Im Kontext der Chancengleichheit setzt sich diese Arbeit kritisch mit der Frage auseinander, ob und falls ja, auf welche Art und Weise sich die soziale Selektivität des Bildungssystems mithilfe der Terminologie Bourdieus im Einzelnen beschreiben und belegen lässt.
Nötige Hintergründe für die Thematik soll der erste Teil dieser Arbeit liefern. Dazu wird sich zunächst dem Leitbegriff der Chancengleichheit und dem neueren Begriff der Bildungsgerechtigkeit angenähert, um diese Begriffe anschließend voneinander abzugrenzen. Das daran anknüpfende Kapitel beschäftigt sich mit den Folgen der Bildungsexpansion, um anschließend auf die PISA-Studie einzugehen mit dem Schwerpunkt auf ihren Ergebnissen bezüglich sozialer Bildungsungleichheiten.
In Kapitel 3 werden die zentralen Konzepte der bourdieuschen Theorie der Sozialen Praxis „Habitus“ und „Kapital“ sowie deren Verhältnis im „sozialen Raum“ skizziert. Die Ungleichheit reproduzierenden Mechanismen des Schulsystems kann nach Bourdieu nur durch eine „rationale Pädagogik“ entgegengewirkt werden. Mittel und Wege, die aus der Chancenungleichheit herausführen, sollen anschließend aufgezeigt werden. Der letzte Teil dieser Arbeit soll klären, inwiefern die Arbeiten Bourdieus auch heute noch relevant und aktuell sind und inwiefern seine Thesen Anknüpfungspunkte in der aktuellen ungleichheitsbezogenen empirischen Bildungsforschung sein können.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Bildungsungleichheit in Deutschland: 1960er und heute
3 Bourdieus Theorie sozialer Ungleichheit - zentrale Aspekte
4 Wege aus der Bildungsmisere: Bourdieu’s rationale Pädagogik
5 Bourdieus in der aktuellen ungleichheitsbezogenen empirischen Bildungsforschung
6 Resümee
7 Quellenverzeichnis
1 Einleitung
Um das Thema Bildung ist es in den politischen Auseinandersetzungen niemals richtig still geworden. War es in den 1960er Jahren die „Bildungskatastrophe“ (Picht zit. in Geißler, 2004, S. 363), so stand in den 1970er Jahren vor allem der Ausbau des Bildungssystems unter dem Vorzeichen der gesellschaftlichen Modernisierung, explizit auch mit dem Programm der „Chancengleichheit“, auf der Agenda. In jüngster Zeit hat der „PISA-Schock“ Bildung – insbesondere die Schulbildung – wieder zu einem gesellschaftlichen und politischen Thema ersten Ranges gemacht. PISA, die internationale Schülerleistungsvergleichsstudie der OECD, ergab 2000 nicht nur, dass die Lesekompetenz sowie die mathematische und naturwissenschaftliche Grundbildung deutscher Schülerinnen und Schüler der Mittelstufe nur im unteren Mittelfeld des OECD Leistungsspektrums liegen, sondern auch, dass das deutsche Schulsystem die im Vergleich stärkste Koppelung zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg aufweist (vgl. Geißler, 2004, S. 370). Bildung ist in Deutschland also von Chancengleichheit weit entfernt, vielmehr werden soziale Ungleichheiten zementiert; anders gesagt: ungleiche Ausgangssituationen setzen sich in der Schulkarriere fort, anstatt von ihr korrigiert zu werden. So bleibt das Gymnasium als Hauptsäule des Selektionsprozesses unangetastet und es werden sogar neue Hürden errichtet, zum Beispiel durch die Einführung des G8-Abiturs, wodurch ein Wechsel zwischen den verschiedenen Schulformen noch schwerer wird als bisher (vgl. Giesinger, 2007, S. 16). Diese Ergebnisse sind offenkundig gerechtigkeitsrelevant, von mangelnder Bildungsgerechtigkeit ist die Rede: Bildung ist eine wesentliche Voraussetzung für beruflichen Erfolg, soziale Integration und Anerkennung, kulturelle und politische Partizipation - ganz zu schweigen von ihrer Bedeutung für die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit, das individuelle Selbstvertrauen und für soziale Kompetenzen. Dennoch werden die notwendigen Reformen nicht in Angriff genommen. Und so bleibt besonders für viele Kinder aus sozial schwachen Familien die Verwirklichung von sozialem Aufstieg durch Bildung noch immer ein Traum in weiter Ferne.
