1. Definition und Uneinigkeit über den Begriff „Vulgärlatein“
Die Bezeichnung „Vulgärlatein“ ist auf den von Cicero gebrauchten Ausdruck sermo vulgaris zurückzuführen, der als „gesprochenes“ oder „Umgangslatein“ übersetzt werden kann.
Der Begründer der modernen vergleichenden Grammatik der romanischen Sprachen, der deutsche Romanist Friedrich Diez, hat den Begriff des Vulgärlateins erstmals wissenschaftlich bestimmt. Das Volkslatein identifizierte er als eine Sprache, die in der Kaiserzeit von Legionären, Kaufleuten, Kolonisten und Beamten gesprochen wurde. Diese Sprache unterschied sich vom klassischen Latein in phonetischer, morphologischer, syntaktischer und lexikalischer Hinsicht.
Der von Diez entwickelte Begriff „Vulgärlatein“, der nunmehr allgemein von Sprachwissenschaftlern und Philologen übernommen wurde, gibt dennoch immer wieder Anlaß zu Mißverständnis. Denn es handelt sich keinesfalls nur um das von den unteren Volksschichten, den Lastträgern, Gladiatoren, Sklaven und Prostituierten gesprochene Latein, sondern um ein allen Volksklassen gemeinsames und in sich variables Latein. Es hat nie ein vollkommen einheitliches Vulgärlatein gegeben, es ist keine real historische Sprache, sondern stellt lediglich eine Abstraktion dar, die das „ererbte“ lateinische Element in den romanischen Sprachen erklärt1.
Für den italienischen Sprachwissenschaftler Matteo Bartoli besteht der Unterschied zwischen dem klassischen Latein und dem Vulgärlatein in der Chronologie, d.h. dem Alter der Formen: das klassische Latein, welches in seinen Anfängen aus „lebendigen“ (gesprochenen) Formen bestand, bewahrte eine immer größer werdende Anzahl älterer Formen, d.h., aus der gesprochenen Sprache schon ausgeschiedener Formen, während das Vulgärlatein eine immer größer werdende Zahl von Innovationen aufwies. Es handelt sich also weniger um eine Unterscheidung zwischen zwei „Sprachen“ oder um Unterschiede, die zwischen der literarischen Sprache und der gesprochenen Sprache immer existieren, als vielmehr um ältere und neuere Formen, um Konservation und Innovation2.
Das Vulgärlatein besitzt also aufgrund diatopischer, diastratischer und diaphasischer Faktoren keine Einheitlichkeit: je nach Region, d.h. infolge von Substrateinflüssen (diatopisch), sozio-kulturellem Bildungsstand (diastratisch) oder Ausdrucksabsicht (diaphasisch) sprach man ein „anderes“ Vulgärlatein.