeigt sich also, dass Kleinl das Gehen nicht als peripatetische Gedankenentwicklung versteht, nicht als nachdenkliches Umherwandeln, während dessen der Autor sich eine Geschichte überlegt. Vielmehr werden hier Erzählen und Gehen gleichgeschaltet – wer erzählt, der geht. Das Erzählen selbst nimmt also in Form einer Allegorie menschliche Züge an, es vermag zu gehen; die Metaphorik wird im Verlauf des Essays fortgesetzt, es heißt etwa „Das Erzählen macht die Augen auf“, und Kleinl spricht von einem „Erzählleib“.[18] Diese Prosopopoiia beziehungsweise dieses Anthropomorphisieren von Literatur und literarischen Formen ist ein Topos, der uns im Werk Siegmund Kleinls noch öfter begegnen wird; im Folgenden wollen wir diese Denkfigur näher betrachten.
3.1.2. Autonomie des Erzählens und Abkehr von Mimesis
Die metaphysische und eigendynamische Komponente, die das Erzählen durch Siegmund Kleinls Begrifflichkeit erhält, wird im Folgenden noch verstärkt:
Erzählen ist ein Vorangehen, das nichts hinterläßt, weil es mitträgt, was zurückbleibt. Im Erzählen hat alles sein Dasein: Das Vergangene, selbst das Abgelebte, wie das Kommende.[19]
Was an allen Tagen des Lebens passieren kann, vollzieht sich im Erzählen an einem Tag, der diesen einen und alle Tage aufhebt.[20]
Damit erhält das Erzählen in Kleinls Auffassung neben einer allegorischen Komponente eine intuitive Gleichzeitigkeit, die sich nicht an fixe Aufbauregeln hält. Kleinl untermauert dies später, indem er sagt, das Erzählen „reißt Löcher in die Kontinuität einer Lebensgeschichte“.[21] In diesem Punkt nähert sich Kleinl einem Phänomen an, das in der Weltliteratur unter verschiedenen Namen bei verschiedenen Schriftstellern Schule gemacht hat; diese Erzähltechnik, die keine zeitlichen und räumlichen Begrenzungen kennt, heißt bei James Joyce „epiphany“, bei Marcel Proust sprach Henri-Louis Bergson von „mémoire involontaire“, und auch in Österreich gibt es ein Beispiel für diesen Erzählstil, der sich analytisch gar nicht eindeutig definieren lässt: das „Fluidum“ des Andreas Okopenko. Dieses Fluidum lässt sich ungefähr als ein totaler Aufnahmemodus der Umwelt beschreiben, der über die fünf menschlichen Sinne hinausgeht – quasi ein dichterischer „sechster Sinn“ für das unmittelbare Wahrnehmen von Existenz und das Umsetzen dieser Wahrnehmung in der Literatur. Zeitliche Grenzen sind dabei aufgehoben.[22] Wenn man diese Definition von Okopenkos Fluidum mit dem obigen Kleinl-Zitat vergleicht, so kann man durchaus Parallelen entdecken – auch Kleinl versucht durch die Verschachtelung der verschiedenen Zeitebenen eine Totalwahrnehmung beziehungsweise Totaldarstellung der Realität zu erreichen.
Kleinls Bild von den Löchern in der Kontinuität einer Lebensgeschichte ist aber auch das, was die Theorie der Postmoderne nach Lyotard im Kern besagt, dass nämlich die „große“, zusammenhängende Erzählung, nicht mehr existiert:
Die narrative Funktion verliert ihre Funktoren, den großen Heroen, die großen Gefahren, die großen Irrfahrten und das große Ziel. Sie zerstreut sich in Wolken […] Jeder von uns lebt an Punkten, wo viele von ihnen einander kreuzen. Wir bilden keine sprachlich notwendigerweise stabile [sic!] Kombinationen.[23]
In den nächsten Kapiteln wird erkennbar werden, dass Kleinl noch andere Elemente der Postmoderne aufgreift.
Kleinl wendet sich zudem gegen die Vorstellung, dass Literatur simple „Mimesis“, also Nachahmung sei; die „mimetische Durchgestikulierung“ eines Textes hält Kleinl für „eine Schwäre am Fuß“ des Erzählens (erneut ein allegorischer Ausdruck). Konkret spricht sich Kleinl hier gegen den Naturalismus aus, den er als „Verformung der Erzählnatur“ bezeichnet.[24] Hier ist die Theorie des deutschen Naturalismus (aber auch des Positivismus von Auguste Comte) gemeint, die ja besagt, dass Mensch und Gesellschaft ausschließlich in ihrer Natürlichkeit und unter Verzicht auf jegliche metaphysische Erklärung dargestellt werden müssten. Das höchste Ideal des Naturalismus ist somit die Mimesis, was in nuce in der Formel „Kunst = Natur – x“ von Arno Holz und Johannes Schlaf zum Ausdruck kam.[25] Eben solche strengen formalen Konzeptionen möchte Kleinl in seiner Poetik hinter sich lassen.
3.1.3. Sprachliche „Entgrenzung“
Diese Abkehr greift im Folgenden auch auf den sprachphilosophischen Bereich über. Kleinl stellt sich die Frage, ob es denn überhaupt Grenzen des Erzählens gebe. Er kommt zu dem Schluss, das Erzählen sei „begrenzt nur von den imaginären Grenzen der Sprache, die nicht ident sind mit denen der Welt, ein permanentes Entgrenzungsverfahren […]“[26] Dies bedeutet, dass nichts als die eigene Vorstellungskraft das Erzählen begrenzen kann, was eine deutliche Abwendung von Wittgenstein darstellt; in dessen Tractatus logico-philosophicus heißt es ja:
5.6 Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt
5.61 […] Was wir nicht denken können, das können wir nicht denken; wir können also auch
nicht sagen, was wir nicht denken können.[27]
Wo bei Wittgenstein die Welt endet, da beginnt sie bei Kleinl erst: das Erzählen ist ein „Gehen durch die Welt, die auf diesem Wege [also durch das Erzählen] erst erschaffen wird.“[28] Wieder bringt Kleinl hier Erzählen und Gehen in Verbindung.