Aufgrund ihrer Erklärungskraft und damit zusammenhängend ihrer empirischen Nutzungsmöglichkeit zur Erarbeitung von soziokulturellen Unterschieden erfahren in diesem Zusammenhang die Arbeiten des Sozialtheoretikers Pierre Bourdieus zurzeit (wieder) eine große Aufmerksamkeit. Er hat die „Illusion der Chancengleichheit“ im Bildungssystem wie kaum ein anderer aufgedeckt und problematisiert (vgl. Bourdieu und Passeron, 1971; Bourdieu et al. 1981): In seinen Studien zum französischen Bildungssystem der 1960er Jahre zeigt er feine Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit sowohl auf subjekt- und handlungstheoretischer als auch auf struktureller Ebene in den Bildungssystemen und in den gesellschaftlichen Klassenbeziehungen auf. Demnach liegt die Stärke der Bourdieu’schen Konzepte von Schule und Erziehung in ihrer Kraft zur Desillusionierung, aus der sich auch eine Kraft zur Veränderung entwickeln kann. Dies kann durchaus als Provokation an die Pädagogik verstanden werden, die damit in ihren fundamentalen Annahmen und der Legitimation der eigenen Existenz in Frage gestellt werden kann (vgl. Liebau, 2009, S. 52).
Im Kontext der Chancengleichheit setzt sich diese Arbeit kritisch mit der Frage auseinander, ob – und falls ja, auf welche Art und Weise – sich die beschriebene soziale Selektivität des Bildungssystems mithilfe der Terminologie Bourdieus im Einzelnen beschreiben und belegen lässt. Nötige Hintergründe für die Thematik soll der erste Teil dieser Arbeit liefern: Dazu wird sich zunächst dem Leitbegriff der Chancengleichheit und dem neueren Begriff der Bildungsgerechtigkeit angenähert, um diese Begriffe anschließend voneinander abzugrenzen. Das daran anknüpfende Kapitel „Bildungsexpansion oder Bildungsinflation“ beschäftigt sich mit den Folgen der Bildungsexpansion, um anschließend auf die PISA-Studie einzugehen mit dem Schwerpunkt auf ihren Ergebnissen bezüglich sozialer Bildungsungleichheiten. In Kapitel 3 werden die zentralen Konzepte der bourdieuschen Theorie der Sozialen Praxis „Habitus“ und „Kapital“ sowie deren Verhältnis im „sozialen Raum“ skizziert, welche den Hintergrund für die darauffolgende Darstellung der Arbeiten Bourdieus zur Ungleichheit von Bildungschancen (Kapitel 3.4) liefern. Den Ungleichheit reproduzierenden Mechanismen des Schulsystems kann nach Bourdieu nur durch eine „rationale Pädagogik“ entgegengewirkt werden (vgl. Kapitel 4). Mittel und Wege, die aus der Chancenungleichheit herausführen, sollen anschließend aufgezeigt werden. Der letzte Teil dieser Arbeit soll klären, inwiefern die Arbeiten Bourdieus auch heute noch relevant und aktuell sind und inwiefern seine Thesen Anknüpfungspunkte in der aktuellen ungleichheitsbezogenen empirischen Bildungsforschung sein können.
Abschließen möchte ich diese Arbeit mit einem Ausblick auf die Zukunft und einer Reflexion.
2 Bildungsungleichheit in Deutschland: 1960er und heute
2.1 Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit
Chancengleichheit ist das Stichwort unserer Zeit, die Norm sozialer Gerechtigkeit (vgl. Schlicht, 2011, S. 22). Diese Prämisse wird nicht zuletzt durch Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes inhaltlich vorgegeben: Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden (vgl. Giesinger, 2007, S. 2). Die Förderung individueller Begabungen aller Kinder und Jugendlichen mit ihren vielfältigen Fähigkeiten und Bedürfnissen ist deshalb untrennbar mit bildungsdemokratischen Grundwerten verbunden (vgl. Quenzel/ Hurrelmann, 2010, S. 507). Doch was bedeutet die politische Forderung der „Chancengleichheit“, die oft auch mit gerechtigkeitstheoretischen Argumenten versehen wird?
