Was geschieht, wenn Gedichte die typischen Merkmale, wie Metrum, Reim, Bild- oder Klangfiguren, nicht aufweisen? Dies wird in dieser Arbeit anhand der Gedichte "Trauer auf dem Wäschedraht im Januar" und "Einer jener Klassischen" von Rolf Dieter Brinkmann beleuchtet. Welche typischen Merkmale von Gedichten werden von Brinkmann absichtlich vernachlässigt oder ganz weggelassen? Dies wird im Laufe der Arbeit geklärt und auf die Wirkung der Snapshotästhetik Brinkmanns bezogen.
Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG
2. DEFINITION VON LYRIK UND GEDICHT
2.1 Lyrik und Gedicht nach Burdorf
2.2 Popliteratur
3. DIE FORM DERGEDICHTE
4. POETIK BRINKMANNS
4.1 Snapshotästhetik
4.2 Poetik Brinkmanns am Beispiel Traueraufdem Wäschedrahtim Januar
4.3 Poetik Brinkmanns am Beispiel Einerjener Klassischen
5. FAZIT
6. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
1. Einleitung
Wenn ich den Begriff Gedicht höre, dann denke ich an immer gleich aufgebaute, wohlklingende Verse. Dies wurde vor allem in der Schule so transportiert. Befasst man sich jedoch mit einer Vielzahl von Autoren und Gedichten stellt man fest, dass Lyrik nicht diverser sein könnte. Kein Werk gleicht einem anderen und vor allem der persönliche Einfluss des Autors auf das Werk machen dies einzigartig.
Es wird gelehrt, dass Gedichte bestimmte Merkmale aufweisen, welche erst untersucht werden und dann für eine anstehende Interpretation genutzt werden können. Was geschiehtjedoch, wenn Gedichte diese Merkmale, wie Metrum, Reim, Bild- oder Klangfiguren nicht aufweisen?
Dies wird in dieserArbeit anhand der Gedichte Traueraufdem Wäschedrahtim Januar und EinerjenerKlassischen verdeutlicht.
Welche typischen Merkmale von Gedichten werden von Brinkmann absichtlich vernachlässigt oder ganz weggelassen?
Diese Fragen werden im Laufe der Arbeit geklärt und auf die Wirkung der Snap- shotästhetik Brinkmanns bezogen.
2. Definition von Lyrik und Gedicht
Befasst man sich mit der Geschichte der deutschsprachigen Lyrik, stellt man fest, dass sie ihren Ursprung schon im 9. Jahrhundert nach Christus hat. Der Begriff Lyrik war zu dieser Zeit noch nicht geprägt, jedoch weisen die MerseburgerZaubersprüche und der Lorscher Bienensegen wichtige Merkmale der Lyrik auf.1
Der Begriff Lyrik kommt aus dem Griechischen von dem Wort lyrikon, was so viel bedeutet, wie zum Spiel mit der Lyra/Leier gehörend. Lyrik ist neben der Epik und dem Drama eine der drei literarischen Grundgattungen der deutschen Literatur. Die Subjektivität der Lyrik wird vor allem durch sprachliche Mittel zum Ausdruck gebracht, um personenbezogene Gefühlslagen, Stimmungen, Gedanken und weltanschauliche Perspektiven zu verdeutlichen.
Die Lyrik ist durch verschiedene Realisierungsformen vielseitig umsetzbar. Sie kann still gelesen, laut zitiert oder auch gesungen oder performt werden.2 Durch die Subjektivität und den Gefühlsaudruck innerhalb des Gedichtes, kann dieses auch auf diese verschiedenen Weisen vorgetragen werden.
Ein Gedicht ist eine lyrische Dichtung in einer bestimmten Form mit besonderem Metrum und Reim.3
Lamping definiert die Lyrik als eine Einzelrede in Versen.4 Dieses wird jedoch durch Prosagedichte revidiert, denn in seinem Buch Das lyrische Gedicht spricht Lamping von aufkommenden Gedichten ohne Verse- sogenannte Prosagedichte.
Lamping sieht die Verwendung des Wortes Gedicht eher als eine metaphorische Verwendung verschiedener literarischer Kunstwerke. Vor allem wird der Begriff Gedicht für schriftlich Verfasstes, Gedachtes aber auch individuell Erfundenes benutzt.5
Festgehalten wird, dass der Begriff Gedicht ein lyrisches Werk ist, welches aber durch verschiedene Merkmale und Abwandlungen geprägt ist und somit nicht ganz klar definiert werden kann.
2.1 Lyrik und Gedicht nach Burdorf
Der deutsche Professorfür Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaften, Dieter Burdorf, befasste sich in seinem Buch Einführung in die Gedichtanalyse mit der Definition von Lyrik und Gedicht.