Was Siegmund Kleinl also anstrebt, ist eine Autonomie des Erzählens, unabhängig von mimetischen, formalen und philosophischen Begrenzungsabsichten. Die Dimension dieses von ihm konzipierten Erzählens bringt er folgendermaßen auf den Punkt:
Jedes Ereignis, ob schon geschehen oder noch nicht oder gar nie geschehend, ereignet sich ganz erst im Erzählen.[29]
Im Sinne von Paul Feyerabend könnte man diese „anarchistische“ Autonomie des Erzählens durchaus als „Anything goes“ bezeichnen – immerhin erachtet Feyerabend solche bewussten „Regelverletzungen“ (wie bei Kleinl eben das Ausblenden von mimetischen und sprachphilosophischen Grenzen) als für den Fortschritt notwendig.[30]
3.1.4. Organisches Verständnis vom Erzählen
Wie bereits mehrfach angedeutet, beschreibt Kleinl das Erzählen und alles, was damit zusammenhängt, mit einer anthropomorphen, organischen Metaphorik. So leitet sich etwa der Titel des Essays, TextKörper, aus einer solchen organischen Betrachtungsweise ab: Im Vorgang des Erzählens bildet sich laut Kleinl eine Textzelle, in der der Autor zunächst eingeschlossen ist. Mit dem Fortgang und Anwachsen des Erzählens weitet sich die Textzelle aber aus und wird eben zum Textkörper.[31] Kleinl beschreibt dies geradezu biologisch:
Textkörper gehen aus Zellteilungen und Zellfusionen hervor. Eine einmal geschaffene Textzelle beginnt virtuell ein Eigenleben, die vorhandene Struktur generiert sich nach ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit weiter.[32]
Außerdem verleiht Kleinl dem Erzählen „Lippen und Zunge“, es begibt sich in einen „Liebesakt“ mit dem Erzählen (die Sprache bezeichnet Kleinl dabei als „Frau“) und letztlich erzählt das Erzählen sogar allegorisch selbst.[33] Auf diese Denkfiguren rekurrieren viele von Kleinls Texten; gelegentlich wird die an sich als angenehm dargestellte Wachstumsmetaphorik situationsbedingt auch ins Gegenteil verkehrt – der Textkörper wird dann zum Krebsgeschwür, wie etwa in Kleinls erster Veröffentlichung Tugend. Diese Bildsprache ist eigentlich eine romantische: In der ästhetischen Theorie der Romantik entstand ja ebenfalls eine eher metaphysische Auffassung von sprachlichen Bildern. In vielen Metaphern orteten die Romantiker Beseelungen und das Wirken des Schellingschen bzw. Hegelschen „Weltgeistes“.[34] Rein auf die Sprache bezogen sind hier vor allem die Brüder Schlegel zu nennen, die ein sprachliches Organismuskonzept geschaffen haben. So sprachen die Schlegels von organischen Lauten, die eine Individualität besitzen, von „animalischen“ und „orgiastischen“ Silben, von einem sprachlichen „Geschlecht“ und „Wesen“ oder vom „Sprachgeist“[35] – organische Metaphern, die Kleinls Termini von „Textkörpern“, „Textzellen“ oder dem „Erzählleib“ nicht unähnlich sind.
Kleinl als Romantiker im literaturgeschichtlichen Sinn zu bezeichnen, wäre wohl überzogen, aber gewisse Parallelen lassen sich erkennen. So scheinen etwa die romantischen Konzepte vom Organismus der Sprache, von der Vermischung der Gattungen und vom Streben nach dem „Unendlichen“ mit Kleinls Auffassung vom allegorischen Textkörper und dem „vermenschlichten“ Erzählen in gewisser Weise zu korrelieren:[36] in TextKörper spricht Kleinl sogar über das Erzählen als „verläßlichere Wirklichkeit […] die eine Anziehungskraft hat wie das Unbekannte, Fremde, die unerfüllbare Herzensunruhe, die jeden Menschen durchzieht.“[37] Noch etwas spricht für eine gewisse Nähe Siegmund Kleinls zur romantischen Geisteshaltung: wir erinnern uns, dass Kleinl im Typoskript zu seiner Erzählung Gabriel Sigma die Märchen der Gebrüder Grimm als eine seiner ersten prägenden Lese-Erfahrungen angibt.[38]
3.1.5. Die „Male“
Dazu passt ein weiterer wichtiger und sehr komplexer Terminus Kleinls: der Begriff der „Male“, der sich (wie der des „Textkörpers“) ebenfalls aus Kleinls organischer Erzähltheorie ableitet. Das Mal wird in TextKörper folgendermaßen beschrieben: „Das Wort erzeugt im Leib des Dichters den Text, der dann auch seine Male trägt.“[39] Hier erscheint das Erzählen also nicht nur als selbstständiges Wesen, sondern als vom Autor beeinflusst und Spuren des Autors tragend. In Kleinls bislang letzter Veröffentlichung, der biografischen Essay-Erzählung Skripturen des Unbequemen (2006) über den burgenländischen Maler Wolfgang Horwath, schreibt Kleinl über die „Male“:
„Male“ klingt zunächst wie der Imperativ zu „malen“. Das Mal, etymologisch verwandt mit „Mahl“, einem kulturgeschichtlich bedeutsamen Begriff, bedeutet „Wunde“ (Wundmal). Male spielt an auf die vielen kleinen und großen Verletzungen, die einem Menschen im Leben zugefügt werden, in den alltäglichen Erfahrungen, bei der Arbeit, in der Liebe […], in den Begegnungen mit der Welt. Male meint aber auch die Zeichen und Symbole (Denkmal), die unser Leben prägen und oft unbewusst in uns zur Wirkung kommen.[40]
Das „Mal“ stellt also einen Bezug zwischen Literatur und Leben her. Die Erfahrungen und Verletzungen, die Kleinl erwähnt, werden literarisch verarbeitet. So lässt es sich auch erklären, dass alle Texte Kleinls bis zu einem gewissen Grad autobiographisch grundiert sind – Kleinls Lebensgeschichte ist stets präsent, es kommen etwa Erfahrungen mit Schülern vor (z.B. in Tugend), in DorfMale werden Erlebnisse aus dem Dorfleben verfremdet wiedergegeben etc. In dieser Bedeutung ist das „Mal“ also das Spezifische eines Autors und seiner Lebensgeschichte, wie es im fertigen Text vorkommt.
Die zweite Dimension des Begriffes „Mal“ geht ebenfalls aus dem obigen Zitat hervor. Es ist dies eine eher bildhafte Komponente, ausgedrückt durch den Vergleich von „Male“ mit „malen“ und das „Denkmal“ als Symbol. Diese Auslegung bezieht sich nicht auf den (auto-)biographischen Hintergrund von Literatur, sondern auf die Literatur selbst: der Text handelt also nicht nur von „Malen“, sondern ist selbst ein „Mal“, das der Künstler errichtet. Kleinl illustriert diese Bildlichkeit des Begriffes „Mal“ an einer Stelle von TextKörper, an der er metafiktional den eigenen Schreibprozess und die Bewegung des Bleistiftes thematisiert: „Der Bleistift spitzt sich zur Kaltnadel zu, das Papier erhärtet sich zur Kupferplatte. […] Ich schreibe, wie die Sehweise der Hand nadelscharf ins Kupfer dringt.“[41] In einer Metonymie macht Kleinl den Bleistift zur Kaltnadel, überquert die Grenze zwischen Schrift und Wirklichkeit und wendet damit das weiter oben beschriebene Prinzip der sprachlichen „Entgrenzung“ an.
Das „Mal“ ist bei Siegmund Kleinl also eine Art Schnittstelle zwischen Autor und Text: einerseits das Spezifische des Autors, wie es im Text vorkommt (autobiographischer Hintergrund: die Aufarbeitung der erfahrenen „Male“), andererseits der Text selbst als Kunstwerk und bildhaftes „Mal“.
Dazu ein kurzer Exkurs: Kulturhistorisch interessant kann im Zusammenhang mit Kleinls Malen der Begriff des „Memorialzeichens“ sein: In der Antike und im Mittelalter waren gewisse Symbole mit Vorstellungen konnotiert, so stand etwa die Arkade für Triumph und Feierlichkeit – daraus ging der Triumphbogen hervor.[42] Vor diesem Hintergrund könnte man auch Kleinls Denkfigur des Mals betrachten, als das Subjektive des Autors, mit dem dessen Erfahrung und Biographie verbunden ist und das dann auch dessen künstlerisches Resultat ziert – aber nicht sublim und nur zwischen den Zeilen lesbar, sondern als bewusstes und weithin sichtbares „Mal“.
Über die religiöse Komponente des Begriffes Mal (vgl. „Wundmal“ und „Abendmahl“) spricht Siegmund Kleinl im Interview in Kapitel 5.1.