Gemeinhin wird von “gleichem Recht auf Entfaltung ungleicher Anlagen” (eingeschlossen die soziale Vererbung von Bildung) gesprochen (vgl. Giesinger, 2007, S. 2). Das Bildungssystem verpflichtet sich, gleiche Chancen zur Erreichung von Bildungszielen zu schaffen und dabei die unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden zu berücksichtigen. Nun ist aber der Begriff der Chancengleichheit im Schulbildungswesen unscharf und zuweilen auch irritierend (vgl. Stojanov, 2011, S. 31). So können wir feststellen, dass dieser Begriff mal im Sinne von "Gleichheit der Chancen zur Bildung" und mal als "Gleichheit der Chancen durch Bildung" verstanden werden kann (vgl. Hilgenheger, 2005, S. 13). Innerhalb dieses Widerspruchs, also der massenhaften Verwendung eines Begriffs und seiner vergleichsweise geringen Bedeutungsschärfe, identifiziert beispielsweise Stojanov eine bemerkenswerte Leerstelle: „In dieser Diskussion sei die Gerechtigkeit im Bildungswesen ausschließlich als Herkunftsunabhängigkeit von Bildungskarrieren und -leistungen verstanden, ohne dass wirklich danach gefragt wird, warum und inwiefern Herkunftsabhängigkeit von Bildungsprozessen ungerecht ist, und ob es auch andere Dimensionen von Ungerechtigkeit im Bildungswesen gibt“ (Stojanov, 2011, S. 18). Und so nimmt im bildungspolitischen Diskurs nicht nur der Begriff der Chancengleichheit seit PISA wieder einen festen Platz ein - zunehmend wird die „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/ Passeron, 1971) im deutschen Schulsystem auch mit der umfassenderen Kategorie der Bildungsungerechtigkeit verbunden (vgl. Stojanov, 2011, S. 113). Bildungsgerechtigkeit bezeichnet dabei das Ideal eines Bildungserfolgs, der den Fähigkeiten, dem Willen sowie der Leistung der Schülerinnen und Schüler und „nicht etwa ihren persönlichen Lebensumständen“ (OECD, 2016, S. 46) geschuldet ist. In pluralistisch verfassten liberalen Gesellschaften sind nicht alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen in das Bildungssystem inkludiert (vgl. Stojanov, 2011, S. 16). Die Bildungsverläufe von Individuen unterscheiden sich. So wird der oftmals geforderte Anspruch des lebenslangen Lernens sehr unterschiedlich interpretiert, und es zeichnen sich beispielsweise in der Erwachsenenbildung höchst unterschiedliche Beteiligungsformen und Beteiligungsgrade ab. Eine solche Vielfalt von Bildungskarrieren kann als erwünscht gelten (vgl. Ditton, 2010, S. 55). Als ethisch problematisch sind die ungleichen Bildungskarrieren dann zu bewerten, wenn sie bereits am Anfang des Bildungssystems vorgezeichnet sind, eine prinzipielle Gleichheit der Ausgangssituation also nicht vorliegt, wenn also vielmehr eine prinzipielle Ungleichheit des Anfangs strukturell verankert ist und diese Ungleichheit nicht auf die individuelle Leistungsfähigkeit beziehungswiese die individuell ungleichen Anlagen zurückgeht (Dietrich/ Heinrich/ Thieme, 2013, S. 16). Hoffen kann man angesichts der sehr unterschiedlichen Voraussetzungen der Individuen allenfalls auf einen gewissen Chancenausgleich, der als Konzept der „Chancengerechtigkeit“ bezeichnet wird (vgl. OECD, 2016, S. 221).
Der Zustand von Bildungsgerechtigkeit kann in der Diskussion dabei lediglich ein Idealbild sein. Worum es vielmehr zu gehen scheint, ist die Beschreibung jener Problemlagen, die die derzeitige Bildungslandschaft von eben jenem Idealbild trennen (vgl. Reich, 2013, S. 16).