Er beschreibt viele vorher schon genannte, Aspekte der Lyrik und des Gedichts, jedoch geht er tiefgründiger auf die einzelnen Epochen und Entwicklungsstände ein, als andere Wissenschaftler, die sich mit dem Thema auseinandersetzten. Vor allem die Veränderungen der Merkmale im Laufe der Zeitwerden von Burdorf ganz genau betrachtet. Der Begriff lyrisch wird jedoch nicht nur für diese literarische Gattung benutzt, sondern findet sich auch in dem Kernbereich der Kunst oder der Musikwieder. Lyrisch bedeutet in künstlerischen und musikalischen Zusammenhängen vor allem stilvoll oder gefühlsbetont. Selbstverständlich finden sich diese lyrischen Stimmungen auch in den Gedichten wieder. Begibt man sich nun außerhalb der Lyrik, entdeckt man aber auch die Bezeichnung des lyrischen Textes, des Gedichts in anderen Gattungen wieder. Ein prägendes Beispiel dafür sind dramatische Gedichte, wie Lessings Versdrama Nathan der Weise.6
Wie eingangs beschrieben kommt der Begriff Lyrik aus dem griechischen und verweist auf eine enge Verbindung der Lyrik mit der Musik hin. Burdorf weitet dieses noch aus und beschreibt den Zusammenhang von Musik und Lyrik. In den früheren Kulturen wurde die Lyrik zur Musik vorgetragen, als eine gesungene Dichtung. Die Grundform der Lyrik ist somit das Lied.
Das Wort Gedicht lässt sich aus dem althochdeutschen Begriff tihton ableiten und bezeichnet alles, was schriftlich niedergelegtwurde. In Martin Opitz' Buch von derDeutschen Poeterey spricht ervon einer Sangbarkeit, also einer Lied- haftigkeit als Kriterium für lyrische Gedichte. Während er bei anderen Dichtarten ein strenges Formbewusstsein fordert, gibt er lyrischen Gedichten den Raum für eine aufgelockerte Darstellungsweise.7
Man kann feststellen, dass Burdorf bei der Definition von Lyrik und Gedicht sehr aufdie Unterschiede der einzelnen Gattungen und ihren Ursprung eingeht. Dies unterscheidet die Darstellung von Burdorf stark von anderen Definitionsversuchen dieser vielfältigen Begriffe.
2.2 Popliteratur
Der Begriff Popliteratur kommt ursprünglich aus dem amerikanischen Raum, jedoch wurde sich kaum bemüht den Begriff richtig zu definieren. Das lag daran, dass er als Etikett benutzt wurde, um Büchern ein jugendlich-frisches und aufmüpfiges Image zu verleihen. Dieses Image macht die Literatur leicht zu lesen und es wirkt auf den Leser besonders amüsan. Seinen Ursprung hat die Popliteratur im 20. Jahrhundert. Die Skepsis gegenüber der vorherrschenden Literatur infolge der historischen Ereignisse der Weltkriege und des Kalten Krieges stieg an. Die Dadaisten gingen den ersten Schritt in eine neue Epoche der Literatur und setzen sich durch die Zerstörung der vorherrschenden Sprache und der alten literarischen Form von dieser Literatur ab.8 Leslie A. Fiedler war der erste amerikanische Medientheoretiker, der sich mit der Popliteratur auseinandersetzte und sie prägte. Der Begriff Pop stammt ursprünglich aus der Musik und verweist auf das Wort populär, was so viel wie bei der Masse bleibend bedeutet. Aber auch der bekannte Laut Pop, wie ein Knall oder Zusammenstoß dient als Vorlage für den Begriff Popliteratur. Die Gedanken der Popliteratur werden durch die Beat Generation fundiert, die eine offene Literatur bevorzugt. Auch Pop-Art, also eine Darstellung von Gebrauchs-und Alltagsgegenständen und die Präsentation von Bildern der Popstars in den Museen, brachte die Popliteratur auf das Niveau, auf dem sie sich jetzt befindet.
Rolf Dieter Brinkmann brachte dann die Vorstellung der Popliteratur mit nach Deutschland und etablierte sie. Die Anfänge der Popliteratur befassen sich hauptsächlich mit kleinen alltäglichen Szenen aus dem zivilen Leben. Dies brachte Brinkmann auch in seinen Gedichten zum Ausdruck und orientierte sich an dem Schema der Popliteratur.9
Um Popliteratur charakterisieren zu können, gibt es einige Merkmale, die die traditionelle Literatur aufweist. Man findet das Genre der Popliteratur vorwiegend in Texten mit einer einfachen Sprache wieder. Thematisch handeln diese von realistischen Situationen des alltäglichen Lebens von Außenseitern. Die Besonderheit der Popliteratur ist der Bezug zu Songs und Phänomene der Popkultur. Diese Merkmale unterscheiden das Genre der Popliteratur stark von der „ernsthaften“ Literatur der Nachkriegszeit.10
3. Die Form der Gedichte
Der Umgang mit der Ästhetik Brinkmanns stützt sich vor allem auf die äußere Form und die besonderen Merkmale der Gedichte.
Um sich mit der Snapshotästhetik auseinandersetzen zu können, ist es unabdingbar, die äußere Form der Gedichte zu analysieren.
