Deutsche Europapolitik: Kontinuität oder Wandel? Ein Vergleich
zwischen dem EWG-Vertrag und dem EU-Vertrag
1. Einleitung
Die Präsidenten und Majestäten der Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft (EU) „entschlossen, den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozeß der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben, eingedenk der historischen Bedeutung der Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents und der Notwendigkeit, feste Grundlagen für die Gestalt des zukünftigen Europas zu schaffen [...]“.1
So heißt es in der Präambel des Vertrages über die Europäische Union vom 07. Februar 1992. Fast 40 Jahre sind seit der Unterzeichnung der Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Euratom (Europäische Atomgemeinschaft) am 25. März 1957 in Rom vergangen. Diese Römischen Verträge standen am Beginn des europäischen Integrationsprozesses.
Viele unterschiedliche Akteure haben diesen Prozess geprägt. Jedes Land hatte unterschiedliche Interessen und Vorstellungen eines geeinten Europas. Meine Arbeit möchte untersuchen, ob es seit Beginn der Integrationsbestrebungen eine einheitliche, kontinuierliche, deutsche Europapolitik gab. Die äußeren Faktoren haben sich gerade für Deutschland zwischen den Römischen Verträgen und dem EU-Vertrag von Maastricht dramatisch geändert: 1990 wurden die über 40 Jahre getrennten beiden deutschen Teilstaaten wiedervereinigt. Führte dies zu einem Bruch in den integrationspolitischen Vorstellungen des deutschen Verhandlungspartner auf dem europäischen Parkett?
Meine Untersuchung kann weder alle Akteure, sowie deren Ideen und Interessen berücksichtigen, noch den vollständigen Integrationsprozess aufzeigen. Diese Arbeit beschränkt sich deshalb auf die wichtigsten Protagonisten und den Vergleich ihrer Ideen zum EWG- sowie zum EU-Vertrag.
Dieser Einleitung folgt eine Beschreibung der, die Position Deutschlands in den 50er Jahren bestimmenden Faktoren. Dieser Teil soll dem besseren Verständnis der deutschen Vorstellungen von europäischer Integration, die ich daran anschließend vorstellen möchte dienen. Danach folgt die Präsentation des welt- und deutschlandpolitischen Geschehens vor dem EU-Vertrag. Abschließend gehe ich auf die Ideen und Interessen ein, die deutsche Akteure zu Beginn der 90er Jahre an den Verhandlungstischen zum Vertrag von Maastricht geleitet haben.
Ich werde die unterschiedlichen Positionen in ihrer Bedeutung für Deutschland und Europa nicht untersuchen. In meiner Analyse interessiert es mich lediglich, ob die geänderte politische Position Deutschlands ein anderes Integrationsverständnis zur Folge hatte.
2. Die Situation Deutschlands vor den Römischen Verträgen
Will man die integrationspolitischen Ideen Deutschlands, die in den Römischen Verträgen verankert werden sollten, verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, in welcher Situation das Land Ende der 50er Jahre war. Hierbei ist es wichtig, nicht nur die endogenen Faktoren, dass heißt die Situation in Deutschland zu beleuchten, sondern auch die exogenen Faktoren, also die weltpolitische Lage in der Analyse zu berücksichtigen.
2.1 Exogene Faktoren
Auf dem europäischen Kontinent war 1954 nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG)2durch das negative Votum der französischen Nationalversammlung das Projekt eines geeinten politischen Europas auf ungewisse Zeit verschoben. Die als Kompromiss gegründete Westeuropäische Union (WEU) hatte hauptsächlich eine sicherheitspolitische Funktion. Sie war als intergouvernementale Verteidigungsgemeinschaft zuständig für Rüstungskontrolle und -beschränkung. Der WEU-Vertrag wurde zwischen Frankreich, Großbritannien, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Italien und der Bundesrepublik Deutschland abgeschlossen.3
Weltpolitisch war in den 50er Jahren vor allem der beginnende Kalte Krieg und die damit verbundene Bildung der beiden sich gegenüberstehenden feindlichen Blöcke bedeutend. Auf westlicher Seite kam es bereits 1949 zur Gründung der North Atlantic Treaty Organization (NATO) als Verteidigungsgemeinschaft gegen eine mögliche militärische Bedrohung durch die Sowjetunion. Als
Gegengewicht zum Nordatlantikpakt wurde 1955 von den kommunistischen Staaten der „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“ (Warschauer Pakt) gegründet.4
Durch den von 1950 bis 53 dauernden Koreakrieg5verschärfte sich der Konflikt zwischen den Blöcken zunehmend. Unter der Führung der USA wurde über einen möglichen Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik Deutschland in der NATO diskutiert. Dies weckte in Frankreich allerdings die Befürchtung, durch eine Wiederbewaffnung Westdeutschlands ein militärisches Wiedererstarken des Landes zu riskieren. Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg war die Erinnerung an den deutschen Aggressor in Frankreich noch zu lebendig, um dem Land eine solche Verantwortung auf dem Kontinent übertragen zu wollen.6
Die 1956 beginnende Suez-Krise7zeigte zum Einen die militärische Schwäche der britischen und der französischen Truppen, und zum Anderen den, auch nach Stalins Tod 1953 sich immer weiter verschärfenden Konflikt zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion.