3.2. Apotheose und Rehabilitierung des Erzählens
3.2.1. Topos der Scheherazade, Intertextualität und Metafiktion
Wie bereits zu Eingang dieses Kapitels erwähnt, ist der „Protagonist“ von TextKörper das Erzählen. Eine solche fast mystisch verklärte Vorrangstellung des Erzählens ist in der neueren und neuesten Literatur relativ selten und bedarf daher einer genaueren Untersuchung. Neben der oben beschriebenen anthropomorphen Darstellung vertritt Siegmund Kleinl an mehreren Stellen des Essays die Anschauung vom Erzählen als Rettung vor dem Tod. Diese bringt er in einem zentralen Topos auf den Punkt, nämlich im Bild von Scheherazade, der Erzählerin aus Tausendundeine Nacht, die um ihr Leben erzählt, um König Scharyar davon abzuhalten, sie zu töten. So übernimmt in TextKörper das Erzählen allegorisch die Rolle von Scheherazade:
Der Tod […] lebt sich aus mir heraus, sobald die Sprache einsetzt, die sich nicht scheut, vom Tod zu erzählen. Gegen ihn. Das Erzählen ist ein vertrauter Feind des Todes. Es entzieht ihm die Lebenskraft. Tausend Nächte hindurch und eine.[43]
Es gibt einen Autor der Postmoderne, bei dem die Figur der Scheherazade ebenfalls eine bedeutende erzähltheoretische Rolle spielt: beim amerikanischen Romancier und Novellisten John Barth. Scheherazade kommt bei Barth in mehreren Werken vor, am deutlichsten wird das in den Kurzgeschichtensammlungen The book of ten nights and a night und Once upon a time.
In beiden Texten wird der Erzähl- bzw. der orale Charakter schon im Titel angesprochen, vor allem Ten nights and a night stellt gleich zu Beginn der Rahmenhandlung einen Konnex zu Scheherazade und der klassischen Antike her: Es gibt ein Proömium, in dem der Erzähler, der sich unter anderem mit Orpheus und Dante vergleicht, eine Muse anruft (ihr Name ist „Wysiwyg“ – ein Akronym für „What you see is what you get“). Daraufhin beginnt er seine Geschichte und erzählt 11 Nächte hindurch – es sind dies die 11 Nächte nach dem 11. September 2001.[44] Barth beschreibt also eine Welt voll Leid, Zerstörung und Hoffnungslosigkeit und setzt dieser das erlösende Erzählen (mit einer klassischen, antik verklärten Erzählhaltung) entgegen; die Parallele zu Kleinl wird unübersehbar, wenn man vom obigen Zitat ausgeht.
Auch in Barths Werk Once upon a time nehmen Erzählen und die Figur der Scheherazade eine wesentliche Stellung ein: Der Erzähler unternimmt gemeinsam mit seiner Frau eine Seefahrt und erzählt ihr Geschichten aus seinem Leben. Schon im Vorwort sagt er: „Every life has a Scheherazadesworth of stories.“[45]
Die Verbindung zwischen John Barth und Siegmund Kleinl besteht vorderhand im Topos der Scheherazade und in der Akzentuierung des Erzählens, zum Teil gegen den Tod oder gegen die Unzulänglichkeit der Welt; beide Autoren wollen durch diese Akzentuierung beweisen, dass Erzählen in einer (post-)modernen Welt noch möglich ist. Beide Autoren schmücken ihr Erzählen bewusst mit „antikisierenden“ Elementen aus: Während Barth in seinen Texten Orpheus, Dante, Vergil und die Musen erscheinen lässt, bezieht sich Kleinl wie eingangs erwähnt etwa auf Hölderlin, Seume und (sprachlich) auf die Romantik – an einer anderen Stelle von TextKörper unterrichtet der Ich-Erzähler seine Schüler (autobiographische Konnotation, wie im Kapitel über die „Male“ erwähnt) über Bearbeitungen des Faust-Stoffes bei Goethe, Gustav Schwab und Thomas Mann.[46] Generell wird Intertextualität von Kleinl bewusst als poetisches Prinzip eingesetzt, und über das Verhältnis zu literarischen Vorgängern heißt es in der Poetik: „Also nicht über Texte schreiben, sondern sich ihnen einschreiben, so daß sie, selbst anderen Texten eingeschrieben, einen neuen hervorbringen.“[47] Anspielungen auf (traditionelle) Literatur finden sich daher nicht nur in TextKörper, sondern in nahezu allen Kleinl-Texten, wie wir vor allem im Kapitel über Tugend sehen werden. Intertextualität ist generell ein probates Element postmoderner Literatur, weil durch das Einfügen von Bezügen auf andere Texte mehrere Diskurssysteme nebeneinander stehen und eine „Polyphonie“ des Texts erzeugen.[48]
Was Kleinl und Barth verbindet, ist darüber hinaus auch der Einsatz von metafiktionalen bzw. selbstreflexiven Elementen, ein klassisches Merkmal postmoderner Literatur[49]. Bei Barth sind dies vor allem kommentierende Einschaltungen des Erzählers, das Einfügen von Bildern oder Noten und merkwürdige Kompositionsprinzipien: so ist etwa Once upon a time in Form einer Oper aufgebaut. Metafiktionale Elemente in Kleinls TextKörper sind vor allem die selbstreflexive Thematisierung des Schreibprozesses und damit einhergehend die bereits weiter oben erwähnte Beschreibung der Bleistiftbewegungen. Im zweiten Teil des Essays beschreibt Kleinl sogar, wie sich aus literarischen Grundideen während des Schreibens die „Textkörper“ entwickeln, lässt also das zuvor in der Theorie beschriebene allegorische Erzählen konkret werken. Einer dieser entstehenden Textkörper ist (in Grundzügen) das erste Kapitel aus Kleinls Roman DorfMale, der drei Jahre später erscheint[50] ; auf diese Korrelation wird zu einem späteren Zeitpunkt noch näher eingegangen werden.
Außerdem fügt Kleinl an einer Stelle von TextKörper Auszüge aus einem Zeitungsartikel ein, den er gerade liest – er nennt dies die „verlassene Zeit“, die ihm beim Schreiben in die Quere kommt und ins Erzählen eingewoben wird.[51] Das Einfügen von Zeitungsartikeln oder anderen außerliterarischen Quellen ist ein häufig verwandtes metafiktionales Stilmittel, und auch Siegmund Kleinl benutzt es in mehreren Texten, unter anderem in EineWelt. Mit Teilungen (2002). Weitere metafiktionale Elemente in TextKörper: Der Text tritt als Person auf und spricht den Leser direkt an,[52] und der Autor erscheint plötzlich als Leser seines eigenen Texts[53]. In einer ähnlichen Form kennt man solche Stilmittel beispielsweise auch aus James Joyces Ulysses. Dort wendet sich gegen Ende des Buches die literarische Figur Molly Bloom an den Autor Joyce.[54]
3.2.2. Schreiben gegen den Tod der Literatur
Wer wie Siegmund Kleinl von einem höchst lebendigen Erzählen ausgeht, der muss auch jene Traditionen berücksichtigen, die das Erzählen schon tot sahen. In TextKörper schreibt Kleinl:
Einmal, da hat man das Erzählen schon endgültig totgesagt. Weil man in ihm keine Wirkkraft mehr sah. Da hat es sich in den Totsagern zur Wirkung gebracht.[55]
Damit spannt Kleinl den Bogen zum im vorigen Kapitel erläuterten Scheherazade-Bild, zur Vorstellung, dass das Erzählen den Tod überwinden kann; deshalb kann man das Erzählen zwar totsagen, weil aber das Sagen vom Tod auch schon eine Erzählung ist, überlebt es laut Kleinl. Konkret spielt er im obigen Zitat auf Hans Magnus Enzensberger an, der 1968 im Kursbuch das „Sterbeglöcklein für die Literatur“ läuten ließ.[56] Enzensbergers Argumente ergeben sich allerdings nicht aus der Literaturtheorie, sondern aus sozialen Gegebenheiten: So beklagt Enzensberger die „Gesetze des Marktes“, die sich die Literatur unterworfen haben, die Medien, die das Bewusstsein der Menschen manipulieren und die politische Harmlosigkeit neuer Literatur.[57]
Eine ähnliche Position wurde bereits 1952 von Ilse Aichinger vertreten, allerdings nicht in Bezug auf die gesamte Literatur, sondern auf das Erzählen im Besonderen. In der Vorrede zu ihrem Erzählband mit dem bezeichnenden Titel Rede unter dem Galgen schreibt Aichinger:
So liegt auch heute für den Erzählenden die Gefahr nicht mehr darin, weitschweifig zu werden, sie liegt eher darin, daß er angesichts der Bedrohung und unter dem Eindruck des Endes den Mund nicht mehr aufbringt.[58]
Auch die Position von Aichinger, die in diesem Text auf die Situation der Literatur in der Nachkriegszeit anspielt, wird mit Kleinls Auffassung vom Erzählen als Todesüberwindung kritisch beantwortet.
