Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffe und Definitionen
2.1 Was ist ein Geheimnis?
2.2 Was ist ein Code? / Codierung / Chiffre
2.3 Geheimsprache / Sprache allgemein
2.4 Codierte Kommunikation / Beispiele für zwischen den Zeilen sprechen und schreiben
3. Leo Strauss: Persecution and the Art of Writing
3.1 Techniken des Schreibens zwischen den Zeilen
3.2 Maimonides´ “Guide for the Perplexed”
4. Schlussbetrachtung
5. Anhang
1. Einleitung
Information war schon immer eine wertvolle Ware, und ihr Besitz oder Nichtbesitz hat im Laufe der Geschichte wiederholt über Wohl und Weh ganzer Nationen entschieden. Wer anderen um Wissen welcher Art auch immer voraus ist, ist meist im Vorteil. Es gibt oft genügend persönliche, politische oder anderweitige Gründe, bestimmtes Wissen für sich zu behalten. Sei es, dass die Sicherheit der eigenen Person oder anderer durch Preisgabe bestimmter Informationen gefährdet wird, sei es dass es sich um Geheimlehren oder religiöse Verbote handelt. Trotzdem gibt es Situationen, in denen es notwendig oder erwünscht ist, Informationen weiterzugeben. Wenn die Informationen aber nur einem eingeschränkten Publikum zugänglich sein sollen, müssen sie versteckt und / oder verschlüsselt werden, um sie vor dem Zugriff anderer zu schützen. Dies ist häufig der Fall, wenn es sich um oppositionelle Meinungsäußerungen in repressiven Herrschaftssystemen handelt. Es kann die Botschaft selbst verborgen werden oder ihr Inhalt. In dieser Arbeit soll es um die inhaltliche Verschlüsselung gehen und verschiedene Möglichkeiten selbiger untersucht werden. Es gibt zahlreiche Variationen der Codierung, aber ich werde mich im folgenden auf das sogenannte „Schreiben zwischen den Zeilen“ konzentrieren. Es sollen Methoden und Schwierigkeiten dieser Art der Mitteilung beleuchtet werden, außerdem Formen der zwischenmenschlichen Kommunikation auf dieser Ebene untersucht werden. Im zweiten Teil stütze ich mich dabei hauptsächlich auf eine Analyse von Leo Strauss aus „Persecution and the Art of Writing“.
2. Begriffe und Definitionen
2.1 Was ist ein Geheimnis?
Im weitesten Sinne ist ein Geheimnis eine „Kenntnis, die auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt ist“1. Die engere Definition kommt allerdings von dem Begriff Mysterium und beschreibt den „dem erklärenden Verstand entzogenen inneren Zustand des Gefühls und der religiösen Ahnung“2. Leo Strauss definiert „secret“ im Umkehrschluss: „what all people say all the time is the opposite of a secret”3. In Bezug auf seine Analyse von Maimonides´ Vorgehensweise zur verbotenen Erklärung religiöser Geheimnisse im „Guide for the Perplexed“ gibt er dem Wort „secret“ eine weitere Bedeutung: „secret may mean not only the Biblical word or parable which has an inner meaning, and the hidden meaning itself, but also, and perhaps primarily, the thing to which that hidden meaning refers“4. Dieser Aspekt wird besonders wichtig, wenn es um das Schreiben “zwischen den Zeilen” geht, denn hier werden Dinge weder explizit ausgesprochen, noch durch Schlüsselworte oder Parabeln ersetzt, sondern ohne genannt zu werden mitgeteilt.
2.2 Was ist ein Code?
Ein Code ist ein Chiffrierschlüssel zur Codierung, also der „Darstellung einer Nachricht in anderer Form“5. Eine Geheimschrift oder Chiffre dient zur „Geheimhaltung von Aufzeichnungen oder Mitteilungen, die nur Eingeweihten zugänglich sein soll“6 ; oft wird auch eine Geheimsprache eingesetzt, eine „verschlüsselte oder formalisierte Sprache, die Außenstehenden das Verständnis erschweren soll. Kennzeichnender als die Verwendung fremdsprachiger Wörter ist für die Geheimsprache die Veränderung des einheimischen Wortschatzes, besonders durch Wortverlängerung oder Wortverkürzung und die Umstellung von Lauten und Silben“7. Zum Sprechen oder Schreiben zwischen den Zeilen ist oft noch nicht einmal das gebräuchlich, denn die Botschaft liegt ja nicht in der Mitteilung selbst, sondern im Unausgesprochenen. Der Empfänger hat nur Hinweise auf den eigentlichen Inhalt, die entweder vereinbart sind oder innerhalb der Botschaft zu finden sind, wenn man danach sucht.
