Diese Arbeit beschäftigt sich mit den sogenannten Push-Backs an den EU-Außengrenzen und beleuchtet dafür den Fall von N. D. und N. T. gegen Spanien genauer.
Seit dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge 1951, der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) gehört das Refoulement-Verbot zum menschenrechtlichen Grundkonsens und untersagt die Rückführung von Menschen in Staaten, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Seit 1984 ist das Prinzip auch explizit in Art. 3 der Anti-Folterkonvention konstatiert, sowie direkt in der europäischen Konvention für Menschenrechte aus Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Dennoch wurden in den vergangenen Jahren immer wieder staatliche Maßnahmen - wie die Gründung der Europäischen Grenz- und Küstenwache FRONTEX oder das Errichten von Grenzzäunen - unternommen, um Flüchtlinge und Migranten daran zu hindern in die EU zu gelangen.
Inhalt
Seminararbeit
A. Einführung
B. Problemaufriss und Fragestellung
C. Die Bedeutung des Kollektivausweisungsverbot für den Fall N.D. und N.D. und N.T. gegen Spanien
I. Sachverhalt und Verfahrensgang
II. Analyse des Urteils der Großen Kammer
1. Frage nach der territorialen Anwendbarkeit der EMRK, Art. 1 EMRK
a) Allgemeine Grundsätze zu Art. 1 EMRK
b) Ausschluss der Zuständigkeit durch Grenzzäune
c) Entscheidung des EGMR
2. Verletzung von Art. 4 4. Prot. EMRK
a) historische Bedeutung des Art. 4ZP4 EMRK
b) Schutzbereich des Art. 4ZP4 EMRK
aa) Methodik
bb) Ausweisung
cc) kollektiv
(1) Anforderungen an die Kollektivität
(2) die „illegal-access"-Ausnahme
(aa) Vereinbarkeit der „illegal-acces"-Ausnahme mit dem Wortlaut des Art
4ZP.4EMRK
(cc) Der Fall N.D. und N.T. im Kontext der Rechtsprechung des EGMR
(bb) Rechtfertigung der Ausnahme durch eine dynamisch-evolutive
Auslegung der EMRK
(3) Sicherstellung des Grenzschutzes
(4) Sicherstellung eines effektiven Schutzsystems
dd) Fazit
III. Rechtliche Bedeutung des Urteils für Push-Back Operationen
1. Erläuterung der Push-Back-Operationen
2. Sicherheit der Staaten vs. Schutz der Flüchtlinge?
3. Der Fall M.N. u.a.: Endgültige Schließung der Festung Europas
D. FAZIT
Literaturverzeichnis
A. Einführung
„Das Urteil [des EGMR im Fall N.D. und N.T. gegen Spanien] ist ein weiteres Element, um die Festung Europa dichtzumachen. Es wird andereStaaten an EuropasAußengrenzen ermutigen Geflüchtete als rechtlos zu behandeln."1
Seit dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge 1951, der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)2 gehört das Refoulement-Verbotzum menschenrechtlichen Grundkonsens und untersagt die Rückführung von Menschen in Staaten, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Seit 1984 ist das Prinzip auch explizit in Art. 3 der Anti-Folter- konvention3 konstatiert sowie indirekt in der europäischen Konvention für Menschenrechte aus Art. 3 EMRK4. Dennoch wurden in den vergangenen Jahren immer wieder staatliche Maßnahmen - wie die Gründung der Europäischen Grenz- und Küstenwache FRONTEX5 oder das Errichten von Grenzzäunen6 - unternommen, um Flüchtlinge und Migranten daran zu hindern in die EU zu gelangen. Dieser augenscheinliche Widerspruch in der europäischen Flüchtlingspolitik spiegelt sich in der zentralen Frage