Auf literaturtheoretischer Seite kann man Kleinls Ablehnung des Todes von Literatur und Erzählen am ehesten auf Georg Lukács Theorie des Romans beziehen. So heißt es bei Lukács etwa: „Darum ist hier [im Roman] die „Prosa“ des Lebens nur ein Symptom unter vielen dafür, daß die Wirklichkeit nunmehr einen ungünstigen Boden für die Kunst abgibt.“[59] Später im Text tätigt Lukács die berühmte Aussage, die Form des Romans sei „wie keine andere, ein Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit.“[60] Nun ist Siegmund Kleinl zwar kein klassischer Romancier, aber seine im vorigen Abschnitt geschilderte Rehabilitierung des Erzählens richtet sich gegen die Grundtendenz von Lukács Kritik: dass nämlich zu einer bestimmten Zeit eine Erzählform nicht mehr geeignet ist, die Ganzheit der Welt (oder mit Lukács: die „Seinstotalität“) darzustellen. Eben diese Kritik versucht Kleinl mit seinem organischen Erzählkonzept und dem Erzählen gegen den Tod zu entkräften. Ähnlich wie Kleinl, allerdings auf einer kulturtheoretischen Ebene, argumentiert übrigens auch Peter Sloterdijk in seinem Essay Im selben Boot. In diesem Text wird Lukács direkt kritisiert, Sloterdijk vertritt die These, dass eine umfassende, epische Darstellung der Gesellschaft zwar schwierig und umfangreich, aber sehr wohl möglich ist.[61] In einem Punkt stimmt Lukács mit Kleinl allerdings nolens volens überein: So gesteht Lukács der Epopöe zu, dass sie „niemals streng geschlossen“ ist, sondern „ein Lebewesen von innerlich unendlicher Lebensfülle“[62]. Lukács begründet dies damit, dass die Epik über Gesellschaft und damit über viele verschiedene Individuen berichtet. Dem entspricht Kleinls organisches Erzählmodell und die damit verbundene metaphorische Sprache.
Auch gegen das Konzept vom Tod des Autors in der modernen Literatur, wie es bei Roland Barthes auftaucht, wehrt sich Kleinl. Barthes geht in seinem Essay von einem Balzac-Zitat aus, in dem der Autor eine Frau beschreibt; laut Barthes ist es aber nicht eindeutig zu eruieren, wer in dem Zitat spricht, Balzac als Autor oder als fühlendes Individuum. Dies ist für Barthes ein Beweis dafür, dass „die Schrift [ écriture ] jede Stimme, jeden Ursprung zerstört.“[63] In archaischen Kulturen, führt Barthes weiter aus, kamen Erzählungen immer von vermittelnden Erzählern, während in der modernen Zeit die Mündlichkeit immer mehr hinter der Schrift zurücktrete.[64] Gegen diese Argumentation wendet sich Kleinls TextKörper, einerseits dadurch, dass Kleinl ja eine absolute Vormachtstellung des Erzählens fordert und durch seine organischen Metaphern diesem Erzählen auch einen körperlichen Bezug verleiht. Andererseits durch metafiktionale Elemente wie etwa den Bleistift, der zur Kaltnadel wird; durch solche Elemente versucht Kleinl die Schrift nicht für sich selbst stehen zu lassen (wie von Barthes beklagt), sondern einen Konnex der Schrift zur Wirklichkeit herzustellen.
Ein weiterer Aspekt bei Roland Barthes: Der traditionelle Autor hat laut Barthes einzig und allein für seinen Text existiert (er „ernährt vermeintlich das Buch, […] denkt, leidet, lebt für sein Buch“)[65], während der moderne Autor, von Barthes eher verächtlich „Schreiber“ genannt, nur durch seinen Text erzeugt wird. Die Sprache, argumentiert Barthes weiter, kenne nur „ein ‚Subjekt’, aber keine ‚Person’.“[66] Dagegen wendet sich Kleinl am Ende von TextKörper und bedient sich dabei des in Kapitel 3.1.5. beschriebenen Begriffs der „Male“:
Das Wort zeugt im Leib des Dichters den Text, der dann auch seine Male trägt. Wenngleich die Sprache denkend-handelndes Subjekt des Erzählens ist, ist sie doch gleichzeitig auch meine Sprache, die, eins oder uneins mit mir, mich verändert und von mir verändert wird.[67]
Interessant ist, dass Kleinl in diesem Zusammenhang wie Barthes den Begriff „Subjekt“ benutzt; generell wirkt diese Passage wie eine direkte Antwort auf Barthes’ Essay. Kleinl geht insofern mit Barthes konform, als auch bei ihm das Wort den Ausschlag zum Text gibt, und nicht der Dichter. Der Autor verschwindet dann allerdings nicht hinter dem Text, sondern ist mit seiner Persönlichkeit (seinen „Malen“) stets darin präsent. Wie aus dem obigen Zitat hervorgeht, gesteht Kleinl darüber hinaus dem Autor zu, dass er nicht nur passiv von der Sprache verändert wird, sondern diese auch aktiv gestaltet – eine Komponente, die Roland Barthes völlig ausblendet. So ist Barthes moderner „Schreiber“ kein Sprachgestalter, hat „keine Passionen, Stimmungen, Gefühle oder Eindrücke mehr in sich, sondern dieses riesige Wörterbuch, dem er eine Schrift entnimmt […]“.[68] In Kapitel 3.3., wo es um Siegmund Kleinls Sprache geht, werden wir sehen, dass sich Kleinl entschieden gegen einen solchen Wörterbuchcharakter des Schreibens verwehrt.
Aber trotz der Ablehnung in vielen Bereichen lassen sich auch theoretische Gemeinsamkeiten Kleinls mit Roland Barthes erkennen. So kritisiert Barthes etwa die Vormachtstellung des Autors aufgrund einer kapitalistischen Ideologie, der es nur um Personenkult geht. In diesem Zusammenhang erkennt Kleinl sehr wohl auch, dass letztlich nur die Sprache bleibt, „nicht die Dichter“.[69] Weiters sagt Barthes, dass der Text „ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur“ ist. Die Aufgabe des Autors sei es daher, diese Stätten miteinander zu verweben und zu vermischen. Das sieht auch Kleinl so, wenn man sein in Kapitel 3.2.1. erwähntes Konzept der bewussten Intertextualität und seine daraus resultierenden zahlreichen Literaturanspielungen berücksichtigt.