2.3 Wann ist eine Sprache eine Geheimsprache?
Jede Kommunikation beruht auf Vereinbarungen. Sprache besteht aus Wörtern und Regeln für deren Anwendung, die innerhalb einer Sprachgemeinschaft erlernt, angewendet und weiterentwickelt oder modifiziert werden. „Sprache ist ein Vorrat von sinnlich wahrnehmbaren Zeichen, die allein oder nach bestimmten Kombinationsregeln untereinander verbunden der Kommunikation dienen. (...) die Sprache setzt ein Symbolverständnis voraus; (...) in der Sprache werden Stellungnahmen zu Sachverhalten formuliert. Diese werden nach bestimmten Intentionen und unter Bezugnahme auf eine bestimmte Sprechsituation kodiert“8. Im Grunde genommen ist jede Sprache auch eine Geheimsprache, wenn man sie nicht gelernt hat. Japanische Staatsgeheimnisse oder Verschwörungen könnten mir schriftlich beglaubigt und mündlich erklärt werden und wären trotzdem sicher aufgehoben, wenn sie nicht übersetzt werden. Gleichaltrige und / oder Gleichgestellte entwickeln ihren eigenen Sprachcode, sei es unbewusst aus Anpassung und Gewöhnung oder als bewusste Abgrenzung. Man spricht mit Kindern in der Regel anders als mit seinem Chef usw. „Es gibt keine menschliche Gruppe, deren Zusammenhalt (Solidarität) nicht durch eine nur dieser Gruppe eigene Sprache und Sprechweise mitbewirkt würde; das gilt für die Nationalsprache und ihre Dialekte (...) ebenso wie für schicht- und gruppenspezifische, durch sozialen Status, Beruf (Fach- und Sondersprachen) und Alter bestimmte Gruppensprachen.“9 Der Ausschluss anderer bestärkt den Einzelnen in seiner Gruppenzugehörigkeit, weswegen oft öffentlich (im weitesten Sinne, d.h. mit Teilnehmern einer Kommunikationssituation, die ausgeschlossen werden können) zwischen den Zeilen gesprochen (oder geschrieben) wird.
2.4 Beispiele für „verschlüsselte“ Kommunikation
Privat können das zum Beispiel sog. „Insiderwitze“ sein, die nur lustig sind, wenn man den Zusammenhang mit bestimmten oft zurückliegenden Ereignissen oder Situationen kennt. Der Gebrauch von Fremdwörtern oder Fremdsprachen gegenüber Menschen, die derer nicht mächtig sind, fällt nur teilweise in diese Kategorie, da sie im Prinzip nur übersetzt werden müssen. Ähnliches gilt für gesellschaftliche oder politische Anspielungen, bei denen vorausgesetzt wird, dass der oder die Angesprochene über bestimmtes Wissen verfügt, um das Angedeutete in einen sinnvollen Gesamtzusammenhang zu bringen und den „richtigen“ Schluss ziehen kann. Wer in Deutschland von „klammheimlicher Freude“ spricht oder schreibt, benutzt keine an sich neutrale Wortzusammensetzung, sondern spielt wahrscheinlich auf den Mescalero-Brief an. Ein Indonesier, der Deutsch gelernt hat und fließend spricht und schreibt, wird die Anspielung trotzdem nicht zwangsläufig verstehen. Es geht eben nicht um das reine inhaltliche Verständnis, sondern reicht darüber hinaus.
Auch Ironie kann leicht verkannt werden, wenn man den Sprecher und seine eigentliche („echte“) Meinung oder Position nicht kennt.
Noch schwieriger wird die Entschlüsselung, wenn, um ein Beispiel aus der Literatur zu nehmen, der Roman historisch, aber zensiert, und der Verfasser anonym ist. Wer „Rebellion der Gehenkten“ von B. Traven10 in einer alten Ausgabe liest, liest einen Abenteuerroman. Scheinbar deutet nichts mehr darauf hin, dass es sich dabei um die Beschreibung der ersten Volksrevolution in Mexiko handelt. Tatsächlich stammt der „Roman“ aus einem sechsbändigen Zyklus (Caoba - Zyklus), der jedoch in Deutschland nur sehr stark gekürzt in fünf verschiedenen Verlagen und ohne den entscheidenden zweiten Band („Regierung“) veröffentlicht wurde. Eine Form der Zensur, die ein Lesen zwischen den Zeilen zu einer eigenen Wissenschaft macht. Das liegt auch daran, dass der Autor nicht extra zwischen den Zeilen geschrieben hat, sondern (in der ungekürzten Fassung) seine Meinung klar und deutlich formuliert. Es stellt sich also die Frage, ob Texte mit einer Botschaft zwischen den Zeilen eine entsprechende Intention des Autors voraussetzen.
