Inhaltsverzeichnis
A. Einleitung
B. Definition und Charakterisierung aphasischer Sprachstörungen
C. Abgrenzung zu anderen Sprachstörungen
D. Klassifizierung aphasischer Sprachstörungen
1. Kriterien zur Klassifizierung
a. Der „Western Aphasia Battery“, eine Methode
b. Auswertung
2. Die Broca-Aphasie
3. Die Wernicke-Aphasie
4. Die globale Aphasie
5. Die amnestische Aphasie
E. Schlussbemerkung
F. Bibliographie
A. Einleitung
Der Begriff „Aphasie“, der aus dem Griechischen stammt und sich als „Verneinung der Sprache“ übersetzen läßt, wurde im Jahre 1864 erstmals von dem französischen Linguisten Trousseau eingeführt.1 Die Hintergründe aphasischer Sprachstörungen werden seit über einhundertfünfzig Jahren unter verschiedenen Gesichtspunkten wissenschaftlich untersucht. Der russische Literaturwissenschaftler und Linguist Roman Jakobson beklagte in den vierziger Jahren noch eine mangelnde Interdisziplinarität auf diesem Gebiet und hielt eine fachübergreifende Herangehensweise für notwendig, um die Problematiken dieser Art von Sprachstörung nachvollziehen und vollständig verstehen zu können.2 Die Aphasieforschung hat in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen. Durch das gemeinsame Interesse von Neurologen, Psychologen und Linguisten an bestimmten Phänomenen, entstanden interdisziplinäre Forschungsgebiete, wie zum Beispiel die Neuropsychologie oder die Psycholinguistik. Hier wurden neue Erkenntnisse über die Funktionen des menschlichen Gehirns, insbesondere über die Organisation von Sprache, gewonnen. Man fand unter anderem heraus, dass für die verschiedenen sprachlichen Modalitäten, für das Sprechen, das Verstehen, das Schreiben und das Lesen, unterschiedliche Bereiche des Gehirns aktiviert werden. Erst durch die parallelen anatomischen und linguistischen Untersuchungen von Sprachstörungen wurde es möglich, mentale Prozesse der Sprachverarbeitung zu begreifen und Therapiemethoden zu entwickeln.
In dem ersten Kapitel meiner Arbeit soll der Begriff „Aphasie“ definiert, und ein allgemeiner Überblick über die medizinisch-biologischen und die linguistischen Hintergründe und Zusam- menhänge vermittelt werden. In dem darauffolgenden Abschnitt soll geklärt werden, wodurch sich aphasische Sprachstörungen von anderen Sprachstörungen unterscheiden, und aufgrund welcher Kriterien differenziert wird. In dem dritten Teil meiner Arbeit, beschäftige ich mich mit der Problematik der Klassifizierung von Aphasien. Zunächst werde ich erläutern, nach welchen Kriterien Aphasiesyndrome allgemein klassifiziert werden. Im Zuge dessen stelle ich dann kurz die „Western Aphasia Battery“-Methode vor. An diesem Beispiel möchte ich eine mögliche wissenschaftliche Vorgehensweise veranschaulichen, um anschliessend ansatzweise auf die erlangten Ergebnisse einzugehen. Im Anschluss daran werde ich die drei geläufigsten Aphasiesyndrome und eine eher als Sonderfall angesehene Form der Aphasie beschreiben und die jeweils typischen sprachlichen Fehlleistungen erläutern.
B. Definition und Charakterisierung aphasischer Sprachstörungen
Mit Hilfe der folgenden Definition soll Aphasie als eine Form von Sprachstörung genauer erklärt werden.