Unter dem Eindruck der wachsenden Bedrohung durch die Sowjetunion in den 50er Jahren waren vor allem die USA bestrebt Deutschland militärisch zu rehabilitieren. Dadurch sollte die Präsenz amerikanischer Truppen in Europa auf längere Zeit reduziert und gleichzeitig die Sicherheit des Westens gestärkt werden. Es lag nun an den deutschen Politikern den Ängsten der französischen Nachbarn vor einem wiedererstarkenden Deutschland zu begegnen und dabei gleichzeitig die eigenen Interessen am Besten durchzusetzen.
2.2 Endogene Faktoren
Die politische Situation Westdeutschlands in den 50er Jahren war durch seine zentrale Stellung zwischen den beiden Großmächten gekennzeichnet. Unter dem Eindruck des Koreakrieges, der im Westen die Furcht verbreitete, diese Ereignisse könnten sich auf deutschem Boden wiederholen, wurde bereits 1955 das Besatzungsstatut8aufgehoben. Der Deutschlandvertrag regelte die Rückgabe der teilweisen Souveränität an die BRD, vorbehaltlich der alliierten Sonderrechte, die Berlin und Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigungs- und Friedensvertragsfragen betrafen, sowie die Befugnis zur Truppenstationierung.9 Gleichzeitig wurde die BRD Mitglied der NATO und somit in den westlichen Verteidigungsblock integriert.
Die Politik einer Anbindung der BRD an den Westen, die vor allem von Bundeskanzler Konrad Adenauer verfolgt wurde und die „...Sicherheit der Sieger und die Selbstbestimmung der Deutschen besser miteinander in Einklang [...] bringen...“10sollte, führte allerdings auch zu einer Vertiefung der Spaltung zwischen den Blöcken, sowie den beiden deutschen Staaten. Eine Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands schien für längere Zeit nicht möglich. Die Frage nach der für Deutschland besten Politik spaltete die politischen Parteien der BRD. Ich werde zu einem späteren Zeitpunkt noch ausführlicher auf diese unterschiedlichen Vorstellungen eingehen.
Das ökonomische Wachstum Westdeutschlands war bereits Mitte der 50er Jahre so beeindruckend, dass man von dem deutschen „Wirtschaftswunder“ sprach. Ludwig Erhard, der deutsche Wirtschaftsminister trat für die soziale Marktwirtschaft ein. Durch eine Liberalisierung der Wirtschaft verbunden mit Kontroll- und Regulierungsfunktionen des Staates bei unerwünschten Entwicklungen sollte ein Höchstmaß an wirtschaftlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit erreicht werden.11 Die BRD befand sich bald an der Spitze europäischer Nachkriegsexpansion, das Außenhandelsvolumen stieg zwischen 1948 und 1962 um jährlich etwa 16 %12. Die deutschen Handelspartner waren dabei vor allem die europäischen Nachbarstaaten, allerdings zum größten Teil nicht die Staaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS).13
Die positive wirtschaftliche Situation der BRD, sowie die schwierige politische Lage zwischen Westintegration und Wiedervereinigung führten zu unterschiedlichen Vorstellungen, was die europäische Integration betraf. Wie im Folgenden genauer untersucht wird, gab es anfangs keine einheitliche westdeutsche Verhandlungsposition bezüglich der Römischen Verträge und der weiteren Integration in Europa.