nach der Regulierung von Migration wieder und findet letztlich sein Fundament in der rechtsdogmatischen Diskussion sowie der Rechtspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte um die Abgrenzung von legitimen Grenzschutz und konventionswidrigen Praktiken.7 Insbesondere der EGMR versucht in seiner Rechtsprechungshistorie immer wieder Grenzsicherung und Refoulement-Verbot unter einen Hut zu bringen, um einen rechtlichen Ausgleich zwischen den Rechten der Migranten, welche in den Menschenrechtsverträgen verankert sind, und dem Souveränitätsinteresse der Konventionsstaaten zu finden.8 Dennoch versuchen gerade die Grenzstaaten, wie Italien, Griechenland oder Spanien die europäischen Fundamentalgarantien zu umgehen in dem sie die Flüchtlinge gar nicht erst in ihr Hoheitsgebiet eindringen lassen oder sie umgehend wieder durch sog. Push-Backs meist gewaltsam zurück in das Land, aus dem sie einzureisen versuchten, versetzen. Dabei wird den Migranten und Migrantinnen weder eine Chance gegeben sich zu ihren Fluchtgründen zu äußern noch ihre Personalien darzulegen. Meist wird ihnen sogarjegliche medizinische Versorgung verwehrt.9
B. Problemaufriss und Fragestellung
Gerade die von diesen Maßnahmen betroffenen Migranten haben in der Regel kaum eine Möglichkeit, nach ihrer illegalen Rückführung Menschenrechtsverletzungen vor einem Gerichtshof geltend zu machen. Deshalb erzeugt es umso mehr Aufsehen, wenn dies einmal geschieht. So auch im Fall N.D. und N.T. gegen Spanien. Das Besondere an diesem Fall: Der EGMR ist - wie viele Kritiker und Menschenrechtsorganisationen behaupten - von seiner bisherigen Rechtsprechung zu Art. 4 ZP. 4 EMRK abgewichen und hat die Push-Back Praktiken der Mitgliedstaaten „durch die Hintertür" legitimiert.10 Daran schließen sich auch die Fragestellungen dieser Arbeit an. Hat das Urteil des EGMR den Mitgliedstaaten tatsächlich eine Möglichkeit geschaffen, Push-Backs durchzuführen oder stellt es lediglich eine Einzelfallentscheidung bezogen auf die besondere Situation der Beschwerdeführer N.D. und N.T. dar? Zur Beurteilung dieser Frage wird zunächst der Sachverhalt und der Verfahrensgang des Urteils dargestellt (I.), anschließend das Urteil anhand des aktuellen Diskurses zu Migrationsfragen und völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätzen analysisert (II.) und schließlich die Auswirkung der Entscheidung des EGMR auf die PushPack Praktiken der Grenzstaaten beleuchtet (III.).
C. Die Bedeutung des Kollektivausweisungsverbot für den Fall N.D. und N.D. und N.T. gegen Spanien
1. Sachverhalt und Verfahrensgang
An der Grenze zwischen Marokko und Spanien befindet sich ein dreifacher Zaun, zur Kontrolle von Migrationsströmen. Dabei gibt es vier Grenzübergänge zwischen denen die Guardia Civil, die spanische Grenzpolizei, patrouilliert, um illegale Einwanderer abzufangen. Daher finden regelmäßig Massenanstürme - primär von Migranten aus sub-sahara Afrika - statt, mit dem Ziel Spanien zu erreichen. Die Migranten, die es nicht schaffen der Guardia Civil zu entkommen, werden meist unverzüglich ohne jegliche Anhörung nach Marokko zurückgebracht. Diese Vorgehensweise war in Spanien zu dem Zeitpunkt in Art. 23 „Removals" des Royal Decree no. 557/2011, dem sog. „LOEX", vorgesehen.