Aphasien sind Sprachstörungen, die durch Erkrankungen des zentralen Sprechapparates bedingt sind, und bei intaktem Sprechwerkzeug und erhaltener Intelligenz mit dem Verlust, Begriffe in Wort- bzw. Schriftbilder umzusetzen oder Gesprochenes und Geschriebenes begrifflich aufzunehmen, einhergehen.3
Bei aphasischen Störungen handelt es sich also um eine Schädigung des zentralen Nerven- systems bzw. um eine Erkrankung der Sprachregion im Gehirn, welche bei 95% der Menschen der linken Hemisphäre zugeordnet wird und in der Hirnrinde um die mittlere Hirnschlagader angesiedelt ist. Sowohl bei Rechtshändern als auch bei Linkshändern geht man mittlerweile davon aus, dass sich das Sprachzentrum in der linken Hemisphäre befindet.4 Bei direkten Schädigungen der Sprachzentren in der Gehirnrinde, spricht man von kortikalen Läsionen. Wenn die Verbindungen zwischen den Sprachzentren unterbrochen sind, handelt es sich um eine transkortikale Aphasie.5
Die kortikalen Läsionen, die für die in dieser Arbeit behandelte Form der Aphasie relevant sind, werden bei ca. achtzig Prozent der Betroffenen durch einen Schlaganfall hervorgerufen. Die Ursachen hierfür sind Durchblutungsstörungen im Gehirn, die zu Gerinselbildungen und somit zum Absterben von Gewebe führen. Man spricht in diesem Fall von einer zerebro- vaskulären Läsion.6 In den anderen Fällen ist die Läsion traumatisch bedingt, d.h. die Verletzung entsteht durch äussere Gewalteinwirkung, wie zum Beispiel bei Schädel-Hirn- Traumata. Die im Zuge eines Schlaganfalls auftretenden Sprachschwierigkeiten können sich innerhalb von ein paar Monaten regenerieren, während die traumatisch hervorgerufenen Störungen länger bestehen bleiben.7 Die Störungen, die in den ersten fünf Monaten nach dem sogenannten „arrest of disease“8 nicht regeneriert werden, sind in den meisten Fällen permanent.
Die kortikalen Verletzungen können sowohl zu Beeinträchtigungen der expressiven als auch der rezeptiven Sprachleistungen führen. Mit anderen Worten, es treten in individueller Kombination und mit unterschiedlichen Schwerpunkten, Probleme beim Sprechen, Schreiben, Sprachverständnis und beim Lesen auf.
Die expressive Sprachleistung eines Aphasikers, die Sprachproduktion, ist auf der Ebene der Sprachverarbeitung gestört, wobei die Redeabsicht im Vorwege problemlos generiert werden kann. In der oben aufgeführten Definition wird dieser Aspekt als „erhaltene Intelligenz“ bezeichnet. Der Aphasieforscher Wernicke sagte dazu: „Denken und Sprechen sind zwei voneinander ganz unabhängige Prozesse,[...]“9. Das „Denken“, das einer seperaten Gehirnregion zugeordnet wird, ist von der Läsion nicht betroffen.
Auch die Sprechorgane, d.h. die Stimmbänder, der Kehlkopf usf., sind intakt, und Laute können produziert werden. Wenn man den Vorgang der Sprachproduktion bei Aphasikern anhand eines dreischrittigen Models beschreibt, kann man sagen, dass zwar die vorausgehende Generierung der Botschaft ungestört verläuft, und dass auch die abschlies- sende Artikulation physisch möglich ist. Der automatische Prozess jedoch, der in der Regel die Redeabsicht in Laute umsetzt, verläuft fehlerhaft, und die Botschaft wird nicht den Normen entsprechend kodiert.
Um zu verdeutlichen, auf welcher linguistischen Ebene die Störung auftritt, möchte ich zwei weitere Teildefinitionen anführen.
1) [Unter Aphasie versteht man die] Störung der zentralen Mechanismen der Sprachverwendung, nicht jedoch [den] Verlust der Sprachkompetenz.10
2) [...] etwas was wir erlernt haben, ein Gedächtnisbesitz, geht verloren.11
Aus dem ersten Zitat geht hervor, dass sich die Erkrankung, nach Noam Chomskys Sprach- model, auf der Ebene der Performanz manifestiert, die angeborene Kompetenz jedoch erhal- ten bleibt. Mit anderen Worten ist das Sprachsystem, das nach bestimmten Regeln eine Asso- ziation von Lautbild und semantischem Inhalt ermöglicht, nicht betroffen. Die eigentliche Performanz ist dahingehend gestört, dass diese Regeln nicht korrekt angewendet werden können. Die arbiträre Relation zwischen Lautbild und Inhalt kann nicht fehlerfrei reflektiert werden, und die phonetische Form lässt sich nicht mit ihrer Bedeutung verknüpfen.12
Das zweite Zitat bekräftigt diese Annahme und lässt ausserdem darauf schliessen, dass eine Regenerierung der gestörten Performanz möglich ist. Die Voraussetzungen für die Verwendung von Sprache sind weiterhin gegeben, und die erlernte Performanz kann mit Hilfe bestimmter Übungen und Therapiemethoden reaktiviert werden.