3. Interessen und Ideen in der BRD (EWG-Vertrag)
Trotz dem Scheitern von EVG und EPG gab es in Europa nach wie vor den Willen zu politischer und wirtschaftlicher Integration. Für die Verhandlungspartner stellte sich nun die Frage, wie die unterschiedlichen Integrationsinteressen zu vereinen seien. Der deutsche Vizepräsident der Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Franz Etzel machte den Vorschlag einer Ausweitung der Kompetenzen der supranationalen Hohen Behörde der EGKS auf die übrigen Energiebereiche, sowie auf die Verkehrspolitik. Es schien sinnvoll, die bereits begonnene Teilintegration der Bereiche Kohle und Stahl in den damit verbundenen Bereichen fortzusetzen. Demgegenüber favorisierte Jean Monnet, der Präsident der Hohen Behörde eine Integration im Bereich der Atomenergie. So wollte er den wachsenden Energiebedarf Europas decken, die Mitgliedsstaaten von teueren Ölimporten unabhängig machen und die zivile Nutzung der Atomenergie der BRD kontrollieren.14
Wie sich die einzelnen Akteure der Bundesrepublik Deutschland zu diesen Integrationsvorstellungen verhielten, soll im Folgenden analysiert werden. Die Interessen, die die Vertreter in ihrer jeweiligen Position verfolgten, spiegelt sich in ihren Ideen wider, wie eine europäische Einigung zu gestalten sei.
3.1 Die Idee der politischen Integration
Um den deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer gab es eine Gruppe von Politikern, die eine stärkere politische Integration in Europa befürworteten. Zu ihnen gehörten der damalige Außenminister Heinrich von Brentano und Staatssekretär Walter Hallstein. Diese Einigung der westeuropäischen Länder unter einer supranationalen Autorität sollte die BRD immunisieren gegenüber einer unentschlossenen Politik zwischen den beiden Supermächten, eine effektivere Ausnutzung der westlichen Ressourcen ermöglichen, sowie eine Achse zwischen Frankreich und der Sowjetunion auf Kosten Westdeutschlands verhindern. Außerdem würde eine solcherart gestaltete Integrationspolitik Europa einen und auf Dauer von den USA unabhängiger machen.15 Durch eine wirtschaftliche Integration von Teilbereichen, wie sie bereits in der EGKS angelegt war, sollte eine gesamtwirtschaftliche Integration erreicht werden. Diese wiederum sei ein erster Grundstein zu einer politischen Föderation in Europa.
Für Bundeskanzler Adenauer war es nach wie vor von Bedeutung, die Befürchtungen Frankreichs vor einem wiederentstehenden deutschen Nationalismus zu zerstreuen und gleichzeitig die vollständige Rehabilitierung der BRD und den Schutz vor möglichen Expansionsbestrebungen der SU zu erreichen. Der einzige Weg dies durchzusetzen schien ihm eine starke politische Bindung Westdeutschlands in einem geeinten Europa.16Diese Bindung musste, sollte sie dauerhaft und effektiv sein, nicht nur wirtschaftlich, sondern vor allem auch politisch sein. Allerdings geht hieraus nicht eindeutig hervor, inwieweit eine solche politische Einigung supranationale Züge haben sollte. Auch konkrete Vorschläge zu möglichen Institutionen machte Adenauer nicht, vielmehr handelte es sich lediglich um Leitgedanken des deutschen Bundeskanzlers.
Für die Gegner dieses Modells, vor allem in den Reihen der FDP bedeutete eine Westintegration die Vertiefung der Blockbildung und eine dauerhafte Spaltung Deutschlands. SPD-Politiker setzen sich dagegen für eine stufenweise Abrüstung ein, um West- und Mitteleuropa aus den Militärbündnissen (NATO und WEU) herauszulösen. Als Ersatz sollte ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem geschaffen werden. Für die Majorität der deutschen Bevölkerung war eine Wiedervereinigung von BRD und DDR wichtiger als ein vereinigtes Europa. Nach Stalins Tod hofften viele auf eine Entspannung der weltpolitischen Lage und sahen durch die NATO eine ausreichende Schutzfunktion vor einer möglichen Bedrohung durch die SU gewährleistet.17
Die Idee einer politischen Integration Europas stand auch im Gegensatz zu den Vorstellungen von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard. Aufgrund der wirtschaftlichen Lage der BRD vertrat er die Auffassung, dass eine funktionalen Integration die beste Lösung für Westdeutschland sei.18
3.2. Die Idee der funktionalen Integration
Anders als die Gruppe der Politiker um Konrad Adenauer, die eine politische Integration Europas anstrebten, um Frieden und Völkerverständigung zu fördern, favorisierten die Verantwortlichen im Wirtschaftsministerium eine funktionale Form der Integration. Durch die Schaffung einer Freihandelszone glaubte Ludwig Erhard einen optimalen Absatzmarkt für die westdeutschen Handelsüberschüsse auf dem Kontinent zu erhalten. Ohne institutionelle Autoritäten sollte dieses Integrationsmodell eine geeignete Form von Kooperation sein.19 In einer Zollunion sah er lediglich ein dirigistisches Modell, dass den deutschen Exportinteressen nicht gerecht werden kann.
