Mithilfe der Betrachtung der Soziologen Georg Simmel und Niklas Luhmann soll in der folgenden Arbeit ein differenzierungstheoretischer Zugang zur romantischen Liebe hergestellt werden, indem nach dem Zusammenhang zwischen zunehmender Individualisierung und Kommunikation in Intimbeziehungen gefragt wird.
Simmel, einer der soziologischen Klassiker, widmete sich zeitlebens einer Vielzahl philosophischer und soziologischer Themengebiete. Seiner Ausarbeitung einer methodischen Spezifikation der Soziologie liegt die konsequente Unterscheidung und Trennung von Form und Inhalt zugrunde. In dem im Weiteren zu analysierenden Text "Die Kreuzung sozialer Kreise" stellt Simmel eine für seine formale Soziologie bezeichnende Theorie der Individualisierung auf. Was dabei jedoch unbehandelt bleibt, ist die Frage nach den sozialen Formen, in denen die ausdifferenzierte Individualität in der Gesellschaft Platz finden könnte. Es ist daher berechtigt, im Anschluss an seine Argumentation zu fragen, wodurch die Individualität in einer differenzierten und, wie im Folgenden verdeutlicht werden wird, anonymen und unpersönlichen Gesellschaft eigentlich ermutigt wird und was für Konsequenzen sie wiederum für jene Formen hat, die sie begünstigen. Diesen Fragen mit dem Themenkomplex der romantischen Liebe nachzugehen kann sich insofern als lohnend erweisen, als es in Paarbeziehungen bezeichnenderweise um die Einzigartigkeit und Besonderheit des Partners als Individuum geht.
Niklas Luhmanns Ausarbeitungen zur Liebe kommen für die Betrachtung deshalb besonders in Betracht, weil seinem Werk Liebe als Passion die Annahme zugrunde liegt, der moderne Wandel der Liebe lasse sich nur entlang umfassender Differenzierungs- und Individualisierungsprozesse begreifen. Luhmann gilt als einer der bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts, mitunter aufgrund der Ausarbeitung seiner Systemtheorie, die im Gegensatz zu Parsons‘ handlungsorientierten Ansatz durch den Fokus auf Kommunikation gekennzeichnet ist. In Anlehnung daran richtet sich die Frage also auf die Kommunikation in Liebesbeziehungen, mit Blick auf die Einbringung der Individualität und mögliche problematisierende Folgeerscheinungen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Georg Simmel und die Kreuzung sozialer Kreise
2. Niklas Luhmann
2.1. Liebe, Kommunikation und funktionale Differenzierung
2.2. Intimkommunikation
3. Fazit
Einleitung
Soziale Differenzierung beschaftigt die Soziologie seit Anbeginn ihrer Entwicklung. Spatestens mit voranschreitender Industrialisierung ruckte sie als Ausgangspunkt vielfaltiger und folgen- reicher gesellschaftlicher Neuordnungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Prozesse der Ar- beitsteilung, Individualisierung und des Auseinandertretens gesellschaftlicher Spharen gehoren allesamt zum differenzierungstheoretischen Forschungszweig der Gesellschafts- und Modemi- sierungstheorien. Dieser kann laut Schimank (1996) vor allem als Betrachtungsart verstanden werden, eine von vielen Moglichkeiten, Gesellschaftsentwicklungen zu erklaren. Die differen- zierungstheoretische Perspektive ist ,,eine Gruppe von Werkzeugen“ (Schimank 1996, 14), mit deren Hilfe man bestimmte Aspekte der Gesellschaft beleuchtet, andere wiederum nicht. Eine solche Beleuchtung soil in der vorliegenden Arbeit stattfinden.
Mithilfe der Betrachtung der Soziologen Georg Simmel und Niklas Luhmann soil im Folgenden ein differenzierungstheoretischer Zugang zur romantischen Liebe hergestellt werden, indem nach dem Zusammenhang zwischen zunehmender Individualisierung und Kommunikation in Intimbeziehungen gefragt wird.