C. Abgrenzung zu anderen Sprachstörungen
Es gibt eine Reihe von Kriterien, aufgrund derer man Aphasie von anderen Sprachstörungen unterscheidet. Von den Wissenschaftlern unterschiedlicher Forschungsrichtungen werden diesbezüglich unterschiedliche Ansichten vertreten und einige Unterscheidungskriterien sind umstritten. Eine Untersuchung unter psychologischen Gesichtspunkten führt unter Umständen zu einer anderen Differenzierung als ein pathologischer Ansatz. Einige Kriterien werden jedoch als allgemein gültig behandelt.
Zum einen werden aphasische Störungen von Sprachstörungen im Zuge degenerativer Er- krankungen aufgrund ihres plötzlichen Auftretens abgegrenzt. Für degenerative Krankheits- bilder, wie z.B. Alzheimer, sind Störungen der Sprachproduktion und des Sprachverständ- nisses symptomatisch. Sie zeichnen sich im Gegensatz zur plötzlich auftretenden Aphasie jedoch durch einen über längere Zeit fortschreitenden Zellverfall aus. Ausserdem gehen Erkrankungen dieser Art häufig mit Demenz bzw. mit einem bleibenden Intelligenzdefekt einher.13 Wie im ersten Abschnitt bereits besprochen, ist die Intelligenz bei aphasischen Symptomen hingegen unbeeinträchtigt.
Ein weiteres Kriterium ist die bereits erwähnte Funktionsfähigkeit der Artikulations- und Gehörorgane. Störungen des bulbären Apparates im Gehirn, die sogenannten arthrischen Läsionen, führen zu sprachmotorisch fehlerhaften Lautbildungen aufgrund mangelnder Koordination der Sprechmuskulatur.14 In anderen Fällen sind die Organe direkt betroffen, und es kommt so zu organisch bedingten Sprachstörungen.15 Auch periphere Gehördefekte können mit Sprachstörungen einhergehen, entstehen aber auch durch eine direkte Verletzung des Gehörapparates. Bei Aphasikern hingegen ist weder der bulbäre Apparat beschädigt, noch sind die Sprech- bzw. Hörwerkzeuge defekt.
Einige Forscher, die sich mit Sprachstörungen befassen, unterscheiden zwischen der in dieser Arbeit besprochenen Form der Aphasie und der sogenannten „kindlichen Aphasie“.16 Sie gehen davon aus, dass die bei Erwachsenen, also die nach vollendetem Spracherwerb auftretende Form, andere Problematiken aufwirft als die „kindliche Aphasie“, die auftritt, bevor der Spracherwerb vollständig abgeschlossen ist. Die „kindliche Aphasie“, die für Kinder zwischen vier und zehn Jahren definiert ist, weist zwar eine der Aphasie bei Erwachsenen ähnlichen Symptomatik auf, man geht bei Kindern jedoch von einer weitaus besseren Prognose aus, da sie sich mitten im aktiven Spracherwerbsprozess befinden. Dies macht eine vollständige Reaktivierung der Sprachperformanz sehr viel wahrscheinlicher.
D. Klassifizierung aphasischer Sprachstörungen
In der Aphasieforschung wird zwischen einer Vielzahl aphasischer Syndrome unterschieden. Die Schemata zur Klassifizierung dieser Syndrome werden von jedem Forscher individuel gestaltet und angewendet. Sie werden in Hinblick auf bestimmte Schwerpunkte der Untersu- chung entworfen. Eine Klassifizierung ist zwar nicht immer unproblematisch und völlig eindeutig, es gibt jedoch einige weitgehend gültige Kriterien, anhand derer eine Einteilung vorgenommen werden kann.
1. Kriterien zur Klassifizierung
Aphasische Sprachstörungen lassen sich also nach bestimmten Kriterien in unterschiedliche Aphasie-Typen unterteilen. Um einen konkreten Fall von Aphasie einer speziellen Form zu- ordnen zu können, müssen mehrere Aspekte untersucht werden. Zum einen ist das Kriterium der Ätiologie für die Unterscheidung relevant, d.h. es werden Informationen über die Faktoren, die zu der Erkrankung geführt haben, benötigt. Eine auf bestimmte Weise hervorgerufene Form der Verletzung lässt sich meistenteils mit konkreten Symptomen assoziieren. Anhand der Kenntnis über die Ursachen, lässt sich also eine erste Einteilung vornehmen.