Ebenso ablehnend gegenüber den Verhandlungen zu den Römischen Verträgen war Sonderminister Franz Josef Strauß. Dieser war seit 1955 verantwortlich für den Bereich der Atomfragen. Anstatt einer europäischen Atomgemeinschaft bevorzugte er eine Zusammenarbeit in diesem Bereich mit den technisch versierteren USA und Großbritannien.20
3.3 Zwischen Gemeinsamen Markt und Euratom
Die deutsche Regierung stimmte einem Vorschlag der Beneluxstaaten zu, einen Gemeinsamen Markt in Europa zu etablieren. Dies schien steigende Produktivität, bessere Arbeitsteilung und eine stetige Entwicklung in den Beitrittsländern zu garantieren. Deshalb schlugen die deutschen Vertreter eine Liberalisierung des Kapital-, Waren- und Dienstleistungsverkehrs mit Übergangs- und Anpassungsfristen vor. Außerdem setzten sie sich für die Schaffung eines Investitionsfonds ein.21Einer Atomgemeinschaft wollten die deutsche Seite nur beitreten, wenn diese gleichzeitig mit dem Gemeinsamen Markt gegründet werden würde. Die französische Verhandlungspartner dagegen lehnten aufgrund der schwachen heimischen Wirtschaft, die durch ein Außenhandelsdefizit und ein hohes Preisniveau gekennzeichnet war, einen Gemeinsamen Markt ab.
Das Verhandlungsgeschick Adenauers, der 1956 die Wiedereingliederung des Saarlandes in das Gebiet der BRD mit der französischen Regierung aushandelte, verbesserte das deutsch-französische Verhältnis nachhaltig. So konnte zum Beispiel in der zwischen den beiden Ländern strittigen Frage der Anpassung der Sozialleistungen innerhalb eines Gemeinsamen Marktes ein Kompromiss erzielt werden.22 Zudem zeigte der fehlgeschlagene Suez-Krieg Frankreich die Notwendigkeit einer engeren europäischen Integration auf. Die deutsche Position blieb allerdings was die einzelnen Institutionen und deren Kompetenzen betraf sehr vage. Dies ist mit dem deutschen Skeptizismus gegenüber einem europäischen „Dirigismus“ zu erklären.23Die Furcht davor, eindeutig Position zu supranationalen Institutionen in der Europäischen Wirtschaftsunion (EWU) zu beziehen, führte letztendlich aber dazu, dass die entstandene EWU wenig politische Integrationsmomente enthielt.
Dass sich schließlich die Integrationsvorstellungen von Bundeskanzler Adenauer gegenüber den Ideen von Erhard durchsetzen konnten, ist auf dessen Verhandlungsgeschick zurückzuführen. Indem Adenauer gegenüber der französischen Forderung nach einer sofortigen Harmonisierung der Sozialleistungen standhaft blieb und an dem Junktim zwischen Gemeinsamen Markt und Atomgemeinschaft festhielt, konnte er sich innenpolitisch gegen Erhards Konzeptionen einer Freihandelszone behaupten. Ein aus intergouvernementalen und supranationalen Elementen zusammengesetztes wirtschaftliches Integrationsmodell schien mehr Sicherheit und Stabilität zu bieten als bloße zwischenstaatliche Vereinbarungen.
4. Die Situation Deutschlands vor dem Vertrag von Maastricht
In den 50er Jahren war die allgemeine weltpolitische Lage gekennzeichnet durch den Kalten Krieg, die sich formierenden Blöcke und die beginnenden Integrationsbestrebungen auf dem Europäischen Kontinent. Anders waren die weltpolitischen Vorzeichen zu Beginn der 90er Jahre und auch die Situation in der Bundesrepublik Deutschland hatte sich wesentlich geändert. Diese veränderten Ausgangsbedingungen sollen nun genauer betrachtet werden. Danach soll analysiert werden, ob und inwieweit diese zu einer Änderung in der europapolitischen Haltung Deutschlands führte.