3. Leo Strauss: Persecution and the Art of Writing
3.1 Techniken des Schreibens zwischen den Zeilen
In “Persecution and the Art of Writing” setzt sich Strauss mit der Problematik des verdeckten Schreibens auseinander und zeigt in drei Essays anschauliche Beispiele und deren Analyse. Strauss schrieb „Persecution and the Art of Writing” größtenteils in den vierziger Jahren im Amerika der McCarthy-Ära “when Jews, immigrants, social activists and intellectuals in American society needed to carefully watch their words because of the sure and certain knowledge that Joseph McCarthy and his committee on "un-American Activities" was watching their words even more closely. Strauss saw in this stifling intellectual environment a parallel to Maimonides and the Medieval world.”11
In seiner Einführung stellt Strauss zunächst fest, dass es falsch sei anzunehmen, die Philosophie sei immer eine angesehene Disziplin gewesen12. “In the nations and cities of Plato´s time, there was no freedom of teaching and of investigation.”13 Für Sokrates gab es nur zwei Möglichkeiten: seine Überzeugungen leugnen und am Leben bleiben, oder sie verteidigen und sterben müssen. Er wählte das Letztere. Plato, mit dem gleichen Dilemma konfrontiert, fand hingegen eine dritte Lösung. Er schuf die sogenannte „virtuous city of speech“14 und umging die direkte Konfrontation mit einem „gradual replacement of the accepted opinions by the truth or an approximation of the truth. (…) The replacement (…) could not be gradual if it were not accompanied by the suggestion of opinions which, while pointing toward the truth, do not too flagrantly contradict the accepted opinions.”15
Farabi unterscheidet in der Philosophie zwei Formen der Lehre: “the exoteric and the esoteric teaching”16. Erstere, die „politische“ Philosophie, ist der Rahmen innerhalb dessen die „wahre“ Philosophie versteckt ist, und sichert die Existenzberechtigung der Philosophie als solcher überhaupt als einzig sichtbares und akzeptiertes Zeichen ihres Schaffens. Ähnliches gilt, wenn die freie Rede in politischen Systemen unterdrückt wird. Was heißt das? Strauss vertritt die These, dass freie Meinungsbildung nur dann möglich ist, wenn man verschiedene Sichtweisen vergleichen kann. „If this choice is prevented, the only kind of intellectual independence of which many people are capable is destroyed, and that is the only freedom of thought which is of political importance.”17 Er geht davon aus, dass die Mehrheit der “normalen” Menschen alles glaubt, wenn es nur oft genug wiederholt und nie widerlegt wird, bestenfalls von einem angesehenen Mitglied der Gesellschaft. Wenn sich eine Regierung diese Methode also zu eigen macht und „die Wahrheit gepachtet“ hat, müssen all jene, die dieser Denklogik nicht folgen, automatisch am Wahrheitsgehalt der offiziellen Meinung zweifeln. Wer also unabhängig und selbständig denken kann, wird sich auch dann nicht täuschen lassen, wenn er scheinbar keine Wahl hat. „Persecution, then, cannot prevent independent thinking. It cannot prevent even the expression of independent thought.”18 Denn wem wegen seiner eigenen oder abweichenden Meinung Verfolgung droht, der äußert sich natürlich nur noch gegenüber verlässlichen Dritten. Das ist auch öffentlich möglich und sogar schriftlich (also der genauesten Kontrolle der Zensur ausgesetzt), wenn die entsprechenden Äußerungen verschlüsselt werden. Und da bietet sich die Methode des Zwischen-den-Zeilen-Schreibens an! Natürlich gibt es zahlreiche Möglichkeiten der Codierung, die in der Regel jedoch einen Schlüssel benutzen, der dem Publikum bekannt sein muss, was und dessen Übermittlung undenkbare Gefahren der Entdeckung beinhaltet und die Zahl der Empfänger von vornherein einschränkt, wahrscheinlich sogar auf den Kreis der Eingeweihten, die den Autor und seine Haltung direkt oder indirekt sowieso kennen und/oder zumindest schon als zuverlässig gelten. Das Schreiben zwischen den Zeilen „has all the advantages of private communication without having its greatest disadvantage - that it reaches only the writer´s acquaintances. It has all the advantages of public communication without having its greatest disadvantage - capital punishment for the author.”19 Doch was genau heißt es nun, zwischen den Zeilen zu schreiben, und wen kann man damit tatsächlich erreichen? Strauss erklärt die Methode am Beispiel eines Historikers in einem totalitären Staat, der seine Ansichten folgendermaßen zu verstecken weiß:
He would use many technical terms, give many quotations and attach undue importance to insignificant details; he would forget the holy war of mankind in the petty squabbles of pedants. Only when he reached the core of the argument would he write three or four sentences in that terse and lively style which is apt to arrest the attention of young men who love to think. That central passage would state the case of the adversaries more clearly, compellingly and mercilessly than it had ever been stated in the heyday of liberalism,…20
Dieses Beispiel setzt voraus, dass der Autor die Kunst des Schreibens vollkommen beherrscht, um allgemein vorausgesetzte Regeln, die auch dem Adressaten bekannt sind, an ausgesuchten Stellen „richtig“ verletzen zu können.21
Wie selektiert sich jedoch die Leserschaft in solche, die die versteckte Botschaft entdecken und solche, die nur an der Oberfläche des Textes bleiben? Strauss hat dafür eine ebenso simple wie einleuchtende Antwort. „The fact which makes this literature possible can be expressed in the axiom that thoughtless men are careless readers, and only thoughtful men are careful readers.”22 Der Autor muss seine Botschaft, bzw. die Hinweise darauf, also so verstecken, dass nur der aufmerksame Leser in der Lage ist, sie zu finden. Ist dieser stutzig geworden durch einen der obengenannten „Stolpersteine“, liest er den Text womöglich mehrmals und erkennt die Logik hinter scheinbar fahrlässigen formalen Fehlern oder zufälligen Anordnungen innerhalb des Textes. Den Einwand, dass auch jemand, der nicht vertrauenswürdig ist, trotzdem ein aufmerksamer Leser sein kann, entkräftet Strauss mit einem Verweis auf Sokrates, demnach jeder intelligente Mensch auch vertrauenswürdig ist und, was viel wichtiger ist, dass das Geschriebene zwischen den Zeilen schlicht und einfach nicht nachzuweisen ist23.
Hier liegt allerdings auch der Kernpunkt der Kritik. Denn Strauss stellt fest, dass dem modernen Geschichtsverständnis einige Prinzipien zugrunde liegen, die jegliches Lesen zwischen den Zeilen von vornherein ausschließen. Dazu gehört, dass jeder Autor ausschließlich nach dem bewertet wird, was er wirklich geschrieben hat, was für sich steht und dem Denken der entsprechenden Epoche entspricht. Wenn ein Autor also im größten Teil seiner Arbeit eine bestimmte These vertritt, und eine gegenteilige nur an wenigen Stellen durchschimmert, ist letztere für den modernen Historiker nicht ausdrücklich beweisbar und deshalb quasi nichtexistent. Will er trotzdem einer exakten Interpretation so nah wie möglich kommen, muss er das, was zwischen den Zeilen steht, laut Strauss aber unbedingt miteinbeziehen. Zur sorgfältigen Forschung empfiehlt er daher einige Grundsätze. Dazu gehört unter anderem, dass „only such reading between the lines as starts from an exact consideration of the explicit statements of the author is legitimate.”24 Und das nur dann, wenn der Text bereits auf sämtlichen Bedeutungsebenen überprüft und verstanden wurde. Außerdem möge man nicht annehmen, dass die etwa in einem Theaterstück von den meisten Figuren vertretene Position auch die des Autors sei, - im Gegenteil. Strauss weist darauf hin, dass nicht umsonst die Verrückten, Entgleisten und Bösen oft die wirklich interessanten Charaktere sind (wenn auch nicht notwendigerweise).
Ob es eine zwingende Verbindung von Verfolgung und dem Schreiben zwischen den Zeilen gibt, lässt Strauss offen. Wenn das der Fall ist, so wäre die zeitliche Einordnung eines Autors immerhin ein Kriterium, ihn auf verdeckte Mitteilungen hin zu untersuchen. Gerade Autoren, die ihre Meinungen verstecken mussten, teilten laut Strauss am ehesten die Auffassung, es sei um so notwendiger, ihr Umfeld, wenn auch verdeckt, zu erziehen und sich mitzuteilen. Ihre Werke sind am leichtesten zu durchschauen. Schwieriger wird es, die Schriften von jenen zu analysieren, die ihre Botschaften verschlüsselten, um sie vor dem Zugriff „Normalsterblicher“ zu schützen.25 Sie hatten den wachen Verstand des philosophischen Nachwuchses im Blick und ihre Schriften sind ausschließlich exotern, befassen sich also äußerlich meist mit grundsätzlich verschiedenen Dingen.