3.2.3. Konkrete Einflüsse auf TextKörper
Bisher war schon viel von Intertextualität in Siegmund Kleinls Poetik die Rede, aber erwähnt wurden immer nur Texte, die Kleinl indirekt anspricht. Er führt allerdings auch vier Texte, die ihn beim Schreiben der Poetik beeinflusst haben, namentlich an. Es sind dies die Aufsätze Von realer Gegenwart von George Steiner, Surfiction von Raymond Federman, Der Autor am Werk von Felix Ingold und die Aufsatzsammlung Es muß sein von Herbert Achternbusch.[70] Auf die ersten beiden soll nun näher eingegangen werden – das kann deshalb interessant sein, weil es möglicherweise Aufschluss darüber gibt, wie Kleinl zu seiner komplexen Auffassung von Erzählen und zu seinem organischen Modell gelangt ist.
Wenn man den 1989 erstmals erschienen Aufsatz Von realer Gegenwart des österreichisch-französischen Literaturwissenschafters und –kritikers George Steiner liest, fällt sofort auf, dass Steiner ein ähnlich verklärt-anthropomorphes Bild von Sprache und Erzählen vertritt wie Kleinl, wenngleich weniger differenziert und eher auf Lyrik bezogen. So bedient sich auch Steiner der Allegorie, er schreibt über ein Gedicht, das „spricht“, das sich „ausspricht“ und das letztlich „zu jemandem“ spricht.[71] Allerdings geht Steiner noch mehr als Kleinl in den Bereich des Metaphysischen, so heißt es gleich zu Beginn des Aufsatzes:
Jede logisch stimmige Auffassung von Sprache und jede logisch stimmige Erklärung des Vermögens von Sprache, Sinn und Gefühl zu vermitteln, muss auf der Annahme einer Gegenwart Gottes beruhen.[72]
Diese Erkenntnis überträgt Steiner auch auf Kunst und im Besonderen auf Literatur. Für den Theologen Kleinl spielen Religion und das Verhältnis zu Gott natürlich eine wichtige Rolle, das wird vor allem im Interview mit Siegmund Kleinl in Kapitel 5.1. erkennbar werden. In TextKörper ist die christliche Komponente vordergründig eher ausgeblendet – die Betonung liegt allerdings auf „vordergründig“, da man natürlich in Symbole wie das weiter oben beschriebene „Mal“ auch eine christliche Bedeutung interpretieren kann: etwa das literarische Schaffen als „imitatio christi“ und das Mal als „Stigma“, das der Künstler und sein Werk tragen.
Im 1992 auf deutsch veröffentlichten, aber schon viel früher entstandenen Essay Surfiction des amerikanischen Dichters und Literaturkritikers Raymond Federman findet man in jeder Hinsicht eine Menge Gemeinsamkeiten mit Kleinls Poetik. So wendet sich auch Federman gegen die strenge Konzeption von Mimesis in der Kunst und vor allem in der Literatur. Zu Beginn des Essays heißt es: „Am Anfang stand nicht die Mimesis […], sondern die Notwendigkeit, Mimesis zu erzielen.“[73] Federman spricht von einem Druck der Mimesis, der auf Kunstwerken laste: wenn sich ein Werk der Mimesis versage, werde es von Instanzen der (Literatur-) Kritik als misslungen beurteilt. Über diese Schablonen habe sich die Literatur hinwegzusetzen.[74]
Das führt Federman zur Lyotard-Position, dass nämlich das „große Ganze“ der Narration verloren geht, dass große, in sich abgeschlossene Erzählungen nicht mehr möglich sind; eine Auffassung, der ja auch Kleinl in TextKörper huldigt (man denke an das weiter oben erwähnte Bild von den Löchern in der Lebensgeschichte). Wie für Kleinl ist auch für Federman diese Situation allerdings noch lange kein Grund, mit dem Schreiben aufzuhören:
[…] in unserem gegenwärtigen Zustand der intellektuellen Seelenpein erkennen wir, daß es entweder zu viel oder nichts mehr zu wissen gibt, aber das ist kein Grund zur Verzweiflung.[75]
Ganz im Gegenteil, die Literatur müsse darauf reagieren und ihre eigene Wirklichkeit erfinden – auch diese Meinung teilt Kleinl, erkennbar ist dies im weiter oben zitierten Satz, dass das Erzählen „ein Gehen durch die Welt“ sei, die durch dieses Erzählen / Gehen erst geschaffen wird. Federman geht im Folgenden auf Selbstreflexivität von Literatur ein; wie wir im Kapitel über die Korrelation mit John Barth gesehen haben, sind selbstreflexive und metafiktionale Elemente auch in Kleinls TextKörper stark vertreten. Während, so schreibt Federman, in früherer Zeit (vor allem im 18. Jahrhundert) Selbstreflexivität in erster Linie angewandt worden sei, um den Roman als Genre zu etablieren[76], sei heutzutage die Selbstreflexivität ein Mittel der Literatur, „um sich selbst von den Forderungen und Betrügereien des Naturalismus und Realismus zu befreien und das erschöpfte Genre wiederzubeleben.“[77] Dies wirkt wie Wasser auf die Mühlen Kleinls, der ja ebenfalls versucht, einer streng naturalistischen Formung zu entgehen und das totgesagte Erzählen (siehe voriges Kapitel) zu reanimieren.
Außerdem könnte Federmans Essay einen Beitrag dazu leisten, Siegmund Kleinls Literatur zu kategorisieren – wenn denn ein solches Unterfangen überhaupt möglich oder sinnvoll sein sollte. Im letzten Teil seines Essays erklärt Federman, was denn genau unter „Surfiction“ zu verstehen sei. Federman meint damit eine Literatur, die wie folgt beschaffen ist:
Mir bedeutet nur die Literatur etwas, die versucht, die Möglichkeiten der Literatur jenseits ihrer Grenzen auszuloten; jene Art von Literatur, die Traditionen in Frage stellt, von denen sie beherrscht wird; jene Art von Literatur, die ständig den Glauben an die Vorstellungskraft des Menschen wachhält, statt den Glauben an die verzerrte Sicht des Menschen auf die Realität; […] Diese Literatur nenne ich Surfiction.[78]
Auch ein weiteres Postulat Federmans an „Surfiction“, nämlich dass diese Literatur autopoietisch sein und also aus sich selbst entstehen müsse, scheint auf Kleinl und die in seiner Poetik TextKörper vertretenen Positionen zuzutreffen; in Anlehnung an Lyotard nennt Federman „Surfiction“ eine postmoderne Position.[79]
An Kleinls Affinität zu Federman und Lyotard lässt sich also eine deutliche Nähe des Autors zur Postmoderne festmachen. Kleinls organisches Erzählmodell, die bewusste Nähe zum Literaturkanon (wie erwähnt etwa zu Hölderlin oder Goethe) und seine Verteidigung des Erzählens gegen historische und literaturtheoretische Argumente scheinen allerdings eher ein Widerspruch zu dieser Nähe zu sein. Andererseits haben wir am Vergleich mit John Barth gesehen, dass sich ein postmoderner Autor durchaus klassischer oder antiker Elemente bedienen und sich damit bewusst in den Kontext traditioneller Literatur stellen kann.