Simmel, einer der soziologischen Klassiker, widmete sich zeitlebens einer Vielzahl philosophi- scher und soziologischer Themengebiete. Seiner Ausarbeitung einer methodischen Spezifika- tion der Soziologie liegt die konsequente Unterscheidung und Trennung von Form und Inhalt zugrunde: Wechselwirkungen, also Interaktionen, zwischen Individuen mussen auf ihre Form, nicht auf ihren Inhalt hin untersucht werden, um soziologischen Erkenntnisgewinn zu erbringen (vgl. Simmel 1958: 5 f.). Das bedeutet, dass bei der Betrachtung von Interaktionsablaufenjeg- liche Beweggrunde auBer Acht gelassen werden mussen.1
In dem im Weiteren zu analysierenden Text Die Kreuzung sozialer Kreise stellt Simmel eine fur seine formale Soziologie bezeichnende Theorie der Individualisierung auf. Was dabei je- doch unbehandelt bleibt, ist die Frage nach den sozialen Formen, in denen die ausdifferenzierte Individualitat in der Gesellschaft Platz finden konnte. Es ist daher berechtigt, im Anschluss an seine Argumentation zu fragen, wodurch die Individualitat in einer differenzierten und, wie im Folgenden verdeutlicht werden wird, anonymen und unpersonlichen Gesellschaft eigentlich er- mutigt wird und was fur Konsequenzen sie wiederum furjene Formen hat, die sie begunstigen. Diesen Fragen mit dem Themenkomplex der romantischen Liebe nachzugehen kann sich insofern als lohnend erweisen, als es in Paarbeziehungen bezeichnenderweise um die Einzigar- tigkeit und Besonderheit des Partners als Individuum geht.
Niklas Luhmanns Ausarbeitungen zur Liebe kommen fur die Betrachtung deshalb besonders in Betracht, weil seinem Werk Liebe als Passion die Annahme zugrunde liegt, der moderne Wan- del der Liebe lasse sich nur entlang umfassender Differenzierungs- und Individualisierungspro- zesse begreifen. Luhmann gilt als einer der bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts, mitunter aufgrund der Ausarbeitung seiner Systemtheorie, die im Gegensatz zu Parsons‘ hand- lungsorientierten Ansatz durch den Fokus auf Kommunikation gekennzeichnet.
In Anlehnung daran richtet sich die Frage also auf die Kommunikation in Liebesbeziehungen, mit Blick auf die Einbringung der Individualitat und mogliche problematisierende Folgeer- scheinungen. Einer gemeinsamen Betrachtung der beiden Theoretiker kommt auBerdem zugute, dass sich Simmels formaler Fokus in Luhmanns Semantikbegriff, im Sinne einer strukturellen, an den jeweiligen Gesellschaftsbedingungen orientierten Tradierung von Interaktions- und Kommunikationsmustern, wiederfindet und sich somit in Luhmanns Argumentation uberfuhren lasst.
Zur Betrachtung der umrissenen Fragen wird im ersten Teil dieser Arbeit Simmels Text Die Kreuzung sozialer Kreise im Hinblick auf seine Darlegung zur Entstehung und Ausformung der Individualitat als Bestandteil gesellschaftlicher Differenzierung analysiert und zusammen- gefasst. Daran anschlieBend werden im zweiten Teil zunachst relevante Gedanken und Begriffe Luhmanns eingefuhrt, die das Verstandnis fur die darauffolgenden Ausfuhrungen aus seinem Werk Liebe als Passion erleichtern sollen. Auch wenn Luhmanns Argumentation zur Liebe in seine Systemtheorie eingebettet ist, wird diese Arbeit keine vollstandige Rekonstruktion der- selben leisten konnen. Daher werden Begriffe im Folgenden nur so weit umrissen, dass sie das Verstandnis der interessierenden Thematik gewahrleisten. Es soil geklart werden, wie Liebe und Kommunikation bei Luhmann zu verstehen sind, um schlieBlich seine Erlauterungen zur Intimkommunikation nachzuzeichnen. Dabei werden bereits erste Ruckbezuge auf Simmel ein- flieBen, um im dritten und letzten Teil den Versuch einer abschlieBenden Synthese und eines Fazits zu unternehmen.