2.2 Bildungsexpansion oder Bildungsinflation?
Bildung ist eine der wichtigsten sozialen Fragen des 21. Jahrhunderts. Ihre gesellschaftliche Bedeutung lässt sich wie für die meisten anderen modernen europäischen Gesellschaften auch für Deutschland an der „Gleichzeitigkeit von Bildungsexpansion und sozialer Ungleichheit von Bildungschancen“ (Becker/ Lauterbach, 2010, S. 11) bemessen. So hatte die in Deutschland bereits in den 1950er Jahren einsetzende, sich in den 1960er Jahren beschleunigende und bis in die jüngste Gegenwart andauernde Bildungsexpansion zu einer zunehmenden Bildungsbeteiligung in allen Sozialschichten geführt (vgl. Becker/ Lauterbach, 2010, S. 11). Als Georg Picht 1964 den „Bildungsnotstand“ (Picht zit. in Geißler, 2004, S. 363) ausrief, tat er dies, weil er die Fortsetzung des wirtschaftlichen Wachstumpfades gefährdet sah – durch einen Mangel an dem dazu notwendigen fachlich und insbesondere akademisch geschulten Nachwuchs. Für Picht und die Bildungsreformer der damaligen Zeit ging es dabei um die Nutzung von Potenzialen, die das dreigliedrige Schulsystem mit seinen frühen Selektionen an der Entfaltung behinderte, somit um eine Verringerungen der ungleichen Verteilung von Bildungschancen. Die Abschaffung des Schulgelds an Gymnasien war ein erster Schritt dahin. Vor allem aber die Versuche, die Gesamtschule als Regelschule zu etablieren und damit das dreigliedrige System durch ein durchlässigeres zu ersetzen, zielten auf eine Ausweitung der Chancengleichheit ab (vgl. Geißler, 2004, S. 363). Dazu kamen die Neugründungen von Universitäten, die bildungspolitisch auch eine Verringerung regionaler Ungleichheiten bezweckten (vgl. ebd.). Manche der Reformen blieben auf halbem Wege stecken, andere scheiterten an politischen Widerstand, aber insgesamt ermöglichte dieser Aufbruch dennoch in gewissem Umfang eine soziale Aufstiegsmobilität, vor allem aber eine Erweiterung von Bildungs- und beruflichen Optionen für junge Frauen (vgl. Schlicht, 2011, S. 37). Die Bildungsexpansion eröffnete damit zugleich Chancen für die Verwirklichung von Lebensentwürfen, die nicht mehr den von Familie und Tradition vergebenen Mustern folgten.
In den 1970er Jahren verebbt die Diskussion um gerechtere Bildungschancen (vgl. Geißler, 2004, S. 363), das Problem der Chancengleichheit scheint im deutschen Bildungssystem zufriedenstellend gelöst: „Etwas zugespitzt lässt sich der öffentliche Diskurs über Bildung im letzten Vierteljahrhundert vor PISA wie folgt charakterisieren: Die Illusion der Chancengleichheit hatte sich nach und nach stillschweigend ausgebreitet.“ (Geißler, 2004, S. 363). Seit den 1990er Jahren gewinnt die Diskussion über die Bildungsbenachteiligung sozialer Gruppen langsam erneut an Resonanz, da angesichts eines zusammenwachsenden Europas und der Globalisierung die ökonomische Konkurrenzfähigkeit Deutschlands nun in weltwirtschaftlichem Maßstab zur Debatte steht (vgl. Loeber/ Scholz, 2003, S. 249). „Zwar ging die soziale Öffnung mit einem zahlenmäßigen Anstieg von Arbeiterkindern in den weiterführenden Schullaufbahnen einher, aber gleichzeitig auch mit dem Anstieg der Schulkinder aus den Mittel- und Oberschichten, die zuvor aufgrund ihrer schulischen Leistungen eher auf die Hauptschule, allenfalls auf die Realschule, als auf das Gymnasium gegangen wären.“ (Becker/ Lauterbach, 2010, S. 25). Weiterführende Analysen belegen, dass vor allem die unteren Mittelschichten von der Bildungsexpansion profitierten wie auch die neuen Mittelschichten, die im Zuge der Bildungsexpansion und Tertiarisierung von Bildung und Berufsstruktur zunehmend an Bedeutung gewonnen haben (Becker/ Lauterbach, 2010, S. 25).