3.2 Maimonides´ „Guide for the Perplexed“
Anhand einer Analyse von Maimonides´ Vorgehensweise in dessen “Guide for the Perplexed” veranschaulicht Strauss die Methode des Schreibens zwischen den Zeilen an konkreten Beispielen, die hier kurz wiedergegeben werden sollen. Zunächst stellt er die Frage, worum es im Guide eigentlich geht, und leitet aus Maimonides´ Ankündigung, „the true science of the law“26 erklären zu wollen, ab, dass er „in Wirklichkeit“ die geheimen Gebote in der Bibel behandelt. Da deren schriftliche Erklärung jedoch verboten ist, hätte ein entsprechendes Buch auch nicht geschrieben werden dürfen. Also, folgert Strauss, verfasste Maimonides den Guide deshalb in Briefform an einen ganz bestimmten (wahrscheinlich fiktiven) Schüler und bezieht sich auf sein Werk lediglich als „maqâla“ (ursprüngliche Bedeutung: Rede). Die Gebote können nicht erklärt werden, beinhalten aber auch das Verbot einer Erklärung, was Strauss als offensichtlichen Widerspruch entlarvt, denn warum sollte etwas verboten sein, das nicht möglich ist? Vermutlich brach Maimonides die Gebote, um sie zu schützen, aber er wählte einen Mittelweg, indem er seine Erklärungen zwar veröffentlichte, den Inhalt aber dem gemeinen Volk vorenthielt. Dazu benutzte er verschiedene Methoden. Seine Vorgehensweise entspricht der Art und Weise, wie mündlich ein Geheimnis weitergegeben wird. Mit einer scheinbar beiläufigen Bemerkung, die vielleicht leisen Zweifel an der herrschenden Meinung durchschimmern lässt, testet er die Aufmerksamkeit des Zuhörers. Versteht dieser den Hinweis, kann der „Lehrer“ in seiner Erklärung fortfahren und deutlicher werden.
Versteht er es jedoch nicht, so führt der Lehrer das Gespräch einfach zurück auf „sichere Gefilde“, ohne dass der Zuhörer etwas mitbekommen hat. Das heißt schriftlich, dass er womöglich seitenweise scheinbar unwichtige Dinge erläutert, die tatsächlich aber weitere, doch sehr viel verstecktere Hinweise enthalten, die auch ein aufmerksamer Leser, der schon den ersten Hinweis verstanden hat, nur mit Mühe finden kann. Auch fehlt Maimonides´ Text scheinbar jegliche Ordnung, doch Strauss hält dies für Absicht, und die Sprünge, Umstellungen, Auslassungen etc für Hinweise auf Stellen aus der Bibel. Ein bestimmtes Glied zum Beispiel einer Argumentationskette wegzulassen, fällt vermutlich nur jenen auf, die die ganze Kette kennen, sorgsames Lesen ist natürlich Voraussetzung. Was ja im Sinne des Autors liegt. Eine weitere Technik, die Maimonides nutzte, liegt in der Wiederholung von scheinbar identischen Aussagen, die tatsächlich aber unmerkliche Variationen aufweisen. Für den unachtsamen Leser ermüdend und sinnlos, ist die eigentliche Botschaft gerade, wenn nicht sogar ausschließlich, in der unmerklichen Veränderung zu suchen. Strauss weist mehrmals darauf hin, dass Maimonides keine Parabeln benutzt. Genaugenommen kann ja schon jedes einzelne Wort mehrere Bedeutungen haben, die gegeneinander abgewogen werden müssen. Stattdessen versteckt er seine Hinweise auf den eigentlichen Inhalt seines Werks in bewussten Widersprüchen. Es liegt dann beim Leser, jene zu finden und herauszufinden, welcher Standpunkt nun der „richtige“ ist, wobei aus der obengenannten Feststellung, dass ein Geheimnis das Gegenteil von dem ist, was alle die ganze Zeit sagen, geschlossen werden darf, dass der unscheinbarste und am wenigsten genannte Punkt wahrscheinlich am ehesten der Position des Autors entspricht. Was Maimonides der Welt nun tatsächlich mitteilen wollte, weiß wohl nur er selbst.