1. Georg Simmel und die Kreuzung sozialer Kreise
,,Die Geschichte der Gesellschaft zeigt das Bild einer immer weiter gehenden Differen- zierung [...], wobei als Folge die Anzahl und Komplexitat der Interaktionsformen und -prozesse zunehmen. Parallel zu dieser Entwicklung treten in der Personlichkeitssphare fundamentale Veranderungen auf, und zwar in Richtung einer zunehmenden Individu- alisierung.“ (Bevers 1996: 98)
Der positive Zusammenhang zwischen Gesellschaftsdifferenzierung und Individualisierung wird von Georg Simmel an vielen Stellen seines Lebenswerkes vereinzelt aufgegriffen,2 mit am deutlichsten zeichnet er ihn in seinem erstmals 1890 und in erweiterter Version 1908 erschie- nenen Aufsatz Die Kreuzung sozialer Kreise nach. Um die in dieser Arbeit zu behandelnde Frage nach den Auswirkungen der Individualisierung auf Intimkommunikation begreifen zu konnen, muss der Begriff der Individualitat zunachst sowohl in seiner Entwicklung als auch seinem Ergebnis erfasst werden: Wie kommt Individualitat zustande und was macht sie aus? Simmel zeigt in seinem Aufsatz anhand eines historischen Entwicklungsverlaufs, dass Individualitat ein in gesellschaftliche Differenzierungsprozesse eingebettetes Phanomen ist und ins- besondere durch Arbeitsteilung und die dadurch zunehmende Rollendifferenzierung ermoglicht wird. Er denkt Individualitat als das Resultat der einzigartigen Kombination zahlreicher Grup- penzugehorigkeiten:
,,Die Gruppen, zu denen der Einzelne gehort, bilden gleichsam ein Koordinatensystem, derart, daB jcdc neu hinzukommende ihn genauer und unzweideutiger bestimmt. [...] [J]e mehre es werden, desto unwahrscheinlicher ist es, dah noch andere Personen die gleiche Gruppenkombination aufweisen werden, dah diese vielen Kreise sich noch ein- mal in einem Punkte schneiden.“ (Simmel 1958: 312)
Diese Gruppen, im Folgenden als Kreise bezeichnet, sind die Gesamtheit der moglichen Rollen, die eine Person akademisch, beruflich, sozial, aber auch privat aufgrund ihrer Interessen, Fa- higkeiten und Leidenschaften bezeichnen und verorten. Die berufliche Tatigkeit und Position bindet ebenso an einen Kreis wie die Teilnahme an Tanzkursen, die Haustierhaltung, das Engagement in einem Ehrenamt, der Familienstand, Elternschaft oder die politische Gesinnung. ,,Die Form [Hervorhebung i. O.], in der soziale ,Kreise‘ sich kreuzen - nicht etwa allein die Anzahl sich uberschneidender Kreise -, bestimmt Simmel zufolge im Sinne einer strukturell eroffneten Moglichkeitsbedingung den Charakter und das AusmaB der Individualisierung [...]“ (Muller/Reitz 2018: 320 f.). Diese Moglichkeitsbedingung ist erst in modernen Gesellschaften3 mit der Form nebeneinanderliegender Kreise gegeben, die sich nicht gegenseitig bedingen oder bestimmte Mitgliedschaften ausschlieBen: „[J]e weniger das Teilhaben an dem einen Kreise von selbst Anweisung gibt auf das Teilhaben an einem andem, desto bestimmter wird die Person dadurch bezeichnet, daB sie in dem Schnittpunkt beider steht“ (Simmel 1958: 318). Die Entscheidung, einem Kreis anzugehoren oder aus einem Kreis auszutreten, muss demnach selbstbestimmt getroffen werden, um auch wirklich auf die individuelle Personlichkeit des Einzelnen zuruckgefuhrt werden zu konnen, und nicht etwa auf gesellschaftlichen Zwang.