Zum anderen werden Zuordnungen aufgrund des Läsionsortes gemacht17. Mit Hilfe der Kern- spintomographie wird ermittelt, welcher Teil der Sprachregion betroffen ist, d.h. in welchem Bereich um die mittlere Hirnschlagader die Verletzung lokalisiert ist. Der französische Chirurg und Physiologe Paul Broca erforschte gegen Ende des letzten Jahrhunderts das mo- torische Sprachzentrum und fand heraus, dass eine Erkrankung dieser Region vorrangig zu Störungen des Artikulationsvermögens führt. Dieses Gebiet wird als „Broca-Areal“ und das entsprechende Krankheitsbild als „aphasie motrice“ bzw. als „Broca-Aphasie“ bezeichnet. Der Linguist Wernicke konzentrierte seine Untersuchungen auf das sensorische Sprach- zentrum, dessen Läsion vorrangig zu einer Beeinträchtigung des Sprachverständnisses führt. Diese Form der Aphasie bezeichnet man als „aphasie sensorielle“ oder als „Wernicke- Aphasie“. Man unterscheidet auch heute noch unter anderem zwischen der Broca- und der Wernicke-Aphasie und sieht diese als wichtigste und geläufigste Aphasieformen an. Sie werden aufgrund spezifischer Symptome unterschieden, auf die ich an späterer Stelle näher eingehen werde.
Die Merkmale der sogenannten Spontansprache des Aphasikers sind ein weiteres Kriterium zur Differenzierung. Die Geschwindigkeit und der Sprachfluss im Dialog, z.B. mit einem Therapeuten, werden beurteilt. Bestimmte Satzstrukturen, spezielle Formulierungen und pho- nologische Realisierungen werden analysiert und einer konkreten Form der Aphasie zugeord- net.
Weiterhin sind die Schwerpunkte der Störung ein Kriterium zur Klassifizierung.18 Es gilt herauszufinden, auf welcher linguistischen Ebene sich die Störung am Stärksten äussert, d.h. ob der Aphasiker verstärkt phonologische, morphologische, syntaktische oder semantische Fehler produziert, bzw. in welchen Kombinationen die verschiedenen Ebenen betroffen sind. Auch aufgrund der Relation, in der expressive und rezeptive Leistungen beeinträchtigt sind, lässt sich die Störung klassifizieren. Typische Begleiterscheinungen der Gehirnverletzung, wie z.B. Seh- und Konzentrationsstörungen, geistige Verwirrung, Gedächtnislücken und emo- tionale Labilität können sich auf die Sprache des Betroffenen auswirken und die Ergebnisse der Untersuchungen beeinflussen.
a. Der „Western Aphasia Battery“, eine Methode
Die „Western Aphasia Battery“ ist eine Methode zur Untersuchung der Symptome bei Apha- sikern, die in den siebziger Jahren von Kertesz und Poole entwickelt wurde.19 Sie besteht aus einem zweigeteilten Befragungssystem, das zum einen die expressiven und zum anderen die rezeptiven Leistungen des Erkrankten testen soll. Um Klarheit über die Spontansprache zu erlangen, werden dem Aphasiker beispielsweise Fragen über seine Erkrankung oder sein Berufsleben gestellt. Ausserdem werden Besonderheiten der Sprache anhand von Bildbe- schreibungen ermittelt. Um Aufschluss über die rezeptiven Sprachleistungen zu erhalten, werden allgemeine Fragefolgen mit einfachen Ja-Nein-Antworten konzipiert. Mit Hilfe dieser Tests sollen die Erkrankten einem bestimmten Aphasie-Typen zugeordnet werden.
Die folgende Tabelle zeigt, nach welcher Vorgehensweise der Broca-, der Wernicke- und der globale Aphasiker klassifiziert wurden, und wie sich die unterschiedlichen Typen auf den beiden Ebenen voneinander unterschieden.
Auf einer Skala von 0 bis 10 ( 0 = stark gestört; 10 = gut erhalten ) wurden die Sprachleistungen der Erkrankten bewertet.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
( aus: Arbib,M. et al (Hgg.). 1982 . Neural Models of Language Processes. New York: Academic Press.)
b. Auswertung
Die erste Spalte der Tabelle gibt Auskunft über den Sprachfluss der Spontansprache des Aphasikers, also über seine expressiven Leistungen. Der Hauptunterschied zwischen der Broca- und der Wernicke-Aphasie wird hier sehr deutlich. Der Sprachfluss ist beim BrocaAphasiker stark und beim Wernicke-Aphasiker kaum bis gar nicht beeinträchtigt. Bei globaler Aphasie ist die Spontansprache wesentlich gestört.