4. Schlussbetrachtung
Kunst und Problem des Schreibens zwischen den Zeilen liegen genau darin, dass es weder nachweisbar noch widerlegbar ist, was natürlich auch den Reiz ausmacht. Strauss geht seine Analyse sehr wissenschaftlich an, ist aber auf Quellen angewiesen, deren Originale vor Jahrhunderten verrottet sind und auf deren Abschriften die ganze Beweislast liegt. Aber durch wie viele Hände geht ein Schriftstück in fast tausend Jahren? Wie viel ist verloren gegangen, wie oft hat jemand bei der Abschrift etwas durcheinander gebracht, und wie oft wurde ein Text hin- und herübersetzt? Es gibt tausend Möglichkeiten der Verfälschung, ganz zu schweigen von der bewussten. Ob Strauss ein analytisches Genie oder ein inspirierter Pedant ist, sei dahingestellt, wahrscheinlich stimmt beides. Beruft man sich auf historische Quellen, ist diese Gefahr jedenfalls allgegenwärtig. Wie viele geheime Botschaften wurden nicht allein in die Bibel interpretiert! Beweisbar ist jede und keine, was ja auch Anlass zur unablässigen Forschung und phantastischen Spekulationen ist. Doch das Lesen wie das Schreiben zwischen den Zeilen ist natürlich nicht nur überlieferten alten Quellen eigen, sondern in der Literatur und Sprache sämtlicher Epochen zu finden, wenn man danach sucht. Die Gründe dafür liegen nicht nur in der Verfolgung und Unterdrückung der freien Meinungsäußerung. Dass zum Beispiel religiöse Lehren so viel mit Geheimniskrämerei zu tun haben, liegt glaube ich nicht nur daran, dass ihre Inhalte zu den verschiedensten Zeiten die herrschenden Systeme in Frage stellten und (nicht nur moralisch) angriffen, sondern auch mit dem Machtanspruch, den die Kirche und viele Religionen erheben. Gelänge es ihnen nicht, ihre Position als höchste Instanz und Träger des geheimen Wissens von Gott zu wahren, schafften sie sich schließlich selbst ab.
Strauss verknüpft die verdeckte Schreibweise eng mit politischer Verfolgung. Nimmt man ein Buch wie die Illuminatustrilogie27, wird diese Frage fast zur Glaubensfrage. Das Buch, für ein großes Publikum geschrieben und auch entsprechend verbreitet und gelesen, enthält zahlreiche Anspielungen, Sprünge, Querverweise, Doppeldeutigkeiten etc, sprich: versteckte Hinweise auf Verbindungen und Sachverhalte, die selten oder nie explizit angesprochen oder gar beschrieben werden. Der ahnungslose Leser kann es also unbekümmert und wahrscheinlich belustigt lesen, aber jeder, der nach diesen Hinweisen sucht, wird garantiert auch welche finden. Doch werden die Autoren des Buches verfolgt? Wenn ihre zwischen den Zeilen vermittelten Sachverhalte real sind, kann man beinahe davon ausgehen; ansonsten ist es eine hübsche Spielerei mit der Aufmerksamkeit und Paranoia des Lesers. Vielleicht genügt es, wenn die Autoren daran glauben oder ihre Leser bewusst zweimal hinters Licht führen wollen. Womit wir bei der Intention wären. Ich glaube, man kann nur zwischen den Zeilen schreiben, wenn das auch gewollt ist, geht man von Leo Strauss´ Analyse dieser Technik aus. Alles weitere ist Sache der Psychoanalyse.
Literaturverzeichnis
- Dtv-Lexikon in 20 Bänden, Bände 3, 6, 17 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co.KG, 1997
- Leo Strauss: Persecution and the Art of Writing University of Chicago Press edition 1988
- http:/home.main-rheiner.de/erwin.rotermund/Einf.htm
- www.franion.com/StarElul_pages/rabbi4_4response.html
- Simon Singh: Geheime Botschaften. Die Kunst der Verschlüsselung von der Antike bis in die Zeiten des Internet Carl Hanser Verlag München Wien 2000
- B. Traven: Caoba-Zyklus, Band 5: Rebellion der Gehenkten Büchergilde Gutenberg 1977, Frankfurt am Main, Wien, Zürich
- Robert J. Shea & Robert Anton Wilson: The Illuminatus! Trilogy Constable Robinson, London 1998
Anhang
Hier eine kleine, hoffentlich hilfreiche Ergänzung. Bezüge zur konkreten politischen Verfolgung von Oppositionellen und deren Möglichkeiten und Wegen der Mitteilung habe ich nicht behandelt, sie gehören aber unmittelbar zum Thema. Der folgende Text ist ein Auszug von „Zwischenreiche und Gegenwelten“, Texte und Vorstudien zur „Verdeckten Schreibweise“ im `Dritten Reich` von Heidrun Ehrke-Rotermund und Erwin Rotermund (München 1999), den ich unter http:/home.main- rheiner.de/erwin.rotermund/Einf.htm gefunden habe. Der Auszug beschränkt sich auf eine formale Erweiterung zur Technik des Schreibens zwischen den Zeilen.