Dies erlebten auch die Beschwerdeführer im Fall N.D. und N.T. gegen Spanien. Am 13. August 2014 versuchten die beiden Staatsbürger aus Mali und der Elfenbeinküste, die in einer Gruppe von ca. 75 Migranten die drei Zäune, welche die spanische Enklave Melilla von Marokko trennen, zu überqueren, um Asyl in Europa zu ersuchen. Doch wie es im Jahr 2014 bereits mit ca. 1000 anderen Flüchtlingen und Migranten geschah, wurden auch die beiden Staatsbürger (N.D. und N.T) von der spanischen Grenzpolizei der „Guardia Civil" festgenommen und zurück nach Marokko gebracht ohne dass sie die Möglichkeit hatten sich zu ihrer Situation zu erklären oder Rechtsschutz zu beantragen. Nach ihrer Rückführung versuchten die beiden Migranten erneut am 23. Oktober und 2. Dezember 2014 die Grenzzäune zu überwinden, wobei es ihnen gelang Melilla und damit Spanien zu erreichen.11
Die Vorfälle vom 13. August wurden jedoch von mehreren Journalisten gefilmt, woraufhin NGOs wie ECCHR, Amnesty International und UNHCR darauf aufmerksam wurden und N.D. und N.T dazu bewegten Beschwerde vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzureichen.12
Am 03. Oktober 2017 hatten die Beschwerdeführer vor der Kleinen Kammer des EGMR Erfolg. Diese stellte eine Verletzung von Art. 4 des vierten Zusatzprotokolls und von Art. 13 EMRK i.V.m. Art. 4 ZP 4 zur EMRK fest und bestätigte damit, dass das Grenzregime in Spanien menschenrechtswidrig ist und dass Push-Back Praktiken konventionswidrig sind.13 Allerdings wurde die Sache gern. Art. 43 EMRK auf Antrag der Regierung an die Große Kammer verwiesen, welche sodann am 13. Februar 2020 entschied, dass Art. 4 ZP 4 zur EMRK und Art. 13 EMRK in Verbindung mit dieser Vorschrift nicht verletzt sind.14
II. Analyse des Urteils der Großen Kammer
Während Länder wie Ungarn, Spanien und Bulgarien Grenzzäune gegenüber Marokko, Serbien und der Türkei errichteten15, Europa die Grenzschutzagentur FRONTEX ins Leben rief und die Kommission eben diesen Länder Unterstützung bietet, damit sich „eine Situation wie 2015 nicht wiederholt"16, hielt der EGMR durch eine dynamische Judikatur dagegen und bekräftige stetig die Rechtsstellung von Migranten.17 Mit dem Urteil N.D. und N.T. gegen Spanien hat der EGMR scheinbar eingelenkt und der menschenrechtsfreundlichen Auslegung der EMRK ein Ende gesetzt. Zum Verständnis des Urteils und seiner Folgen für die Rechtsstellung der Migranten wird zunächst auf die territoriale Reichweite der Konvention (1.) eingegangen und anschließend die umstrittene Frage nach den Grenzen des Kollektivausweisungsverbots (2.) diskutiert. Dabei ist es unerlässlich den Fall N.D. und N.T in einen Kontext mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 4 ZP 4 zu bringen, insbesondere dem Verfahren M.N. und andere gegen Belgien. Ziel dieser Arbeit ist herauszustellen, welche Auswirkungen das Urteil der Großen Kammer auf die „Push-Back-Praktiken" der Staaten an den SchengenerAußengrenzen hat.
1. Frage nach der territorialen Anwendbarkeit der EMRK, Art. 1 EMRK
Nachdem die Große Kammer die Zulässigkeit der Klage Spaniens bejaht hat, widmete sie sich zunächst der Frage, ob Spanien überhaupt nach der EMRK verpflichtet war, die Konventionsgarantien im Fall von N.D. und N.T. einzuhalten. Dies ist gem. Art. 1 EMRK nur dann der Fall, wenn die Personen der Hoheitsgewalt Spaniens unterstehen.
a) Allgemeine Grundsätze zu Art. 1 EMRK