Die zweite Spalte zeigt die Ergebnisse für die rezeptiven Leistungen, das Sprachverständnis. Für den Broca-Aphasiker zeigt sich ein durchschnittlich gut erhaltenes Sprachverständnis, während der Wernicke-Aphasiker auf dieser Ebene relativ starke Störungen aufweist. Anhand der dritten Kategorie soll die Aufnahme einer Botschaft und ihre anschliessende Umwandlung bzw. Wiederholung untersucht werden. Die aufgeführten Werte machen deutlich, dass der globale Aphasiker grössere Schwierigkeiten bei der Reproduktion hat, als die anderen beiden Typen, bei denen die Werte stark variieren.
Die Ergebnisse der vierten Spalte unterscheiden sich nur leicht untereinander und variieren innerhalb eines Typs relativ stark. Die Benennung von Objekten, d.h. das Wiedererkennen eines Gegenstandes und die Zuordnung einer Lautkette, ist beim Broca-Aphasiker am Geringsten und beim globalen Aphasiker am Stärksten beeinträchtigt.
Durch diese Ergebnisse lässt sich schon erkennen, wodurch sich die drei Haupttypen auszeichnen. Andererseits wird auch sichtbar, dass kaum generell zutreffende und allgemeingültige Schlüsse für die einzelnen Syndrome gezogen werden können.
2. Die Broca-Aphasie
Die Broca-Aphasie, auch motorische Aphasie genannt, ist zum einen durch das betroffene Hirnareal definiert, das um die vorderen Äste der mittleren Hirnschlagader lokalisiert ist. Es umfasst im Vergleich zu den bei anderen Aphasieformen betroffenen Gebieten einen mittelgrossen Bereich des Gehirns.20
Der Broca-Aphasiker leidet hauptsächlich unter Störungen der expressiven Sprachleistungen. Seine Sprache ist auffallend langsam und stockend. Er ist zum Teil nicht in der Lage, Worte in einen sinnvollen Zusammenhang einzubetten. Dies bezeichnet man auch als „Wortstummheit“.21 Seine Rede zeichnet sich also durch eine nicht-flüssige Spontansprache aus. Der Broca-Aphasiker ist sich seiner Sprachschwierigkeiten bewusst und wird davon innerhalb einer Konversation stark verunsichert. Dies trägt natürlich dazu bei, dass der Sprechvorgang stärker gehemmt wird und eine Therapie relativ schleppend verläuft. Das Wortklangbild, das Sprachverständnis und der schrifliche Ausdruck sind hingegen relativ gut erhalten.
Ein typisches Symptom für die Spontansprache sind die sogenannten phonematischen Paraphasien, die eine inadäquate Realisierung von Phonemen bezeichnen.22 Paraphasien können alle linguistischen Ebenen betreffen; auch morphologische, syntaktische und semantische Paraphasien treten im Zuge von Sprachstörungen auf. Phonematische Paraphasien, bzw. Vereinfachungen und Vertauschungen von Lautketten, sind Störungen der Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens. Der unterscheidende Wert der Laute in den willkürlichen Sprachzeichen ist verloren gegangen, d.h. die Zielform des sprachlichen Zeichens wird nicht erreicht, die Inhaltsseite ist davon nicht betroffen.
Phonematische Paraphasien äussern sich durch:
a) Hinzufügen von Phonemen, z.B. Papra statt Papa
b) Substituierung von Phonemen, z.B. Kubel statt Kugel
c) Auslassung von Phonemen , z.B. Lam_e statt Lampe
d) Umstellung von Phonemen, z.B. Stipal statt Spital.
Der sogenannte Agrammatismus ist ein weiteres Charakteristikum der Sprache des BrocaAphasikers und zeichnet sich durch eine stark vereinfachte grammatische und syntaktische Struktur aus.23 Es werden zum einen hauptsächlich Inhaltswörter verwendet und die Verarbeitung von grammatisch komplexeren Funktionswörtern vermieden. Zum anderen werden Infinitive bevorzugt eingesetzt, um die Probleme der Flexionsbildung zu umgehen. Grammatikalische Elemente wie Artikel oder Deklinations- und Konjugationsmorpheme werden häufig ausgelassen. Anstelle einer Situationsbeschreibung wie dieser:
(1) Ein Mann sitzt auf der Couch, liesst Zeitung und raucht dabei Pfeife., würde der Broca- Aphasiker beispielsweise sagen: (1a) Pfei...der Mann rauchen... Zeitung lesen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von „Telegrammstil“, der durch unvollständigen Satzbau geken- nzeichnet ist.