4.1 Exogene Faktoren
Ende der 80er Jahre kündigte sich eine Zeit der weltpolitischen Entspannung an. 1987 unterzeichneten die USA und die UdSSR den Vertrag über „Intermediate- range Nuclear Forces“ (INF-Vertrag). Darin wurde der vollständige und weltweite Abbau aller amerikanischen und sowjetischen landgestützten Mittelstreckenraketen längerer und kürzerer Reichweite in einem Zeitraum von drei Jahren beschlossen.24Anfang 1989 trug der sowjetische Truppenabzug aus Afghanistan wesentlich zur Ost-West-Entspannung bei.25Protestkundgebungen in den größeren Städten der DDR führten schließlich im November 1989 zum Fall der Mauer zwischen den beiden deutschen Staaten. Ein Jahr später verkündeten die NATO- und Warschauer-Pakt-Staaten eine Gemeinsame Erklärung, in der sie ihre Verpflichtungen zum Nichtangriff bestätigten. Dies kann als das Ende des Kalten Krieges bezeichnet werden. 1991 kommt es zur Auflösung des Warschauer Paktes und zum Zusammenbruch der sozialistischen Systeme im Osten Europas.26
Diese Entwicklung führte zu einem Rückzug der amerikanischen Präsenz auf dem europäischen Kontinent. Gleichzeitig zogen die sowjetischen Truppen aus Mittelund Osteuropa ab.27Doch der 1991 stattfindende Golfkrieg28zeigte, dass es trotz der Beendigung des Kalten Krieges einen Bedarf für internationale Verteidigungsgemeinschaften in der Welt gibt.
4.2 Endogene Faktoren
Deutschland stand wieder einmal mitten im Sog der äußeren Ereignisse. Der Fall der Mauer 1989 führte schließlich im Rahmen des 2 + 4- Vertrages zwischen den vier Siegermächten und den beiden deutschen Staaten zur Wiedervereinigung von BRD und DDR. Die Siegermächte beendeten ihre Rechte und Verantwortlichkeiten gegenüber Berlin und Deutschland als Ganzes. Somit erhielt Gesamtdeutschland seine volle Souveränität zurück und hat freie Bündniswahl. Der Staat verbleibt in der NATO und das Gebiet der ehemaligen DDR wird mit dem Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober Teil der Europäischen Gemeinschaft.29
Die Wiedervereinigung Deutschlands war verbunden mit finanziellen Kosten, die sich auf die wirtschaftliche Situation des Landes niederschlugen. Nach einem vereinigungsbedingten Aufschwung sank ab 1991 das Bruttosozialprodukt, während es zu steigender Arbeitslosigkeit kam. Da die deutsche Regierung die Wiedervereinigung nicht mit übermäßigen Steuererhöhungen finanzieren wollte, kam es durch den vermehrten öffentlichen Geldbedarf zu steigenden Zinsen und steigender Inflation. Dies wirkte sich wiederum negativ auf das bereits schwache Wirtschaftswachstum aus.30
Des weiteren stieg seit Beginn der 90er Jahre durch den Zusammenbruch der kommunistischen Staaten die Zahl der Asylantragsteller und Aussiedler, was zu Unmut in der Bevölkerung führte und zusätzliche Kosten verursachte. Dies und das sinkende Vertrauen der deutschen Bevölkerung in die Fähigkeit der Regierung die anstehenden Probleme lösen zu können beeinflusste die Verhandlungsposition von Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans- Dietrich Genscher bei der Ausarbeitung der Verträge von Maastricht zur Europäischen Union.
5. Interessen und Ideen in der BRD (EU-Vertrag)
Ebenso wie zu den Römischen Verträgen gab es auch zum EU-Vertrag von Maastricht unterschiedliche Akteure mit zum Teil divergierenden Interessen. Einige dieser Interessen und Ideen sollen nun genauer betrachtet und mit den integrationspolitischen Vorstellungen der deutschen Akteure in den 50er Jahren verglichen werden.
5.1 Weiterführung der politischen und wirtschaftlichen Integration
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands war es vor allem das Bestreben von Bundeskanzler Helmut Kohl die Befürchtungen, vor allem von Frankreich und Polen vor einem wiedererstarkendem Deutschland mit möglichen hegemonialen Ansprüchen auf dem Kontinent zu zerstreuen. Er betonte deshalb immer wieder, dass Deutschland in einem gemeinsames starkes Europa integriert sein müsse. Besonders die deutsch-französische Freundschaft sollte als Motor zu einer Vertiefung der Integration dienen.31 Helmut Kohl trat, wie bereits Konrad Adenauer als überzeugter Europäer auf, dem es vor allem um die politische Integration ging.