In vormodemen Gesellschaften sind konzentrische Kreise, also solche, die ineinander eingela- gert sind und einen gemeinsamen Mittelpunkt haben, die vorherrschende Ordnungsform und bestimmen die gesellschaftliche Stellung und soziale Zugehorigkeiten des Einzelnen in hohem MaBe. Die Mitgliedschaft im kleinsten Kreis bedingt die Mitgliedschaft in alien weiteren und schlieBt dabei die Mitgliedschaft in bestimmten anderen Kreisen aus4 - der Aspekt der lokalen Zusammengehorigkeit, „das zufallige Zusammensein in Raum und Zeit“ (ebd.: 305) ist das zentrale Teilungsmotiv. Der Mittelpunkt, und damit der erste und kleinstmogliche Kreis, ist die Familie, in die eine Person hineingeboren wird, von der aus sich mit der Zeit alle weiteren Kreiszugehorigkeiten ergeben.5 Wurde ein Kind im Mittelalter in eine Handwerkerfamilie ge- boren, war es automatisch Mitglied des entsprechenden Standes, Stadtburger sowie Mitglied der ortlichen Stadtgemeinde und einer darin gelegenen Kirchengemeinde. Mit Aufnahme eines standesgemaBen, unter Umstanden familiar vorgegebenen Berufes musste es einer Zunft bei- treten6, die ihre Mitglieder wiederum an spezifische Positionen verwies und mitunter starken Einfluss auf das Privat- und Familienleben nahm (vgl. ebd.: 338). Das Leben spielt sich in der Regel in einem sozial und ortlich geschlossenen Umfeld ab und kennt wenig Abwechslung oder Vielfalt uber diese ursprunglichen Grenzen hinaus, der ,,Einschluss der Person in den Kreis ist [...] zeitlich und sozial hoch stabil“ (Muller/Reitz 2018: 323).
Hier findet nun, von der Arbeitsteilung ausgehend, die entscheidende Veranderung hin zur modemen Gesellschaft statt: ,,Die lokale und physiologische [...] Zusammengehorigkeit [...] [wird] aufs radikalste durch die Synthese nach dem Gesichtspunkt des Zweckes, des innerlich- sachlichen, oder [...] individuellen Interesses ersetzt [...]“ (Simmel 1958: 306).7 Gesellschafts- bereiche beginnen sich nach einem neuen Motiv zu differenzieren, nach der Ahnlichkeit und Gleichheit der Interessen und Inhalte oder Funktionen, anstatt der zufalligen Verbindung. Ins- besondere im Bereich der Arbeitsteilung wandelt sich die eher quantitative „Teilung nach dem Quantum der Arbeit in der Form lokaler Teilung“ mit der Zeit in eine qualitative „Teilung der Funktionen“ (Simmel 1958: 328) in Form differenzierter, arbeitsteilig organisierter Bereiche.8 Dieser neue Differenzierungstyp veranlasst die Auflosung der Konzentrizitat der Kreise und die Trennung vorher verbundener Rollen, ein besonders anschauliches Beispiel dafur ist die verminderte Zentralisierung und Reichweite des Berufs im Leben des Einzelnen. Diesbezuglich argumentiert Simmel, dass nicht arbeitsgeteilte und somit hochst komplexe berufliche Beschaf- tigungen ein hohes AusmaB an psychischer Kraft und Konzentration erfordem, da schnell von der einen Tatigkeitsart zur nachsten gewechselt werden muss (vgl. ebd.: 338). Der klassische Schmied muss im Gegensatz zum hochspezialisierten Fabrikarbeiter viele verschiedene Fahig- keiten beherrschen und zahlreiche Aspekte der Arbeit gleichzeitig beachten und ausfuhren, wahrend Letzterer sein Soil mit der Ausfuhrung einiger weniger, immer gleichbleibender Hand- griffe erfullt hat. Die Inanspruchnahme des GroBteils der mentalen Kapazitat erschwert es dem Einzelnen weitere, vom Beruf unabhangige Lebensbereiche zu kultivieren, weshalb diese statt- dessen in Bezug zum Beruf gesetzt werden.