3.3. Semantische Ebene und Bedeutungsebene
3.3.1. Kleinls Stil als Resultat der Poetik
Wie bereits in Ansätzen deutlich geworden sein dürfte, ist Siegmund Kleinls Sprache sehr komplex und verschachtelt. Sie ist geprägt von Neologismen, ungewöhnlichen Komposita und rhetorischen Stilmitteln wie Polysemien und Wortspielen. Das mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen. Bei genauerem Hinsehen findet man diese stilistischen Eigenheiten, die Kleinl in fast allen Werken erkennen lässt, jedoch ebenfalls in seiner Poetik TextKörper begründet. Weiter oben war die Rede davon, dass Kleinl sich gegen literarische Festschreibungen wie die Mimesis wendet – dasselbe tut er auch auf semantischer Ebene. So spricht Kleinl von „Vermittlungen und Festschreibungen, wie sie sich in den Grammatiken und Wörterbüchern abzeichnen“[80], die aber vom Dichter überwunden werden können:
[…] indem sein Erzählen die Worte eigenwillig gebraucht, anklingen und verklingen oder weiterklingen läßt, ihre phonetische oder buchstäbliche Stofflichkeit variiert, sie rhythmisiert oder entrythmisiert und sie dann plötzlich, in eine andere Sprachumwelt gesetzt, anderes bedeuten lässt.[81]
Im Erzählen „fallen die Gegensätze zusammen“, heißt es wenig später[82]. Daraus erklären sich die zahllosen, meist aus der Verschmelzung zweier Begriffe entstehenden Neologismen, die in TextKörper (aber auch in allen anderen Werken Kleinls) vorkommen. Beispiele dafür sind etwa: „Vernunst“ (aus „Vernunft“ und „Kunst“), „Leserich“ (aus „Leser“ und „Ich“), „Tastatour“ (aus „Tastatur“ und „Tour“) oder „Freisaetzung“ (aus „Freisetzen“ und „Sätze“).
Kleinl führt aber nicht nur Begriffe zusammen, sondern erzeugt oft bewusste Trennungen, um Bedeutungen zu verstärken oder zu verändern:
Das Erzählen scheidet gewohnte Wortehen, die für sich stehend, ein Eigenbewußtsein entwickeln, das den Leserhörer die Ursprünglichkeit eines Wortes neu ahnen läßt. Schafft durch den ungewöhnlichen Gebrauch eine so noch nicht gewußte Bedeutung.[83]
Kleinl erzielt diesen Effekt dadurch, dass er die Trennungen zwischen den Begriffen im Schriftbild sichtbar macht – durch Großschreibung des zweiten Begriffs, wie etwa im Titel des Essays: „TextKörper“. Weitere Beispiele dafür sind „AllTag“, „TextAll“, „MitTeilungen“ oder „GrundSatz“.
Solche Überlegungen sind freilich nicht ganz neu; man findet dieses „Etymologisieren“, diese Heraushebung von Bedeutung durch das Bewusstmachen lexikalischer Trennlinien, beispielsweise im Spätwerk Martin Heideggers. Heidegger sieht das Wesen des Seins in der von ihm so bezeichneten und geschriebenen „Ek-sistenz“, also wörtlich dem „Ausstand“ ins Sein.[84] Durch die etymologische Aufschlüsselung des Wortes Existenz erreicht Heidegger die Bewusstmachung der etymologischen Herkunft des Begriffes. Bei Kleinl funktioniert das Prinzip ähnlich, nur dass er im Unterschied zu Heidegger als Trennlinien keine Bindestriche, sondern Majuskeln verwendet.
Auch Kleinls Polysemien funktionieren oft auch auf etymologischer Ebene, was sich – wie im biographischen Teil erwähnt – vor allem durch Kleinls Kenntnisse des Lateinischen, Altgriechischen und Hebräischen erklärt.[85] So gibt es etwa in TextKörper eine Stelle, wo der Ich-Erzähler von der Schule nach Hause fährt (Beispiel für eine der oben erwähnten autobiographischen Grundierungen), über sein schnelles Auto berichtet und sich selbst ermahnt: „Mußt dich einbremsen, sage ich mir.“[86] Im darauf folgenden inneren Monolog gewinnt das Auto zusätzlich zum Gegenstand noch eine weitere Bedeutung: Es steht für den sich selbst analysierenden Ich-Erzähler. Diese Doppeldeutigkeit wird allein durch das Wort „Auto“ erreicht, das ja auf Griechisch „selbst“ beziehungsweise „ich“ bedeutet. Dieses „Auto“ begegnet uns auch noch in anderen Texten Kleinls, vor allem in EineWelt. Mit Teilungen.
Dass diese Begriffe und Termini Kleinls in seinen späteren Werken wiederkehren, trägt unter anderem dazu bei, den Kontext und die Zugehörigkeit der Werke zur Poetik schon rein optisch erkennbar zu machen – teilweise schon im (Unter-)Titel der Texte: EineWelt. Mit Teilungen, DorfMale. Ein Umsinnen oder Male. Poetische Tastatouren. Kleinl setzt in seinem Stil also nicht nur die obigen Überlegungen aus TextKörper um, sondern erzielt einen Effekt von Anagnorisis bzw. Wiedererkennung beim Leser.
Nun könnte man natürlich einwenden, dass Kleinl wortbrüchig wird, wenn er sich einerseits gegen mimetische Festschreibungen und eine durch Wörterbücher und Grammatiken beeinträchtigte Sprache wehrt, sich jedoch andererseits eine zwar eigens kreierte, jedoch immer wiederkehrende Sprachform vorgibt. Darauf antwortet Kleinl aber in TextKörper, dass diese Sprachform zwar stilistisch wiederkehrend sein mag, aber eben nicht festgefahren ist:
Die Worte können nur für sich sprechen, wenn ich ihnen eine Sprachform gebe, die sie eigen sein läßt. Aber nicht als unteilbare Monaden, sondern als pulsierende Zellen. Die mir einen möglichst lebendigen Leib schaffen, der Mensch sein kann ohne die menschlichen Begrenzungen und Beengtheiten.[87]
Kleinls organisches Sprachmodell greift also auch auf seinen Stil über, und die oben beschriebenen Vorgehensweisen haben nicht den Impetus, diesen Stil zu begrenzen oder zu regulieren, sondern werden im Gegenteil durch Kleinls stilistische und theoretische Überlegungen erzeugt. Auch hier wendet Kleinl eine organische Metapher an: das Erzählen, schreibt Kleinl, sei „ein bedingungsloser Liebesakt“.[88]
3.3.2. Kein einheitlicher Sinn, der Leser in Bewegung
Aber nicht nur auf der sprachlichen, auch auf der Sinnebene wehrt sich Siegmund Kleinl in TextKörper gegen eindeutige Festschreibungen. So heißt es beispielsweise gleich zu Beginn des Essays: „Dem neu aufbrechenden [also von Kleinl angestrebten] Erzählen fügt sich nichts mehr so recht sinnhaft aneinander.“[89] Etwas später schreibt Kleinl: „Poetisches Erfinden ist ein Finden […] Ohne letzten Sinnschluß.“[90] Gegen Ende des Essays imaginiert Kleinl sich selbst, wie er seinen eigenen Text liest (wieder ein metafiktionales Element) und fasst, über sich selbst in der 3. Person und als „Leserich“ (= „Leser“ und „ich“) sprechend, zusammen:
Seine Augen laufen noch immer die Zeilen entlang, vielleicht etwas müder als anfangs, weil gefüllter oder geleerter. Gefüllt mit einer Fülle von Umsinnigkeiten, entleert von der Strapaz eines zu erfassenden Sinnes.[91]
Dadurch, dass der Autor hier plötzlich als Leser erscheint, werden Autor und Leser gleichgeschaltet. Kleinl wehrt sich damit gegen eine passive Rolle des Lesers, er soll vielmehr selbst am Text teilhaben und sich – gleichberechtigt mit dem Autor – damit auseinandersetzen. Mit diesem Führen des Lesers quasi in eine „vita activa“ wendet sich Kleinl gegen einen weiteren Punkt in Roland Barthes weiter oben zitiertem Essay Der Tod des Autors; am Ende desselben schreibt Barthes nämlich: „Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.“[92] Dass das für Kleinl nicht so ist, zeigt er mit dem Autor in der Leserrolle bzw. umgekehrt mit der Forderung eines kreativ tätigen Lesers. Dieses gleichberechtigte Verhältnis zum Leser schildert Kleinl verschlüsselt in einem anderen Abschnitt von TextKörper, indem der Ich-Erzähler über das Verhältnis zu seinen Schülern reflektiert:
Ich muß nichts mehr in sie [die Schüler] hineinarbeiten. Sie arbeiten es aus mir heraus. Und dazu bin ich da. Sie arbeiten alles aus mir heraus, was in mir ist, und es wird mir nicht nur ums Herz leicht, […] mein ganzer Körper wird leicht. Wie leicht fällt mir da das Gehen […][93]
Einerseits taucht hier, wie bereits einmal erwähnt, eine autobiographische Konnotation zu Kleinls Lehrberuf auf, andererseits stehen die Schüler hierbei auch für die Leser, in die Kleinl nichts hineinarbeiten muss, weil sie ihrerseits interpretatorisch tätig werden sollen; Kleinl vertritt also die Vorstellung von einem aktiven Leser. Außerdem werden im obigen Zitat Erzählen und Gehen erneut metaphorisch in Verbindung gebracht.