Wie ernst das Thema der europäischen Integration in Deutschland genommen wurde, kann man am neu aufgenommenen Artikel 23 des deutschen Grundgesetzes sehen: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität32verpflichtet ist [...]“33.Obwohl oder gerade weil Deutschland durch die Wiedervereinigung zum bei weitem größten Land der Europäischen Gemeinschaft wurde, lag den deutschen Verhandlungsführern viel daran, supranationale und demokratische Elemente im EU-Vertrag zu integrieren. So sollten zum Beispiel die Kompetenzen und Rechte des Europäischen Parlaments ausgeweitet werden. Es sollte legislative Kompetenzen und das Initiative- und Beschwerderecht erhalten. Zudem wurde ein machtvolleres Präsidentschaftssystem, ein gemeinsames Sicherheitssystem (GASP), eine stärkere Durchsetzung von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Europäischen Rat und 18 weitere Sitze im Europaparlament (Damit sollte der Vergrößerung Deutschlands nach der Wiedervereinigung Rechnung getragen werden.) für Deutschland gefordert. Auch im Hinblick auf die Ereignisse in Osteuropa, die auf weitere Beitrittskandidaten schließen ließen, forderte die BRD eine Demokratisierung des europäischen Institutionengefüges. Das drohende Asylproblem Deutschlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wollte Kohl durch eine einheitliche Einwanderungs- und Asylpolitik der Europäischen Union lösen. Durch die Integration der WEU in die künftige EU sollte zudem eine Brücke zwischen der NATO und Europa geschlagen werden.34
Es wird deutlich, dass Helmut Kohl, stärker als Konrad Adenauer bereit war, die nationale Souveränität zugunsten einer tieferen Europaintegration einzuschränken. Beide Politiker wollten durch ihr Handeln den Ängsten Frankreichs vor nationalistischen deutschen Bestrebungen entgegenwirken. Auch nach dem Ende des Kalten Krieges sieht sich Deutschland weiterhin in einer Mittlerrolle zwischen Ost und West.
5.2 Die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU)
Vor allem Außenminister Genscher trat für eine einheitliche europäische Währung ein. Diese sollte Europa unabhängiger vom US$ machen und den gemeinsamen europäischen Binnenmarkt unterstützen. Durch die Zustimmung zur WWU gewann Genscher die Unterstützung von Frankreich und Italien zur Kapitalliberalisierung. Diese wiederum war im Interesse Deutschlands, dessen Regierung mit den hohen Kosten der Wiedervereinigung konfrontiert und somit auf ausländisches Kapital angewiesen war. Eine künftige europäische Zentralbank sollte nach deutschem Vorbild unabhängig sein und ihren Sitz in Frankfurt am Main haben.35
5.3 Ein föderales Europa
Auch die deutschen Bundesländer schalteten sich in die Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht ein. Sie forderten ein föderales Europa, vergleichbar dem Aufbau der BRD. Der Bundesrat als Gremium der Länder setzte sich für die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips, einer Teilnahme der Länder an der Arbeit des Europäischen Rates, der Gründung eines Ausschusses der Regionen und dem Recht der Länder den Europäischen Gerichtshof (EuGH) anrufen zu können ein. Ebenso wie der Bundestag fordert der Bundesrat eine Prüfung der Konvergenzkriterien vor dem Eintritt in die dritte Phase der WWU.36
Allgemein lässt sich konstatieren, dass die deutschen Politiker ein föderales, demokratisches Europa befürworteten mit supranationalen Institutionen, aber auch einer hohen Entscheidungskompetenz der Regionen. Die wirtschaftliche Integration (WWU) sollte nicht ohne eine politische Union fortgesetzt werden.
5.4 Deutsche Kritik am Vertrag von Maastricht
Der EU-Vertrag wurde von den Parteien des deutschen Bundestages vor allem wegen seinem Mangel an demokratischen Kontrollmechanismen kritisiert. Die geforderte Kompetenzaufwertung des Europaparlament konnte nicht durchgesetzt werden. Es besitzt weiterhin kein Initiativrecht und muss dem Haushaltsentwurf der Kommission zustimmen. Als ebenso unbefriedigend wurde das Ungleichgewicht zwischen monetärer/ökonomischer und politischer Integration empfunden. So konnte der Binnenmarkt mit den „Vier Freiheiten“ von Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr vollständig realisiert und die WWU unter Berücksichtigung der Konvergenzkriterien durchgesetzt werden. Dagegen blieben die Entscheidungsverfahren in den Politikfeldern Justiz- und Innenpolitik sowie Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik intergouvernemental. Hier setzten sich vor allem die Vorstellungen Frankreichs durch.37
Die öffentliche Meinung in Deutschland zum EU-Vertrag war gespalten. Einerseits misstraute man einer einheitlichen europäischen Währung, andererseits hatte man Angst diesen Souveränitätsverlust nicht durch eine politische europäische Integration ausgleichen zu können.