Art. 1 EMRK besagt, dass die Hohen Vertragsparteien allen ihrer Hoheitsgewalt (frz. „jurisdiction") unterstehenden Personen die in Abschnitt I bestimmten Rechte und Freiheiten zusichern müssen. Dies ist vor allem ein Ausdruck des Territorialprinzips und bedeutet grundsätzlich, dass sich die Schutzverantwortung der 47 Vertragsparteien (darunter auch Spanien)18 auf die Menschen, die sich auf ihrem Territorium befinden, beschränkt.19 Dennoch ist die Frage nach der Hoheitsgewalt in den letzten Jahren immer mehr in Fluss geraten. Teils hat der EGMR den Konventionsschutz zurückgenommen20, teils aber auch über die Grenzen eines Landes hinaus ausgeweitet.21 Dass sich territoriales Herrschaftsrecht und konventionsrechtliche Pflicht immer mehr voneinander entbinden, zeigt auch, dass sich die Große Kammer über mehrere Seiten ihres Urteils hinweg, mit der Frage nach der Hoheitsgewalt beschäftigt.22 Dabei knüpft der EGMR die Jurisdiktion nicht mehr nur an das Kriterium der Territorialität sondern, fragt vielmehr nach einer regelmäßigen Ausübung von Hoheitsgewalt, die von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Organisation gekennzeichnetist, und damit einen rechtlichen Herrschaftsraum des Staates begründet.23
b) Ausschluss der Zuständigkeit durch Grenzzäune
Vorliegend befand sich der Bereich, in dem die Beschwerdeführer aufgegriffen worden waren, eindeutig auf spanischem Territorium. Allerdings berief sich die spanische Regierung darauf, dass der Bereich der Zaunanlagen nicht Teil der Hoheitsgewalt sei und die EMRK gem. Art. 1 in diesem Bereich keine Anwendung finden solle.24 Die Grenze sei vielmehr eine „operational Boarder" iSv Art. 13 des Schengener Grenzkodex mit Zweck unautorisierte Einwanderung zu verhindern; die Hoheitsgewalt beginne erst nach der Polizei-Barrikade und damit hinter dem dritten und innersten Zaun. Auch Frankreich und Italien sind der Meinung, dass ein kurzes, begrenztes Eingreifen im Rahmen von Maßnahmen zur Verteidigung der Landesgrenzen und zum Schutz der nationalen Sicherheit, nicht zu einer Anwendung der Konvention führen könne.25
c) Entscheidung des EGMR
Der EGMR gesteht zwar zunächst ein, dass die Staaten, die die Außengrenzen des Schengen Raums bilden, erhebliche Schwierigkeiten haben, den zunehmenden Zustrom von Migranten und Asylsuchenden zu bewältigen. Dennoch hielt er im Ergebnis an seiner bisherigen Rechtsprechung fest und stellte klar, dass die EMRK als ein verfassungsmäßiges Instrument der europäischen öffentlichen Ordnung nicht selektiv auf Teile des Hoheitsgebiets eines Staates, durch eine künstliche Reduzierung des Umfangs seiner Zuständigkeit, beschränkt werden kann.26 Dies ist insoweit positiv hervorzuheben, als dass diese Lösung sowohl mit dem Wortlaut des Art. 1 EMRK im Einklang steht, als auch eine effektive Gewährleistung der Menschenrechte sichert. Wäre der EGMR der Auffassung Spaniens gefolgt, so hätte dies zum einen die Konventionsrechte aller, von Ausweisungsmaßnahmen betroffenen, Personen erheblich beschränkt. Zum anderen hätte dies eine erhebliche Rechtsunsicherheit zur Folge, da sowohl unklar wäre, ob ein solcher Zuständigkeitsausschluss lediglich für Kollektivausweisungen gelte oder für alle Konventionsrechte, als auch ab wann ein Staat dann zuständig sei.
2. Verletzung von Art. 4 4. Prot. EMRK
Zentrale Frage des Urteils war die Verletzung des Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK, Dies spiegelt sich insbesondere darin wieder, dass der Gerichtshof sich erstmals mit der Frage der Anwendbarkeit von Art. 4 des Protokolls Nr. 4 auf die sofortige und zwangsweise Rückführung von Ausländern von einer Landgrenze aus zu befassen hatte, nachdem eine große Zahl von Migranten versucht hat, diese Grenze unerlaubt und massenhaft zu überschreiten.27 Dabei ist er sowohl von dem Urteil der Kleinen Kammer abgewichen als auch von seiner bisherigen Rechtsprechung. Worauf sich der EGMR dabei stützt und inwieweit diese Abweichung begründet war, wird im Folgenden erörtert. Dazu wird zunächst die historische Bedeutung (a) des Kollektivausweisungsverbots skizziert, bevor das Urteil des EGMR anhand des Tatbestands der Norm (b) analysiert wird (c).