Kleinls bewährte Denkfigur vom Gehen taucht wieder auf, wenn vom Erfassen des Sinnes die Rede ist, und wird, im Sinne des aktiven Lesers, ausgedehnt auf das Lesen als Gehen (analog zum Erzählen als Gehen). Der Leser soll beim Rezipieren von Kleinls Literatur ebenfalls in Bewegung bleiben und an „sprachliche Orte“ gelangen:
Doch jeder dieser Orte ist ein scheinbarer, ein Topos, sodaß er nur im Umgehen interessant ist. Im Umgehen mit ihm, gegen ihn, in ihn hinein, über ihn hinaus. Sodaß nirgends ein Sinnort sinnfällig wird. Sodaß ein Sinn fällig wird nach dem anderen.[94]
Wie man sieht, wird Kleinls Vorstellung von der Suspendierung eines fixen Sinnes schon in der komplexen Art illustriert, wie er diese Vorstellung erklärt: Kleinl beschreibt eine Literatur, die keinen fixen Sinn vorgeben will – und diese Beschreibung erfolgt selbst auf eine höchst mehrdeutige Weise. Im Sinne der weiter oben festgestellten Nähe Kleinls zur Postmoderne könnte man diese Vorgehensweise als Metafiktion beziehungsweise Selbstreflexivität bezeichnen.
Die erwähnte Mehrdeutigkeit soll auch anhand von Auslegungsvarianten der obigen Textstelle verdeutlicht werden: so kann etwa „Umgehen“, je nachdem, auf welchen Wortteil man den Akzent legt, als „sich beschäftigen mit“ verstanden werden, aber auch als „Vorbeigehen“. Also kann der Leser sich sowohl auf Kleinls Topoi einlassen, oder aber (lesend) daran vorbeigehen. Auch der zweite Satz im Zitat ist doppeldeutig: versteht man „fällig werden“ als „notwendig sein“, würde der Satz bedeuten, dass sich für den Leser kein Gesamtsinn ergibt, sondern ein Sinn nach dem anderen. Fasst man „fällig werden“ aber wörtlich als „umfallen“ auf, so sagt der Satz aus, dass beim Lesen von Kleinls Literatur ein Sinn nach dem anderen umfällt beziehungsweise dekonstruiert wird.
Demnach ist also auch das Wort „Umsinnigkeiten“[95] oder „Umsinnen“ zweideutig: Liegt der Wortakzent auf der ersten Silbe, bedeutet „Umsinnen“ einen ständig wechselnden Sinn. Liegt die Betonung auf der zweiten Silbe, stehen die (menschlichen) Sinne im Vordergrund, und „Umsinnen“ meint dann quasi ein haptisches Bearbeiten des Textes mittels der Sinne – oder, in Kleinls Terminologie, mittels des „Gehens“ durch den Text.
Der eben hergestellte Konnex zwischen Autor und Leser bleibt aufrecht: Auch für den Autor ergibt sich kein einheitlicher Sinn, auch der Autor muss „Umsinnen“, behauptet Kleinl. So zeigt sich Kleinl an einer Stelle von TextKörper über das Entstehen seiner Literatur „überrascht“: „Und Staunen ergreift mich. Wie aus einer Textzelle ein Textkörper wird.“[96] Mit seiner bewährten organischen Metaphorik bringt Kleinl zum Ausdruck, dass auch er selbst nicht alle Ebenen ermessen kann, die ihm seine Literatur eröffnen. Wenn man sich allerdings das obige Zitat ansieht und die Deutungsmöglichkeiten berücksichtigt, die sich dadurch ergeben, fällt es schwer zu glauben, dass der Autor hier bloß vom Schreibrausch „überwältigt“ wurde. Wenn Kleinl also über das Entstehen eines Texts in Staunen verharrt, schwingt darin eine gehörige Portion von „dissimulatio artis“ mit.
Wie man anhand dieses Abschnitts der Analyse schon erahnen konnte, bestätigt Kleinls Konzept von der Unmöglichkeit eines einzigen Sinnes erneut eine gewisse Nähe zur Postmoderne beziehungsweise zu ihrem literaturtheoretischen Arm, der Dekonstruktion. Während die Hermeneutik von einem „geraden“, eindeutig erfassbaren Sinn ausgeht, ist der Sinn in der Dekonstruktion „ungerade“ und vielschichtig.
[...]
[1] Vgl. Eco, Umberto: Wie man eine wissenschaftliche Abschlußarbeit schreibt. Doktor-, Diplom- und Magisterarbeit in den Geistes- und Sozialwissenschaften. 11. Aufl. Heidelberg: C.F. Müller 2005 (=UTB 1512). S. 180.
[2] Vgl. Lutz, Bernd und Benedikt Jeßing: Metzler Autoren Lexikon. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler 2004. S. 692f.
[3] Stand: Januar 2007
[4] Vgl. Eco, Umberto: Wie man eine wissenschaftliche Abschlußarbeit schreibt. Doktor-, Diplom- und Magisterarbeit in den Geistes- und Sozialwissenschaften (wie Anm. 1). S. 21.
[5] Vgl. Interview mit Siegmund Kleinl in Kapitel 5.1.
[6] Ich zitiere aus dem Typoskript zur Einleitung von Siegmund Kleinls Erzählung Gabriel Sigma; es trägt die Überschrift „Lebensgeschichte“ und befindet sich im Besitz von Siegmund Kleinl.
[7] Zitat wie Anm. 6
[8] Über das Nebeneinander von Schreiben und Lehren berichtet Siegmund Kleinl detailliert im Interview; vgl. dazu Kapitel 5.1.
[9] Nähere Informationen zur NN-fabrik finden sich sowohl im Interview mit Siegmund Kleinl, als auch auf der Homepage von NN auf www.nn-fabrik.at (15.12.2006, 15:08).
[10] Vgl. http://www.nn-fabrik.at/newnn/index.html (15.12.2006, 15:34) sowie das Interview mit Siegmund Kleinl in Kapitel 5.1.
[11] Zitat wie Anm. 6
[12] Brauchbare Informationen zu Biographie und Veröffentlichungen von Siegmund Kleinl finden sich auch in Kleinl, Siegmund: Skripturen des Unbequemen. Der Künstler Wolfgang Horwath. Eine Essay-Erzählung. Oberwart: edition lex liszt 12 2006. S. 125.
[13] Außerdem bedeutet o.T. „ohne Ton“; das ist damit zu erklären, dass NN zusätzlich zur Anthologie 1998 eine Audio-CD mit Lesungen der Autoren herausgegeben hat. Diese CD heißt folgerichtig m.T., also „mit Ton“.