So haben sich die relativen Anteile der Übergänge zwischen den Sozialschichten nur geringfügig verändert. Nimmt man die Chancenabstände in Prozentpunkten zwischen den Schichten als Maß für Chancenungleichheit, dann hat die Bildungsexpansion also ein paradoxes Ergebnis hervorgebracht: „Mehr Bildungschancen - aber weniger Bildungsgerechtigkeit.“ (Geißler, 2004, S. 368). Zwar konnte die Benachteiligung durch Konfession, Region und Geschlecht abgeschwächt beziehungsweise ganz abgeschafft werden, die soziale Herkunft prägt allerdings weiterhin die Bildungschancen in hohem Maße (vgl. Becker/ Lauterbach, 2010, S. 12).
2.3 Die PISA-Studie und ihre Ergebnisse in Bezug auf Bildungsungleichheit durch soziale Herkunft
Die PISA-Ergebnisse haben die angenehme und bequeme Illusion der Chancengleichheit empfindlich gestört, sie wurden zum „Sinnbild und Symbol eines drohenden Zurückfallens im internationalen Wettbewerb der geistigen Potenz“ (vgl. Faller, 2019, S. 13): Der internationale Vergleich hat die mangelnde Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems, aber auch dessen mangelnde Integrationsfähigkeit ins öffentliche Bewusstsein gerückt (vgl. Ditton, 2010, S. 57).
Was hat PISA nun zum Problem der Bildungsgerechtigkeit an neuen Erkenntnissen gebracht? Was erneut für großen Aufruhr sorgte, war die nicht weiter von der Hand zu weisende Erkenntnis, dass in Deutschland soziale Ungleichheiten vom Bildungssystem nach wie vor eben nicht neutralisiert werden, sondern sich diese eher noch verschärfen und perpetuieren (vgl. Ditton, 2010, S. 62). So konnte festgestellt werden, dass sich der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg respektive -misserfolg im deutschen Schulsystem folgenreich auf die Schulkarrieren der Schüler und Schülerinnen auswirkt (vgl. Ditton, 2010, S. 57). Diese strikte Koppelung von sozialer Herkunft und Bildungskarriere wäre ethisch dann unproblematisch, wenn sich die unterschiedlichen Bildungsverläufe auf der Grundlage von abweichenden naturalen Anlagen beziehungsweise Fähigkeiten erklären ließen. Die Unterschiede im Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler sind auf dieser Ebene aber nicht erklärbar, können also nicht naturalisiert werden. Stattdessen lässt sich empirisch nachweisen, dass Schülerinnen und Schüler mit niedrigerer sozialer Herkunft für eine Gymnasialempfehlung mehr leisten müssen als Schülerinnen und Schüler aus höheren Gesellschaftsschichten (vgl. Ditton, 2010, S. 58). Sogenannten „bildungsfernen Milieus“ (Becker/ Lauterbach, 2011, S. 55) fehlt eine wichtige Voraussetzung für die Teilhabe an institutionalisierten, auf spezifische Abstraktionsfähigkeiten zielenden Bildungslaufbahnen, weil in ihrem Herkunftsmilieu nicht abstraktes Denken und Handeln, sondern – wie Kohn (Kohn 1995 zit. in Becker/ Lauterbach, 2011, S. 55) belegt – eine praktische Handlungsrationalität vorherrscht und ihre Eltern den unmittelbaren „Nutzen“ abstrakter Bildungsinhalte nicht vermitteln können. Und so wird das in der Familie angeeignete Erfahrungs- und Handlungswissen mit dem Eintritt in das Bildungssystem gerade für Kinder aus bildungsfernen Lebenswelten nicht selten zu einem Handicap.