a) historische Bedeutung des Art. 4 ZP 4 EMRK
Zur Beurteilung dieser Frage, muss das Kollektivausweisungsbot zunächst in dessen historischen Kontext eingeordnet werden. Viele europäische Staaten haben in der Vergangenheit ganze Bevölkerungsgruppen aus ihrem Hoheitsgebiet vertrieben und damit ihrer Heimat beraubt. Die Geschichte der Kollektivausweisung begann mit der Vertreibung der Juden aus England 1290 und reichte über die Ausweisung der Hugenotten aus Frankreich 1685 bis hin zu der massenhaften Vertreibung jüdischer Bürger während der NS-Zeit.28 Dennoch war die Einführung eines Kollektivausweisungsverbots lange Zeit umstritten und trat erst im Rahmen der Einführungen des 4. Zusatzprotokolls der EMRK am 2. Mai 1986 in Kraft.29 Damit ist Art. 4 ZP 4 EMRK die erste Norm die vergangene Massenausweisungen in Erinnerung ruft und gleichartige Maßnahmen für die Zukunft ausdrücklich untersagt. Allerdings findet sie keine Anwendung mehr auf Vertreibungen vor der Ratifikation der EMRK durch die Mitgliedstaaten, sondern ist vielmehr für aktuelle Migrationsfragen, insbesondere für die Rückführung von Flüchtlingen und Asylbewerber in ihren Herkunftsstaat relevant.30 Zwar verschafft Art. 4 anders als das Verbot der Folter aus Art. 3 EMRK dem Schutzsuchenden kein Recht auf Schutz, aber er verbietet immerhin, dass der Einzelne mit anderen zu einem Kollektiv zusammengefasst wird und allein aufgrund seiner Gruppenzugehörigkeit aus einem Land vertrieben wird, in dem er eine Heimat hat oder doch finden will. Diese Garantie wird dadurch untermauert, dass Art. 4 die Kollektivausweisung vorbehaltslos verbietet. Allerdings zeigt gerade der Fall N.D. und N.T. gegen Spanien, dass eine vorbehaltslose Garantie von Rechten oftmals dazu führt, dass deren Schutzbereich eingrenzt wird.
b) Schutzbereich des Art. 4 ZP 4 EMRK
aa) Methodik
Zu beachten ist bei der Auslegung des Kollektivausweisungsverbots, dass es bei Konventionsrechten grundsätzlich um offen formulierte Gewährleistungen handelt und damit auf die richterliche Auslegung angewiesen sind.31 Kennzeichnend für die Menschenrechtsjudikatur ist, dass die Rechte nicht rein technisch-dogmatisch ausgelegt werden, sondern, dass der Gerichtshof eine dynamisch-evolutive, effektivitätssichernde, systematische und autonome Auslegung im Einklang mit gemeineuropäischen Rechtsüberzeugungen verfolgt.32 Denn die Menschenrechtskonvention ist der völkerrechtliche Vertrag, der die Waage zwischen der Souveränität der Staaten und den Rechten der einzelnen Menschen hält. Für die Beurteilung der Frage, inwieweit der EGMR das Kollektivausweisungsverbot umgangen hat - oder auch eben nicht - darf insbesondere mit Blick auf die teleologische Auslegung (§311 WVK) nicht außer Acht gelassen werden, dass der EGMR „evolutiv nach den zeitgenössischen Vorstellungen von der Reichweite eines Grundrechts" fragt und sich im Rahmen dieser sog. „Konsensmethode" ein Stück weit von der Normtextbindung lösen kann.33 Dabei berücksichtigt er insbesondere die Praktiken und rechtsnormativen Anschauungen der Konventionsstaaten und reflektiert diese auf den Gehalt der Konventionsgarantien.34
[...]
1 Kahleck (Generalsekretär des ECCHR), Spiegel Interview vom 14.02.2020, https://www.spie- gel.de/ausland/abschiebung-ohne-asylantrag-das-urteil-macht-die-festung-europa-dicht-a- 7flffff7-a646-4fbb-a892-13ff9dc66ef5 [Stand: 08.5.2021).
2 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951 [BGB. II 1953 S. 559).
3 Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafevom 06.10.1986 [BGBl. 1985 III S. 285).
4 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.11.1950 [BGBl. 1952IIS. 685).
5 VO [EG] Nr. 2007/2004 des Rates vom 26.10.2004, ABI. Nr. L 349/1 [außer Kraft seit 05.10.2016); VO [EU] 2016/1624 des Europäischen Paralments und des Rates vom 14.9.2016, AB1.L251/1.
6 Europäische Kommission, Fortschrittsbericht über die Umsetzung der Europäischen Migrationsagenda vom 06.3.1019, S. 5.
7 Schäfer, Zuwanderung: Chance und Herausforderung, Wirtschaftsdienst [2014/3] S. 169.
8 Lübbe, EuR 2020,450,451; EGMR [GK], Entsch. v. 23.2.2012 - 27765/09 [Hirsi], NVwZ 2012, S. 809; EGMR [GK], Entsch. v. 21.1.2011 - 39606/09 [M.S.S.], NVwZ 2011, S. 413.