[14] Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen. In: o.T. Anthologie. Band 1. Siegendorf: Verlag NN-fabrik 1995 (=edition NN oslip). S.5.
[15] Ebd. S. 5.
[16] Vgl. Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 42.
[17] Ebd. S. 6.
[18] Vgl. Ebd. S. 6f.
[19] Ebd. S. 6.
[20] Ebd. S. 18.
[21] Vgl. Ebd. S. 11.
[22] Vgl. Petrini, Daniela: Es schlägt ein. Andreas Okopenkos Poetik des Fluidum. In: Kastberger, Klaus (Hrsg.): Andreas Okopenko. Texte und Materialien. Wien: Sonderzahl 1998. S. 69.
[23] Lyotard, Jean-Francois: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz, Wien: Böhlau 1986 (= Edition Passagen 7). S. 14f.
[24] Vgl. Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 6.
[25] Vgl. Sörensen, Bengt Algot: Geschichte der deutschen Literatur. Band 2. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 2. Aufl. München: Beck 2002 (=Becksche Reihe 1217). S. 100f.
[26] Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 14f.
[27] Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. In: Werkausgabe Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984 (=stw 501). S. 67
[28] Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 14.
[29] Ebd. S. 9.
[30] Vgl. Feyerabend, Paul: Wider den Methodenzwang. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987 (=stw 597). S. 21.
[31] Vgl. Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 6 – 12.
[32] Ebd. S. 32.
[33] Vgl. Ebd. S. 6 – 8.
[34] Vgl. Sörensen, Bengt Algot: Geschichte der deutschen Literatur. Band 1. Vom Mittelalter bis zur Romantik. München: Beck 1997 (=Becksche Reihe 1216). S. 299.
[35] Vgl. Schmidt, Hartmut: Die lebendige Sprache. Zur Entstehung des Organismuskonzepts. In: Linguistische Studien [der Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Sprachwissenschaft] 151 (1986). S. 65 und 85.
[36] Vgl. Sörensen, Bengt Algot: Geschichte der deutschen Literatur. Band 1 (wie Anm. 34). S. 297 – 304.
[37] Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 14.
[38] Vgl. Kapitel 2.1.
[39] Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 44.
[40] Kleinl, Siegmund: Skripturen des Unbequemen. Der Künstler Wolfgang Horwath. Essay-Erzählung. (wie Anm. 12). S. 113.
[41] Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 28.
[42] Vgl. Schedl, Barbara: Medien der Verkündigung im Mittelalter. Zu den gemalten Anniversarien im Kremser Dominikanerkloster. In: Text als Realie. Internationaler Kongress des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 3. bis 6. Oktober 2000, Krems a. d. Donau (= Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit 18. Hrsg. von Karl Brunner und Gerhard Jaritz. Wien 2003.) S. 311f.
[43] Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 9f.
[44] Vgl. Barth, John: The book of ten nights and a night. Eleven stories. London: Atlantic Books 2004. S. 1-3.
[45] Vgl. Barth, John: Once upon a time. A floating opera. Boston, New York u.a.: Little, Brown & Company 1994. S. 3.
[46] Vgl. Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 19f.
[47] Ebd. S. 15.
[48] Vgl. Hofmann, Frank: „Postmodernes“ Erzählen? – Postmodernes Erzählen! Untersuchungen zur Entwicklung „postmoderner“ Erzählformen und zu ihrer Rezeption in der deutschen Literatur. Rüsselsheim: Verlag Frank Hofmann 1994 (zugl. Mainz Univ. Hausarbeit 1994). S. 23.
[49] Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Metafiktion (13.11.2006, 18:50) und Eagleton, Terry: Die Illusionen der Postmoderne. Ein Essay. Stuttgart u.a.: Metzler 1997. S. VII-IX.
[50] Vgl. Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 33ff.
[51] Vgl. Ebd. S. 12 – 17.
[52] Vgl. Ebd. S. 36f.
[53] Vgl. Ebd. S. 38.
[54] Vgl. Joyce, James: Ulysses. Übers. von Hans Wollschläger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001.
[55] Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 10.
[56] Vgl. Enzensberger, Hans Magnus: Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend. In: Kursbuch 15 (1968). S. 187.
[57] Vgl. Ebd. S. 188 – 194.
[58] Aichinger, Ilse: Vorrede. In: Weigel, Hans (Hrsg.): Rede unter dem Galgen. Wien: Jungbrunnenverlag 1952 (=junge österreichische Autoren 6). S. 6.
[59] Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. 3. Aufl. Neuwied: Luchterhand 1965. S. 12.
[60] Vgl. Ebd. S. 35.
[61] Vgl. Sloterdijk, Peter: Im selben Boot. Versuch über die Hyperpolitik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. S. 14.
[62] Vgl. Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (wie Anm. 59). S. 66.
[63] Barthes, Roland: Der Tod des Autors. In: Jannidis, Fotis (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000 (=RUB 18058). S. 185.
[64] Vgl. Ebd. S. 186.
[65] Vgl. Barthes, Roland: Der Tod des Autors (wie Anm. 63). S. 189.
[66] Vgl. Ebd. S. 188.
[67] Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 44.
[68] Vgl. Barthes, Roland: Der Tod des Autors (wie Anm. 63). S. 190f.
[69] Vgl. Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 16.
[70] Vgl. Ebd.. S. 16. – Hier drängt sich eine Assoziation auf: Am Anfang von Thomas Bernhards Opus Magnum Auslöschung übergibt der Privatgelehrte Murau seinem Schüler Gambetti fünf Texte – diese Texte können als pars pro toto für Muraus Persönlichkeit und Identität gesehen werden, eine Identität, die die Figur ja im Verlauf des Werkes aufzuarbeiten hat. Vgl. Bernhard, Thomas: Auslöschung. Ein Zerfall. 6. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. S. 7.
[71] Vgl. Steiner, George: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von Botho Strauß. München, Wien: Hanser 1990. S. 184.
[72] Ebd. S. 13.
[73] Federman, Raymond: Surfiction. Der Weg der Literatur. Hamburger Poetik-Lektionen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992 (=es 1667). S. 9.
[74] Vgl. Ebd. S. 10.
[75] Ebd. S. 19.
[76] Federman führt als Beispiele Laurence Sternes Tristram Shandy und Denis Diderots Jaques le Fataliste an; in beiden Romanen begegnen dem Leser selbstreflexive und metafiktionale Elemente auf Schritt und Tritt. So greift etwa in Tristram Shandy der Autor oft kommentierend in die Handlung ein, und in Jacques le Fataliste werden die Geschichten, die sich die Hauptdarsteller erzählen, mit der Erzählebene der Rahmenhandlung vermengt.
[77] Vgl. Federman, Raymond: Surfiction (wie Anm. 73). S. 37.
[78] Ebd. S. 62.
[79] Vgl. Ebd. S. 62.
[80] Vgl. Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 6f.
[81] Ebd. S. 7.
[82] Vgl. Ebd. S. 8.
[83] Ebd. S. 8.
[84] Vgl. Kunzmann, Peter, Franz Peter Burkard u.a..: dtv-Atlas Philosophie. 10. Aufl. München: dtv 2002. S. 209.
[85] Vgl. Kapitel 2.1.
[86] Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 21.
[87] Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 8.
[88] Vgl. Ebd. S. 8.
[89] Ebd. S. 7.
[90] Ebd. S. 18.
[91] Ebd. S. 38.
[92] Barthes, Roland: Der Tod des Autors (wie Anm. 63). S. 193.
[93] Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 12.
[94] Ebd. S. 37f.
[95] Vgl. Kleinl-Zitat auf S. 31 dieser Arbeit.
[96] Kleinl, Siegmund: TextKörper. Erzählen über Erzählen (wie Anm. 14). S. 31.