6. Resümee
Ziel dieser Arbeit war es, zu untersuchen, ob die Europapolitik Deutschlands kontinuierlich verlief oder einem Wandel unterworfen war. Hierzu habe ich die Ideen einiger wichtiger deutscher Akteure vor den Römischen Verträgen und vor dem Vertrag von Maastricht miteinander verglichen.
Während es in den 50er Jahren noch einige Politiker gab, die einer europäischen Integration misstrauisch gegenüberstanden, stimmte zu Beginn der 90er Jahre nach der Wiedervereinigung die große Mehrheit der deutschen Politiker für das „Projekt Europa“. Dies sogar unter Preisgabe von nationaler Souveränität sowie der starken deutschen Währung zugunsten einer europäischen Einheitswährung im Rahmen der WWU.
Die führenden Politiker Deutschlands, unter ihnen Konrad Adenauer und Helmut Kohl setzen sich dagegen kontinuierlich für eine politische Integration Europas ein. Sie waren bemüht eine Kräftebalance auf dem Kontinent zu wahren und traten stets als Vermittler zwischen Ost und West auf. Durch diese Politik sollten Befürchtungen der anderen europäischen Länder, besonders Frankreichs vor einer deutschen Hegemonie zerstreut werden.
Allerdings setzten sich zu Beginn der 90er Jahre Bestrebungen des Bundesrates durch, mehr Gesetzgebungs- und Entscheidungskompetenzen für die Bundesländer im EU-Vertrag zu verankern. Ein gemeinsames Europa sollte eine starke föderale Struktur haben.
Während Ludwig Erhard als Wirtschaftsminister die Römischen Verträge ablehnte, weil er in ihnen ein dirigistisches Modell sah, das der deutschen Wirtschaft schaden würde, setzte sich Außenminister Hans-Dietrich Genscher zu Beginn der 90er Jahre für eine vollständige wirtschaftliche Integration im Sinne einer Wirtschaft- und Währungsunion ein. Dies kann aber mit den Interessen der deutschen Wirtschaft zum jeweiligen Zeitpunkt erklärt werden.
Abschließend lässt sich feststellen, dass die deutsche Europapolitik (wenn man von einer einheitlichen Politik sprechen kann) der führenden Akteure sehr wohl einem Wandel, aber einem kontinuierlichem Wandel unterworfen war. Die verschiedenen endogenen und exogenen Faktoren wirkten sich auf die Verhandlungsbasis der deutschen Vertreter aus und schränken deren Handlungsspielraum gleichzeitig ein. Die deutschen Politiker galten (und gelten immer noch) als Mustereuropäer.
Die deutsche Bevölkerung war dagegen stets gespalten was Europa betraf. In den 50er Jahren lag das Interesse eher an einer Wiedervereinigung oder zumindest Annäherung an den sozialistischen Bruderstaat DDR. Nach dem EU-Vertrag wuchs der Missmut über fehlende demokratische Institution im „Gebäude Europäischer Union“ und die Angst vor der einheitlichen Währung, die ab Januar nächsten Jahres statt der DM in den Portemonnaies der Deutschen zu finden sein wird.
[...]
1Präambel des Vertrages über die Europäische Union, In: Läufer, Thomas (Hrsg.), Vertrag von Amsterdam, Texte des EU-Vertrages und des EG-Vertrages, Bonn 1999, S. 18
2Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) war als europäische Armee mit einer vorgeschalteten, supranationalen politischen Autorität (EPG) gedacht. Da sie mit einer Wiederbewaffnung Deutschlands verbunden war, erhielt das Projekt keine Zustimmung durch die französische Nationalversammlung.
3 Vgl. Müller, Helmut M., Schlaglichter der deutschen Geschichte, Bonn 1996, S. 348f 3
4Vgl. ebd., S. 347ff
5Nach langjährigen Streit über die Wiedervereinigung Koreas drangen nordkoreanische Truppen in Südkorea ein, worauf der UN-Sicherheitsrat die Unterstützung Südkoreas durch UN-Truppen beschloss. Daraufhin entsandte China Freiwilligenverbände.