9 UNHCR, Submission by the Office of the United Nations High Commissioner for Refugees in the cases of N.D. and N.T. v. Spain, bevor the European Court of Human Rights, https:// www.refworld.org/pdfid/59d3a81f4.pdf [Stand: 08.5.2021]; Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Resolution 2299, Pushback policies and practice in Council of Europe member States, 28.06. 2019.
10 w Lubbe, EuR 2020, 450, 451; ECCHR, Der Fall N.D. und N.T. gegen Spanien, https://www.ec- chr.eu/fall/nd-und-nt-gegen-spanien/ [Stand: 08.5.2021],
11 EGMR (GK), Urteil v. 20.02.2020 - (N.D. & N.T./Spanien), Ziff. 21-31.
12 EGMR (GK), Urteil v. 20.02.2020 - (N.D. & N.T./Spanien), Ziff. 152-163.
13 EGMR, Urteilv. 03.10.2017 (N.D. & N.T./Spanien}; ECHR 291 (2017).
14 EGMR (GK), Urteil v. 20.02.2020 - (N.D. & N.T./Spanien).
15 Skordas, The Twenty-Day Greek-Turkish Border Crisis (Part I & II), EU Immigation and Asylum Law Blog v. 5.-8.5.2020, https://eumigrationlawblog.eu/the-twenty-day-greek-turkish- border-crisis-and-beyond-geopolitics-of-migration-and-asylum-law-part-ii/ (Stand: 08.5.2021).
16 Kommission, Migrations- und Asylpaket, COM (2020) 609 v. 23.9.2020.
17 Groß, Grund- und menschenrechtliche Grenzen der Migrationssteuerung, JZ 74 2019, 327ff.
18 BGBl. 1952 II, 685, 953; 1968 II, 1111,1120; 1989 II, 546.
19 Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim, Raumer, EMRK Handkommentar, Art. 1 Rn. 1-4.; Herdegen, Völkerrecht, § 14 Rn. 17.
20 EGMR (GK) Entsch. v. 03.05.2020 - 3599/18 (M.N. u.a./Belgien).
21 EGMR (GK) Urteil v. 23.3.2012 - 27765/09 (Hirsi Jamaa u.a./Italien); EGMR Entsch. v. 29.6.2006 - 26937/04 (Treska/Albanien u. Italien).
22 vgl. EGMR (GK), Urteil v. 20.02.2020 - (N.D. & N.T./Spanien), Ziff. 89-111.
23 Vitzthum, Proelß, Völkerrecht, 3. Abs. Rn. 252b.
24 EGMR (GK) Urteil v. 20.02.2020 - (N.D. & N.T./Spanien), Ziff. 91.
25 EGMR [GK] Urteil v. 20.02.2020 - (N.D. & N.T./Spanien), Ziff. 91.; The Guardia Civil border control operations protocol of 26.2.2014.
26 EGMR (GK), Urteilv. 20.02.2020 - (N.D. & N.T./Spanien), Ziff. 110 f.
27 EGMR (GKJ, Urteil v. 20.02.2020 - (N.D. & N.T./Spanien), Ziff. 166.
28 Pöschl, in: Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art. 4 4. ZPEMRK, Rn. 1; Henckaerts, HRLJ, 1994, 301 f.; Stöver, Jahrhundert der Kriege, Jahrhundert der Flüchtlinge, S. 261f.; Leß- mann, Menschenrechtliches Verbot der Kollektivausweisung, S. 189.
29 RV 1202 BlgNr 11. GP, 17; Travaux préparatoires [FN 9], 446,481, 505.
30 Grabenwarter/Pabel, EMRK, §21 Rn. 89.
31 ViHinger, Handbuch EMRK, Rn. 251.
32 Mayer, in: Karpenstein, Mayer, EMRK Kommentar, Einleitung Rn. 51; Grabenwärter/Pabel, EMRK, § 5 Rn. 16.
33 Rone, Die Menschenwürde als Prinzip der EMRK, S. 79 ff.
34 EGMR (GK), Urteil v. 16.09.2014 - (Hassan v. United Kingdom), Ziff. 101; EGMR (GK), Urteil v. 20.02.2020 - (N.D. & N.T./Spanien), Ziff. 172; Rone, Die Menschenwürde als Prinzip der EMRK, S. 86.