,,Wie ein Mensch, den eine groBe Leidenschaft erfullt, auch das Entfemteste [...], das durch sein BewuBtsein geht, mit ihr in irgendwelche Verbindung setzt [...], - so wird eine entsprechende seelische Zentralisierung durchjeden Beruf bewirkt werden, der fur die sonstigen Lebensbeziehungen nur ein relativ geringes Quantum von BewuBtstein ubrig laBt.“ (ebd.)
Der spezialisierte Fabrikarbeiter, dessen Arbeit aus einseitigen, mechanischen Tatigkeiten be- steht, kann somit eher Beziehungen und Beschaftigungen abseits des Berufs unabhangig von demselben ausleben. Durch die zunehmende Spezialisierung der Berufe und die daraus fol- gende Vervielfaltigung moglicher Verbindungen werden gewohnte und daher fur notwendig gehaltene Verbindungen zwischen Beruf und anderen Lebensbereichen gelost. Der Beruf ist damit nicht mehr der zentralste, alles Weitere determinierende Lebensaspekt und ermoglicht eine breitere, mannigfaltigere Entfaltung der Interessen des Individuums. ,,Die Verschiedenheit des Berufs bei Gleichheit der ubrigen Interessen und die Verschiedenheit dieser bei Gleichheit des Berufs muB[...] in gleicher Weise zu der psychologischen und realen Loslosung des einen vom andern fuhren“ (ebd.: 340).
Dieser Prozess vollzieht sich analog in alien weiteren Lebensinhalten9 und stellt sie nun in ei- nem unabhangigen Nebeneinander auf, aus dem sich jeder Einzelne seine Individualitat nach Belieben ,konstruieren‘ darf- und muss, wie spater noch gezeigt werden wird.
Durch die selbstbestimmte, autonome Wahl geeigneter und interessierender Kreise und Rollen sind die Bindungen nun „auf die Personlichkeiten hin orientiert [...], wahrend in den fruheren [...] Synthesen die Personlichkeiten auf die Bindungen hin orientiert blieben“ (Simmel 1958: 319).
Auf die einleitenden Fragen dieses Teils zuruckgreifend - wie Individualitat zustande kommt und was sie ausmacht - kann man nun verkurzt antworten: Individualitat entsteht zwangslaufig als direkte Konsequenz des Auseinandertretens einst fest verbundener Lebensbereiche und der Loslosung des Individuums aus vorgefertigten, sie eng umschlieBenden Rollen. Sie ist auf Freiheit angewiesen10 und durch das wechselseitige Verhaltnis von Einzigartigkeit und Selbstbe- stimmung gekennzeichnet11. Dieses Verhaltnis findet sich laut Schimank (1996: 46) noch im heutigen Alltagsverstandnis des Begriffs. Das Individuum wahlt seine Zugehorigkeit zu sozia- len Kreisen losgelost von gesellschaftlichen Zwangen und konstituiert dabei durch die einzig- artige Kombination dieser Kreise und der damit verbundenen voneinander unabhangigen Rollen seine Individualitat.