Die Prognose für die Regenerierung der Sprachperformanz eines Broca-Aphasikers ist im Verhältnis zu den in den folgenden Abschnitten besprochenen Formen am Besten.
3. Die Wernicke-Aphasie
Der Wernicke-Aphasie, die auch als sensorische Aphasie bezeichnet wird, liegt eine Schä- digung im hinteren Bereich um die mittlere Hirnschlagader zugrunde. Der betroffene Teil der Sprachregion, das Wernicke-Areal, ist im Vergleich zum Broca-Areal kleiner.24 Die Sprachleistungen des Wernicke-Aphasikers sind vorrangig auf der rezeptiven Seite be- einträchtigt. Das Verständnis des Wortsinnes, d.h. hauptsächlich die Ebene der Wortsemantik, ist gestört. Dies äussert sich, indem Inhaltswörter nicht richtig aufgenommen und entschlüs- selt werden können. Die Aufnahme von Wörtern kann auch auf der phonologischen Ebene fehlerhaft verlaufen. Analog zu der „Wortstummheit“ des Broca-Aphasikers, bezeichnet man die rezeptiven Störungen des Wernicke-Aphasikers als „Worttaubheit“.25 Seine Spontan- sprache ist zwar durch einen semantisch merkwürdigen bis unverständlichen Jargon gekenn- zeichnet, da er sich dessen jedoch nicht bewusst ist, produziert er eine flüssige und rhythmische Rede. Die Schreib- und Leseleistungen sind stark beeinträchtigt. Beim Vorlesen eines Textes gibt der Betroffene in verhältnismässig hohem Tempo sinnlose Sprache wieder. Auf der expressiven Seite ist die Sprachproduktion unter anderem durch semantische Para- phasien gekennzeichnet. Der Erkrankte paraphasiert auf der Inhaltsebene, d.h. er vereinfacht Wörter, behält aber eine inhaltliche Nähe zum Zielwort bei. Er benutzt zum Beispiel Ausdrücke wie dingsda oder die sache, um auf ein Inhaltswort zu verweisen.26 Ein weiteres Charakteristikum für die Spontansprache des Wernicke-Aphasikers ist der Para- grammatismus. Es wird hier zwar eine bisweilen komplexe Satzstruktur gebildet, der produzierte Satz wird jedoch dann ungrammatisch realisiert.27 Es kommt zu in der Reihenfolge falsch angeordneten Funktionswörtern und inhaltlichen Verdoppelungen. Auch die Flexionsbildung ist problematisch, und es treten häufig Fehler bei der Deklination, der Konjugation und bei dem Gebrauch von Artikeln auf. Ganz typisch für den Paragrammatismus sind Verschränkungen innerhalb des Satzgebildes. Da werden zwei inhaltlich gleichbedeutende Satzteile, wie zum Beispiel woran das lag und wovon das kam, miteinander vermischt, und es entsteht zum Beispiel * woran das kam.
Die Spontansprache des von Wernicke-Aphasie Betroffenen ist ausserdem noch durch die typischen „abstrusen Neologismen“ gekennzeichnet28. Dies sind Wortformen ohne für den Hörer erkennbaren Bezug zu einer bestimmten Zielform. Es werden scheinbar willkürlich Phoneme aneinandergereiht, und es entstehen unverständliche, für den Hörer bedeutungslose Lautketten.
Die Prognose für die Wiedererlangung der Sprachperformanz ist für den Wernicke-Aphasiker weniger gut als für den Broca-Aphasiker.
4. Die globale Aphasie
Bei der globalen Aphasie ist die gesamte Sprachregion von der Läsion betroffen; sie vereinigt sensorische und motorische Störungen. Beide Modalitäten, sowohl die expressiven als auch die rezeptiven Sprachleistungen, sind stark beeinträchtigt.29 Die Ausdrucksmöglichkeiten des globalen Aphasikers sind extrem reduziert, die Spontansprache sehr karg und zum Teil auf ein paar einzelne Wörter beschränkt. Das Sprachverständnis, die Schreib- und Leseleistungen sind auch stark gestört. Charakteristisch für die Spontansprache sind sogenannte Sprachauto- matismen, auch „recurring utterances“ genannt30. Dies sind inhaltlich inadäquate und quasi- zwanghafte, formstarre Wiederholungen von Silben oder Wörtern, die keinen Zusammenhang zum Kontext erkennen lassen. Es werden einzelne Laute aneinandergehängt, die kaum phonologische Variabilität aufweisen und für den Hörer keinen semantischen Wert haben. Es kommt dann zum Beispiel zu nicht-lexikalischen Äusserungen wie: ma-ma-ma, ja... da. ma- ma-ma,äh, ja...