6Vgl. Loth, Wilfried, Der Weg nach Europa, Göttingen 1991, S. 100
7Ägypten verkündete 1956 die Nationalisierung des Suez-Kanals, der sich in französischen und britischen
Aktienbesitz befand. Israelische, britische und französische Truppen fielen daraufhin in Ägypten ein. Schließlich griffen US-amerikanische und sowjetische Truppen in den Konflikt ein und räumten die Kanalzone.
81949 in Kraft getretenes Statut, das Bund und Ländern die volle gesetzgebende, vollziehende und rechtssprechende Gewalt überträgt, allerdings mit erheblichen Einschränkungen. So behielten die Besatzungsmächte die Zuständigkeiten weiterhin auf dem Gebiet der Außenpolitik, des Außenhandels, sowie der Abrüstung und Entmilitarisierung
9Vgl. Müller, Bonn 1996, S. 345f
10Loth, Wilfried, Ost-West-Konflikt und deutsche Frage, München 1989, S. 144
11Vgl. Müller, Bonn 1996, S. 352
12Vgl. Laqueur, Walter, Europa auf dem Weg zur Weltmacht 1945 - 1992; München 1992, S. 257
13Vgl. Loth Wilfried, In: Hrbek, Rudolf, Schwarz, Volker (Hrsg.), 40 Jahre Römische Verträge: Der deutsche Beitrag, Baden-Baden 1998, S. 29 Die 1951/52 gegründete EGKS regelte den Handel mit Kohle, Eisen und Stahl. Vor allem Frankreich trat dafür ein die deutsche Schwerindustrie unter gemeinschaftliche Kontrolle zu stellen.
14Vgl. Loth, Göttingen 1991, S. 113f
15Vgl. Loth, In: Hrbek, Schwarz (Hrsg.); Baden-Baden 1998, S. 24f
16Vgl. Loth, München 1989, S. 147ff
17Vgl. Groeben, Hans von der, Aufbaujahre der Europäischen Gemeinschaft, Baden-Baden 1982, S. 44ff
18Vgl. Loth, Göttingen 1991, S. 116
19 Vgl. Wünsche, Horst Friedrich, In: Hrbek, Baden-Baden 1998, S. 39 8
20Vgl. Loth, Göttingen 1991, S. 116
21Vgl. ebd.; S. 118
22Durch nationale Gesetzgebung und die Wirkungen des Gemeinsamen Marktes sollte eine langfristige Angleichung der Arbeitszeit an französische Verhältnisse erreicht werden. Andernfalls sollten bestimmte Schutzklauseln eingeführt werden.
23Vgl. Loth, Göttingen 1991, S. 130
24Vgl. Müller, Bonn 1996, S. 435f
25Vgl. Lehmann, Hans Georg, Deutschland-Chronik 1945 bis 1995, Bonn 1996, S. 417f
26Vgl. ebd., S. 420
27Vgl. Casteyger, Curt, Europa zwischen Spaltung und Einigung 1945 bis 1993, Bonn 1994, S. 420
28Der irakische Staatschef Saddam Hussein dringt mit seinen Truppen ins benachbarte Kuwait ein. Schließlich können amerikanische und UN-Truppen den irakischen Angriff beenden.
29Vgl. Lehmann, Bonn 1996, S. 431ff
30Vgl. Beuter, Rita, in: Laursen, Finn, Vanhoonacker Sophie, The Ratification of the Maastricht Treaty, Maastricht 1994, S. 89
31Vgl. Mazzucelli, Colette, France and Germany at Maastricht, NY/London 1997, S. 49f
32Subsidiarität bezeichnet jenes System, nach dem eine Lösung drängender Probleme immer erst auf der untersten Stufe gesucht wird.
33GG Artikel 23(1),Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), S. 23
34Vgl. Mazzucelli, NY/London 1997, S. 71ff
35Vgl. Mazzucelli, NY/London 1997, S. 50
36 Vgl. Beuter, In: Laursen, Vanhoonacker, Maastricht 1994, S. 95f 14
37 Vgl. Beuter, In: Laursen; Vanhoonacker (Hrsg.), Maastricht 1994, S. 93ff 15
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- Bettina Pinzl (Autor:in), 2002, Deutsche Europapolitik: Kontinuität oder Wandel? Ein Vergleich zwischen dem EWG-Vertrag und dem EU-Vertrag, München, GRIN Verlag, https://www.hausarbeiten.de/document/104854