Neben dem Kreuzungsvermogen der Kreise in differenzierten Gesellschaften sind zwei darin eingelagerte Aspekte zu nennen, die eine zusatzliche Individualisierung ermoglichen. Laut Simmel ist das „Verhaltnis von Konkurrenz und ZusammenschluB“ (Simmel 1958: 321) ein grundlegendes Bedurfnis, an dem entlang sich das Eintreten in Kreise oft orientiert.12 Das Individuum wird dadurch insofern bestimmt, als diejeweilige Auspragung zur einen oder anderen Seite hin hochst individuell ist und Spielraum fur personliche Gestaltung bietet.
Daruber hinaus wird die Individualisierungsmoglichkeit dadurch verstarkt, „daB dieselbe Person in den verschiedenen Kreisen [...] ganz verschiedene relative Stellungen einnehmen kann“ (ebd.: 319). Die Mitgliedschaft in nach homogenen Aspekten gegrundeten Gruppen ermoglicht es dem Individuum zwar, hierarchische Stellungen aus anderen Gruppen zu uberwinden, es bilden sichjedoch innerhalb dieser Gruppen wiederum neue, ihnen eigene Hierarchien aus. So ist es dem Einzelnen moglich in der einen Gruppe eine niedrigere, in der anderen eine sehr hohe Stellung einzunehmen.13 Die Vorsitzende eines Unternehmens mag gleichzeitig in einem Ver- ein ein bloBes Mitglied sein und ein Angestellter mag in seinem Hauptberuf subordiniert sein, in seiner gelegentlichen Tatigkeit als selbststandiger Klavierlehrer jedoch leitungsbefugt. Die Unabhangigkeit dieser Stellungsunterschiede fixiert die Personlichkeit „um so bezeichnender und von um so mehr Seiten her [...]“ (Simmel 1958: 320), da sie im Hinblick auf umfassende hierarchische Verortung ebenso wenig Anweisungen gibt, wie es die Unabhangigkeit der Kreise im Hinblick auf die Zugehorigkeit tut.
Die Differenzierung fuhrt durch die oben erlauterte Trennung bestehender Bindungen zwischen Kreisen zwangslaufig auch zur Trennung der Einzelnen aus den Vorgaben der Gesellschaft. Die grundsatzliche Tendenz der dargelegten Entwicklung ist die „Vermehrung der Freiheit“ (ebd.: 306), die Folgen fur das Individuum sind jedoch ambivalent zu betrachten. „Je entwi- ckelter und differenzierter [...] [die Gesellschaft; E.R.] in ihren Beziehungen [...] ist, umso starker wird sie von der Individualitat gepragt“ (Jung 2016: 37) und damit eben nicht mehr vom Schicht- und Standeswesen, von vorgefertigten Lebenswegen, gesellschaftlichen Erwartungen, religiosen Anforderungen und familiaren Verpflichtungen. Daraus ergibt sich, dass Selbstbe- stimmung und Autonomie der Lebensgestaltung allmahlich zu Grundvoraussetzungen des modemen Lebens werden. Die Freiheit wird dabei nach und nach zur Verantwortung, zum „kultu- rell vorgegebenefn] Zwang“ (Beck 1990: 75) und ist kaum mehr abzuweisen. Denn je mehr Stutzen und gesellschaftliche Schranken wegfallen, umso mehr wird das Individuum auf seine Autonomie zuruckgeworfen.
Mit dem Verschwinden der Stutzen wird dem Individuum auch das Gemeinschaftsgefuhl enger Kreise genommen. Die vielen neuen, spezialisierten Zusammenschlusse haben den kompensa- torischen Zweck, die verloren gegangene umfassende Gemeinschaft durch individuell gewahlte Gemeinschaft (unter ,Gleichgesinnten‘) zu ersetzen und so der „Vereinsamung der Personlich- keit“ (Simmel 1958: 326) entgegenzuwirken, wenn auch die vielen Gruppen nicht mehr die gesamte Person umfassen, sondern bloB noch einzelne Aspekte derselben.
[...]