Spricht man von der äußeren Form, umfasst dies sehr viele Merkmale, welche nicht alle relevant zum Verständnis der Snapshotästhetik sind. Vor allem der Einfluss des Verhältnisses zwischen Metrum, Rhythmus und Syntax, aber auch die Zeit-Raum Beziehung sind in Brinkmanns Gedichten maßgeblich für die Snapshotästhetik.
Wenn man andere Gedichte analysiert, die nicht aufdie Snapshotästhetik Brinkmanns angelegt sind, sind noch weitere Analysemerkmale zu beachten. Vor allem die Bedeutung des Wortes und des Bildes im Gedicht spielen als Klang-und Bildfiguren eine sehr präsente Rolle. Aber auch die Fiktionalität sollte in einerAnalyse eines Gedichtes berücksichtigt werden. Da diese Merkmale vordergründig keinen Einfluss zum Verständnis derÄsthetik Brinkmanns haben, werden diese in derfolgenden Analyse nicht berücksichtigt.
Die Form der zwei Gedichte Traueraufdem Wäschedraht im Januar und Einer jenerKlassischen sind sehr ähnlich und unterscheiden sich unwesentlich. Brinkmanns Gedichte entfernen sich sehr von der klassischen Struktur der Gedichte. Erweicht von Metrum, Reim, Rhythmus sowie Klang-und Bildfiguren ab. Dies wird auch an den zwei betrachteten Gedichten deutlich.
Traueraufdem Wäschedraht im Januar besitzt vier Strophen mit jeweils drei Versen. Untersucht man die Silbenanzahl, stellt man fest, dass die Verse eins bis zehn immer zwischen vier bis sechs Silben haben. Nur die Verse elf und zwölf haben sieben Verse, die sich auch aufdie Rhythmik auswirken. Generell kommt man schnell zu derAnsicht, dass das Gedicht kein regelmäßiges Metrum aufweist. Dies kann jedoch mit dem letzten Vers widerlegt werden. Der Vers Lichtaufdie Steine wird als metrisches Mittel Andoneus betitelt. Darunter versteht man ein Metrum mit antiker Herkunft, welches Daktylus und Trochäus in einem fünfsilbigen Versmaß vereint. Dieses Metrum bringt eine Rhythmitisie- rung in das vorher unrhythmische Gedicht.11 Betrachtet man nicht nur die äußere Form des Gedichtes, sondern auch den Inhalt stellt man schnell fest, dass sich ein Satz über die ganzen zwölfVerse des Gedichtes zieht. Diese Phrase wird nicht einmal durch die nächste Strophe beendet. Sie wird zwar unterbrochen, jedoch in der nächsten Strophe weitergeführt. Die Versenden zeichnen sich durch harte Enjambements aus. Gedanken oder Wortgruppen werden einfach durch ein Versende getrennt und werden in dem folgenden Vers fortgesetzt. Somit entstehen Pausen des Sprechens, die unnatürlich wirken. Diese würden bei weichen Enjambements oder Sätzen am Ende des Verses nicht vorkommen. Betrachtet man andere Gedichte fallen vor allem die vielen verschiedenen Endreime innerhalb des Gedichtes auf. Brinkmann wählte keine Reime für seine Gedichte aus. Sowohl aufAnfangs- als auch Endreime wurde verzichtet. Aufgrund dessen können auch keine Klangfiguren identifiziert werden. Sowohl Assonanz, Anapher und Alliteration sind Produkte der Reime innerhalb eines Gedichts. Des Weiteren werden kaum sprachlich stilistische Mittel durch Brinkmann verwendet. Er schafft es, dass der Leser den Eindruck erhält, dass das ganze Gedicht ein einziges sprachliches Mittel ist - die Metapher.
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1 https://www.br.de/alphalernen/faecher/deutsch/1-lyrik-begriff-literarische-texte100.html
2 https://www.buecher-wiki.de/index.php/BuecherWiki/Lyrik
3 https://www.duden.de/rechtschreibung/Gedicht
4 Vgl. Burdorf, Dieter/ Fasbender.Christoph/ Moenninghoff, Burkhard (Hrsg.): Metzler Lexikon. Literatur. Begründet von Günther & Irmgard Schweikle. Berlin: Springer-Verlag 2007, S. 63
5 Vgl. Lamping, Dieter: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2000, S. 9.
6 Vgl. Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse. 3. Auflage. Stuttgart: J. B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung 2015, S. 1
7 Vgl. Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse. 3. Auflage. Stuttgart: J. B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung 2015, S. 2
8 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2014, S. 6
9 Vgl. ebd., S. 7
10 Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2014, S.9
11 Vgl. Spinner, Kaspar H.: Rolf Dieter Brinkmann. Westwärts 1&2. In: Große Werke der Literatur. Bd. 3. Hrsg. v. Hans Vilmar Geppert. Tübingen: A. Francke Verlag 1993, S. 221 ff.