Ein weiteres Charakteristikum der Spontansprache des globalen Aphasikers ist die Persevera- tion, die aus einem ungewollten „Hängenbleiben“ an einzelnen Lauten, Silben oder Worten besteht. Der Sprecher möchte etwas ausdrücken, kommt aber von dem vorher Gesagten bzw. Gehörten nicht los.31
Die Prognose für die Regeneration der Sprachstörung des globalen Aphasikers ist im Vergleich zu den anderen Formen der Aphasie am Schlechtesten.
5. Die amnestische Aphasie
Die amnestische Aphasie gilt allgemein als die leichteste Erscheinungsform und wird von einigen Wissenschaftlern als eigenständiges Krankheitsbild angezweifelt, während andere sie als „wirkliche“ Aphasie bezeichnen.32 Sie entsteht durch eine Läsion des hinteren Hirn- bereiches, eine genaue und klare Lokalisierung des betroffenen Gebietes ist jedoch schwierig.33 Diese Form der Aphasie ist durch erhebliche Wortfindungsschwierigkeiten gekennzeichnet, welche zwar auch bei anderen Aphasiesyndromen auftreten, jedoch stets mit weiteren Störungen der Sprachleistung einhergehen. Der amnestische Aphasiker ist durchaus in der Lage, ein Gespräch zu führen, und er hat dabei keine grösseren Verständnisprobleme. Sein Sprachfluss ist gut erhalten, und er ist fähig, einen verständlichen Satz zu konstruieren.34 Besonders wenn er einen Gegenstand benennen soll, ist er oft nicht in der Lage, den adäquaten Ausdruck zu finden. Diese Wortfindungsschwierigkeiten versucht er, mit Ersatzstrategien auszugleichen.35 Er benutzt dann zum Beispiel Füllwörter wie dingsda oder Oberbegriffe wie Tier anstelle von Hund. Ausserdem weicht er häufig auf eine Beschreibung des Gebrauches oder der Eigenschaften des jeweiligen Gegenstandes aus und produziert Aussagen wie zum Beispiel: (2) das Ding um die Hose zu halten anstelle von (2a) der Gürtel. Die Rede des amnestischen Aphasikers wirkt zwar relativ intakt, hat jedoch einen ziemlich geringen Informationsgehalt.
Amnestische Aphasien entstehen hauptsächlich durch kortikale Verletzungen oder im Zuge degenerativer Hirnerkrankungen. Diese Ursachen sind nur für zwanzig Prozent der Aphasie- Fälle relevant. Man betrachtet diese Form der aphasischen Sprachstörung als einen Sonderfall.
E. Schlussbemerkung
Ich habe mich in meiner Arbeit in erster Linie darauf konzentriert, dem Leser eine allgemeine Einführung in das psycholinguistische Phänomen der Aphasie zu geben. Unter anderem ergab sich dabei, dass das Krankheitsbild der Aphasie komplexe und schwierig zu klassifizierende Symptome aufweist. Wie ich im Laufe der Arbeit bereits andeutete, herrscht unter Wissen- schaftlern weder Einigkeit über die klare Abgrenzung von Aphasien gegenüber anderen Sprachstörungen noch über die Klassifizierung einzelner Symptome. Ich habe mich mit meinen Ausführungen auf jene Aspekte beschränkt, welche mir bei meiner Recherche mehrmals auffielen und scheinbar von einer Mehrheit der Autoren als relevante Kriterien angesehen werden. Auf die Gegenüberstellung kontroverser Ansichten habe ich weitgehend verzichtet, da eine ausführliche Behandlung dieser Problematik der Arbeit einen inhaltlichen Schwerpunkt gegeben hätte, den ich nicht für angemessen hielt. Es schien mir hingegen wichtiger, die in der Literatur hauptsächlich besprochenen Formen der Aphasie zu charakteri- sieren und auf ihre typischen sprachlichen Symptome einzugehen. In der Praxis sind die individuellen Krankheitsbilder jedoch selten einem konkreten Typen zuzuordnen. Es kommt häufig vor, dass symptomatische Mischformen auftreten, wenn z.B. die Verletzung kein abgegrenztes, „reines“ Gebiet betrifft. Es kommt bei der Klassifizierung einer Aphasie also darauf an, die Symptome relativ zu bewerten und durch bestimmte Tests, die Schwerpunkte der Störung zu ermitteln. Die in dieser Arbeit vorgestellte Methode, der „Western Aphasia Battery“, ist nur einer von vielen Tests zur Untersuchung der Spontansprache von Aphasikern.