1 Beispielsweise untersucht Simmel anstatt moglicher konfliktstiftenderFaktoren sozialer Interaktion den forma- len und einheitlichen Ablaut von Konflikten. Er umreibt Gruppendynamiken, indem er sich nicht an inhaltlichen Aspekten orientiert, sondem an der konstitutiven Gruppengrobe. Fur nahere Behandlungen von Simmels FormInhalt Dualismus vgl. Simmel 1958: 1-31; Jung 2016: 78; Bevers 1985: 76 ff.
2 Weitere Thematisierungen finden sich unter anderem bei Simmel 1997; Simmel 1958: 527-573; Simmel 1900.
3 Es ist anzumerken, dass weder Simmel noch Luhmann den Begriff der Modeme explizit definieren. Aufgrund ihrer Verwendung des Begriffs ist davon auszugehen, dass modeme Gesellschaften in Abgrenzung zu vormoder- nen Gesellschaften (mitunter) primar durch fortgeschrittenere Differenzierung und Individualisierung gekenn- zeichnet sind. In diesem Sinne werden diese Bezeichnungen auch weiterhin verwendet.
4 Diese Darstellung ist sehr vereinfacht. Es gibt spezielle Faile der Konzentrizitat, die die Kreuzung einzelner Kreise bis zu einem gewissen Grad ermoglichen, vgl. dazu Simmel 1958: 316 f.
5 Auch in modemen Gesellschaften sind konzentrische Anordnungen dieser Art in fruhen Lebensabschnitten noch vorhanden. Die auch im weiteren vorgenommene historische Trennung ist daher nicht absolut zu verstehen, sie dient blob der theoretischen Charakterisierung der zu unterscheidenden Gesellschaftsverhaltnisse.
6 Zunftzwang herrschte erst ab dem 13. Jahrhundert, vgl. hierzu Dinzelbacher 1992: 922 f. Auch dieser Verlauf ist mehr typisiert verallgemeinert.
7 Nach Bevers ist mitunter ein gesteigertes Bevolkerungswachstum als Ausloser dieser Entwicklung zu nennen, vgl. Bevers, 1985: 99.
8 Simmel fuhrt zur Verdeutlichung u.a. Beispiele zur Entwicklung der Staatsverwaltung, des Beamtentums und der Medizin an, vgl. dazu Simmel 1958: 328 f.
9 Simmel fuhrt das anschauliche Beispiel der Religion an, die sich fur den Einzelnen von der Moral zu losen be- ginnt, wenn er andere Menschen erlebt, die trotz anderer oder gar keiner Religionszugehorigkeit seinen morali- schen Vorstellungen trotzdem entsprechen. Vgl. dazu Simmel 1958: 339 f.
10 Simmel unterscheidet zwei Arten von Freiheit, die negativ formulierte Freiheit ,von etwas‘ sowie die positiv formulierte Freiheit ,fur etwas‘. Beide sind essenziell fur die Individualitatskonstitution. Vgl. hierzu die Ausar- beitungen bei Bevers 1985: 102 f.
11 Beide Eigenschaften werden situativ und personell in unterschiedlichen Maben zugeschrieben und sind nicht als absolut zu verstehen, vgl. Schimank 1996: 46.
12 Er geht so weit zu behaupten, dass manche Kreise und damit Lebensinhalte blob zugunsten dieser Bedurfnis- befriedigung gewahlt werden und gar nicht mehr aus inhaltlich-sachlichen Grunden. Vgl. dazu Simmel 1958: 321.
13 Ein ahnlicher Effekt tritt bei umgekehrtem Verhaltnis auf - wenn ein Individuum mit vielen relativ verschie- denen Stellungen in einer Gruppe plotzlich alien anderen Mitgliedem gleichgestellt ist. AuBerdem konnen sich unterschiedliche Stellungen in einem Kreis, einerRolle, vereinen, z. B. im Faile des Hauslehrers. Vgl. dazu Simmel 1958: 320.