Ein weiterer Skandal ist das Ergebnis, dass „25% der 15jährigen über keine oder aber nur sehr eingeschränkte Lese- und Schreibfähigkeiten verfügen können“ (Liebau, 2009, S. 51). Der eigentliche Paukenschlag von PISA – neu und Aufsehen erregend – ist jedoch der internationale Vergleich (vgl. Geißler, 2004, S. 370): Deutschland gehört zusammen mit Belgien, Ungarn und der Schweiz zu den vier Ländern, wo die Abstände der sozial Schwachen zur Spitze am größten sind (vgl. Faller, 2019, S. 14). „Ein solches Ergebnis galt als nicht akzeptabel für ein Land, das sich als führende Bildungs- und Industrienation versteht.“ (Faller, 2019, S. 12).
Es kann also festgehalten werden, dass es dem deutschen Bildungssystem offenbar nicht gelingt, schwache Schülerinnen und Schüler zu fördern; dass die schwache Bildung der Elterngeneration bei den Kindern nicht durch die Schule kompensiert wird; und dass ein hoher Anteil, unter ihnen viele Migrantenkinder, mit äußerst geringen Bildungserfolgen und entsprechend geringen Arbeitsmarktaussichten die Schule verlassen. Für Pädagogen ist das eine äußerst schmerzliche Erkenntnis, da sie „ein fundamentales Scheitern des Bildungssystems und der Lehrerinnen und Lehrer an den ureigenen Zielen bestätigt“ (Liebau, 2009, S. 51).
3 Bourdieus Theorie sozialer Ungleichheit - zentrale Aspekte
Dass Pierre Bourdieu einer der wichtigsten Bildungs- und Kultursoziologen des 20. Jahrhunderts war, bezweifelt heute niemand mehr. In den Sozial- und Kulturwissenschaften findet sich inzwischen eine breite Rezeption; der Grundansatz der Praxeologie hat in zahlreiche Studien Eingang gefunden (vgl. Liebau, 2009, S. 41). Nur selten fehlt im gegenwärtigen bildungssoziologischen Diskurs ein Hinweis auf seine Arbeiten zur Bedeutung des Bildungssystems für die Herstellung und Reproduktion der sozialen Ordnung. Für ihn sind die Fragen der Schule, der Bildung und des Wissens keine isolierten Fragestellungen, sondern diese „sprengen die fachorientierte Ausrichtung durch das Beziehungsgefüge, in das sie immanent eingebunden sind“ (Liebau, 2009, S. 24). Dieser Würdigung in der bildungssoziologischen Debatte steht eine eigentümliche Zurückhaltung gegenüber, wenn es darum geht, an seine Bildungssoziologie auch empirisch anzuknüpfen (vgl. Kramer, 2013, S. 116). Sein Ansatz liegt oft quer zu den dominierenden sozialwissenschaftlichen Denkweisen, was empirische Anschlüsse erschwert und zudem zu häufigen Missverständnissen führt (vgl. Rohlfs, 2011, S. 70). Im Ergebnis scheint das Potential der Bildungssoziologie Bourdieus und die vielen Anschlüsse, die sie bietet, bisher kaum ausgeschöpft zu sein, besonders im Hinblick auf die Analyse des Zusammenhangs von Bildung und sozialer Ungleichheit, der zuletzt wieder stärker in den Fokus wissenschaftlicher und politischer Diskurse gerückt ist (vgl. Kramer, 2013, S. 116).
3.1 Habitus
Um erklären zu können, wie und warum die Inszenierung von Wissen und Bildung so ungleich wirkt, greift Bourdieu auf das alte sozial-philosophische Konzept des Habitus zurück (vgl. Rohlfs, 2011, S. 70). Die wahrscheinlich knappste Definition für den Habitus – quasi dem Kernstück der Theorie von Pierre Bourdieu – liefert Eckart Liebau: „Die lebensgeschichtlich, in der und durch die Praxis erworbene Bildung des sozialen Akteurs, die er wiederum einsetzt, um seine Verhältnisse zu bilden“ (Liebau, 2006, S. 48). Was Individuen als für sie selbst angemessen, zu ihnen passend, als anstrebenswert und erreichbar empfinden, ist Bourdieu zufolge Ausdruck ihres Habitus. „Kurzum: Habitus ist das, was wir sind“ (Dörpinghaus/ Uphoff, 2011, S. 123).
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