Ein weiterer interessanter Aspekt des Themas dieser Arbeit ist die Therapie aphasischer Sprachstörungen. Ich habe auf dessen Behandlung verzichtet, da dies zum einen den Rahmen einer Proseminarsarbeit gesprengt hätte und zum anderen einen eher heilpädagogischen Ansatz verlangt hätte.
F. Bibliographie
- Arbib, M. A. et al. (Hgg.), Neural Models of Language Processes, New York 1982.
- Blanken, G. (Hg.), Einführung in die linguistische Aphasiologie, Freiburg 1991.
- Evers-Volpp, D., Sprachwissen und Sprechverhalten bei aphasischen Sprachstörungen, Tübingen 1988.
- Jakobson, R., Kindersprache, Aphasien und allgemeine Lautgesetze, Frankfurt a.M. ²1969.
- Lenneberg, E.H., Biological Foundation of Language, New York 1967.
- Tesak, J., Einführung in die Aphasiologie, Stuttgart 1997.
- Wernicke, C., Der aphasische Symptomenkomplex, Breslau 1874.
Nachschlagewerke
- Hundsnurscher F. et al. (Hgg.), Terminologie zur neueren Linguistik, Tübingen 1974.
- Knobloch, J. (Hg.), Sprachwissenschaftliches Wörterbuch, Band I, Heidelberg 1961.
[...]
1 Vgl. dazu Evers-Volpp, 1988, S.12
2 Vgl. dazu Jakobson, 1944, S.35f
3 Pschyrembel (1977), S.72f
4 Vgl. dazu Evers-Volpp, 1988, S.6
5 Transkortikale Läsionen äussern sich als “verbale Alexie” (Verlust der Fähigkeit, Gelesenes in Laute umzuwandeln. ) bzw. als “Agraphie”( Verlust der Schreibleistung) Vgl. dazu Knobloch, 1961, S.65 und S. 90f
6 Vgl. dazu Evers-Volpp, 1988, S.16
7 Vgl. ebenda
8 “Arrest of disease” bezeichnet den Zeitpunkt, ab dem die Krankheitssymptome voll entwickelt sind. Vgl. dazu Arbib, 1982, S.27
9 Wernicke (1874), S.53
10 Evers-Volpp (1988), S.14
11 Jakobson (1944) , S.37
12 Vgl. dazu Lenneberg, 1967, S.397f
13 Vgl. dazu Tesak, 1997, S.2
14 Dysarthrien und Anarthrien bezeichnen Lähmungen des Sprechapparates. Vgl. dazu Jakobson, 1944, S.36 und Knobloch (Hg.), 1961, S.121 und S. 688
15 Dyslalien = z.B. Lispeln und Stammeln. Ebda.
16 Vgl. dazu Tesak, 1997, S.3
17 Vgl. dazu Evers-Volpp, 1988, S.15
18 ebenda
19 Vgl. dazu Arbib, 1982, S.26f
20 Vgl. dazu Tesak, 1997, S.42ff
21 Vgl. dazu Evers-Volpp, 1988, S.18
22 Vgl. dazu Blanken (Hg.), 1991, S.48f
23 Vgl. dazu Tesak, 1997, S. 42ff
24 Vgl. ders., S.15
25 Vgl. ders., S.63
26 Vgl. ders., S.11
27 Vgl dazu Blanken (Hg.), 1991, S.199
28 Vgl. dazu Tesak, 1997, S.9
29 Vgl. dazu Evers-Volpp, 1988, S.24
30 Ders. S.25
31 Vgl. dazu Tesak, 1997, S.7
32 Vgl. dazu Evers-Volpp, 1988, S.23
33 Vgl dazu Tesak, 1997, S.45
34 Vgl. ders., S.32
35 Vgl. dazu Evers-Volpp, 1988, S.23