Das in Texten mit verdeckter Schreibweise jeweils vorliegende Mischungsverhältnis läßt sich mit Hilfe der vier Änderungskategorien der klassischen Rhetorik, die Quintilian als quadrapartita ratio bezeichnet hat,5 näher bestimmen: adiectio (Hinzufügung), detractio (Wegnahme), transmutatio (Umstellung) und immutatio (Ersatz oder Substitution). Ein ungetarnter oppositioneller Text, ein "Klartext", kann durch eine oder mehrere Änderungsoperationen zu einem Text mit verdeckten oppositionellen Mitteilungen oder ein affirmativer oder neutraler Text kann durch eine oder mehrere Änderungsoperationen ebenfalls zu einem Text mit verdeckten oppositionellen Botschaften gemacht werden. Das ist sicherlich eine sehr schematische Vorstellung von der Werkgenese; der faktische Entstehungsprozeß war in den meisten Fällen viel komplizierter.
Geht man von einem oppositionellen Klartext aus, dann entsteht der getarnte oppositionelle Text mithin 1. durch Hinzufügung eines affirmativen Elementes (bzw. affirmativer Elemente) oder 2. durch Wegnahme eines oppositionellen Elementes oder 3. durch Umstellung oppositioneller Elemente oder 4. durch Substitution eines affirmativen oder neutralen Elementes. Das hinzugefügte affirmative oder das weggelassene kritische Element, die umgestellten oppositionellen Elemente oder das substituierte affirmative Element fungieren im Idealfall als Tarnung der oppositionellen Mitteilung. Wenn man bei der Aufzählung der Basisoperationen von einem affirmativen oder "neutralen" Text ausgeht, gilt Analoges. Selbstredend können die vier Änderungsverfahren auch zugleich an einem Text zur Geltung kommen; es dominiert in der Praxis aber meistens eine der vier Änderungstechniken.
Will man nun die verschiedenen Änderungsoperationen näher bezeichnen, kann man auf das Arsenal der Tropen und Figuren zurückgreifen, das die traditionelle Rhetorik bereitstellt. Diese Formen und ihre Realisierungsvarianten in bestimmten Gattungen können teilweise auch als Mittel camouflierten Schreibens fungieren. Im folgenden sollen nur die allerwichtigsten genannt werden.
Möglichkeiten der Hinzufügung im eben skizzierten Sinne bieten zum einen Formen des Gegensatzes und des Widerspruches, zum anderen Allgemeinplätze und Sentenzen, ferner Formen des Vergleichs, also die "Figuren der semantischen Weitung"6 (antitheton, locus communis, simile), des weiteren die Formen der Digression.
Die Weglassung kritischer Elemente, sicherlich eine der am häufigsten verwendeten Änderungstechniken, war für den damaligen Rezipienten in den meisten Fällen kaum zu bemerken.7 Erkennbar war sie ihm immerhin in Figuren wie der Ellipse und der Aposiopese, dem Abbruch eines Satzes oder Gedankens, wie er für den Kabarettisten Werner Finck charakteristisch gewesen ist.
Die Umstellung (transmutatio) scheint für das camouflierte Schreiben am wenigsten brauchbar zu sein, da sie ja kein neues affirmatives (oder oppositionelles) Element in den Text hineinbringt. Es gibt jedoch Beispiele für die verhüllende Funktion eines veränderten Arrangements der vorhandenen Elemente. Eine bestimmte kritische Aussage konnte durch "Platzwechsel" an eine geschütztere Position im Text gebracht werden; Anfang und Schluß eines oppositionellen Werkes waren ja aufgrund der Lesegewohnheiten der amtlichen Literaturüberwacher besonders gefährdet.8
Die dem Ersatz, der Substitution, zuzuordnenden Formen sind für unseren Gegenstandsbereich sicherlich die wichtigsten. Infrage kommen Tropen und Figuren, deren Bedeutung zu der des ersetzten Wortes (oder der der ersetzten Sinneinheit) entweder im Verhältnis der Ähnlichkeit (Metapher, Allegorie, Fabel), des Gegenteils (Ironie, Litotes) und der Nachbarschaft (Metonymie, Synekdoche) stehen. Ferner sind Synonym, Homonym, Anspielung, Zitat, Polysemie, Hyperbel sowie weitere Formen der Kategorie der Substitution zuzurechnen.
5) Inst. or. I, 5, 38. Heinrich Lausberg hat die vier Änderungskategorien zur Grundlage einer detaillierten Figurenlehre gemacht (Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 1960, §§ 600- 910). An Quintilian bzw. Lausberg knüpfen stilrhetorische Modelle wie die "Rhetorique générale" (1970) der Lütticher Gruppe µ (Jacques Dubois u.a.: Allgemeine Rhetorik. Übers. u. hrsg. v. Armin Schütz. München 1974) und Heinrich F. Pletts Buch "Textwissenschaft und Textanalyse" (Heinrich F. Plett: Textwissenschaft und Textanalyse. Semiotik, Linguistik, Rhetorik. Heidelberg 1975) an. Zum Gebrauch der Änderungskategorien in der Parodieforschung vgl. Erwin Rotermund: Die Parodie in der modernen deutschen Lyrik. München 1963, S. 9, 18 u. passim.
6) Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. München 1963[2], S. 125ff.
7) An den theologisch-philosophischen Essays von Heinz Flügel läßt sich das Verfahren der Weglassung exemplarisch studieren, da der Autor nach Kriegsende die im "Dritten Reich" "mit Rücksicht auf die Zensur" unterdrückten Sätze wieder einsetzte und durch Kursivschrift kennzeichnete (Heinz Flügel: Geschichte und Geschicke. Zwölf Essays. München, Kempten 1946, S. 220).
8) Werner Finck z.B. hat seine Plaudereien "Von mir aus jede Woche" aus dem "Berliner Tageblatt" vom 27.6.1937 (S. 5) beim Wiederabdruck in seiner Sammlung "Das Kautschbrevier" (1938) an mehreren Stellen abgeändert. Dabei rückte der besonders aktuelle erste Abschnitt (Kriegsgefahr im Osten!) als siebter Abschnitt in die Mitte des Textes (S. 44).
12) H. Paul Grice: Logic and Conversation. In: Syntax and Semantics. 3. Bd. Speech Acts. Hrsg. v. Peter Cole und Jerry L. Morgan. New York, San Francisco, London 1975, S. 41-58 (S. 45: quantity, quality, relation, manner)
13) Peter v. Polenz: Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. Berlin, New York 1985, S. 310.
[...]
1 dtv-Lexikon Band 6, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co.KG, München, 1997
2 s.o.
3 Leo Strauss: Persecution and the Art of Writing, University of Chicago Press edition 1988, Seite 73
4 Leo Strauss, Seite 57
5 dtv-Lexikon Band 3
6 dtv-Lexikon Band 6
7 s.o.
8 dtv-Lexikon Band 17
9 dtv-Lexikon Band 17
10 München 1951. Erst 1977 erschien der komplette Caobazyklus ungekürzt in der Büchergilde Gutenberg (Frankfurt am Main, Wien, Zürich)
11 Vgl. www.franion.com/StarElul_pages/rabbi4_4response.html, 6. Absatz
12 vgl. Leo Strauss, Seite 16; Strauss bezieht sich hier und im Folgenden größtenteils auf Farabi
13 s.o.
14 vgl. Leo Strauss, Seite 16
15 vgl. Leo Strauss, Seite 17
16 vgl. Leo Strauss, Seite 19
17 vgl. Leo Strauss, Seite 23
18 s.o.
19 vgl. Leo Strauss, Seite 25
20 vgl. Leo Strauss, Seite 24
21 Konversationsprinzipien von H. Paul Grice; „Bei Grice handelt es sich um vier Gesprächsprinzipien, denen zufolge ein effektiver Beitrag umfangmäßig so informativ wie erforderlich (Quantitätsprinzip), wahrheitsgemäß (Qualitätsprinzip), wesentlich (Relevanzprinzip) und klar (Modalitätsprinzip) zu sein hat.12 Ihre absichtsvolle "Verletzung" durch einen als kooperativ bekannten Sprecher bzw. Autor rufe "Mitzuverstehendes" hervor: der Hörer bzw. Leser ziehe aus dem "Verstoß" gegen die genannten Grundsätze "Folgerungen [...] in Form von Annahmen über Mitzuverstehendes"13 ("conversational implicatures"). Vgl. http://home.main-rheiner.de/erwin.rotermund/Einf.htm (12, 13 siehe Anhang)
22 Vgl. Leo Strauss, Seite 25
23 „...the censor must prove not only that the author is intelligent and a good writer in general, (…) but above all that he was on the usual level of his abilities when writing the incriminating words.” vgl. Leo Strauss, Seite 26
24 vgl. Leo Strauss, ganze Seite 30
25 „They believed that the gulf seperating „the wise“ and „the vulgar“ was a basic fact of human nature which could not be influenced by any progress of popular education: philosophy, or science, was essentially a privilege of “the few.” (…) They must conceal their opinions from all but philosophers, either by limiting themselves to oral instruction of a carefully selected group of pupils, or by writing about the most important subject by means of “brief indication.” Vgl. Leo Strauss, Seite 34f
26 Vgl. Leo Strauss, Seite 39
27 vgl. Robert J. Shea und Robert Anton Wilson: The Illuminatus! Trilogy, London 1998
- Arbeit zitieren
- Mareike Schodder (Autor:in), 2001, Möglichkeiten der Kommunikation "zwischen den Zeilen" - Leo Strauss: Persecution and the art of writing, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/105688